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ASYL/678: Asylsuchende hinter Gittern - Inhaftierungen im Dublin-Verfahren (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL

Asylsuchende hinter Gittern
Inhaftierungen im Dublin-Verfahren

Von Heiko Habbe


Am Morgen des 4. November 2009 wurde Hiwa H. aus seiner Zelle in der Abschiebungshafteinrichtung Eisenhüttenstadt geholt. Knapp neun Wochen hatte der 27-jährige irakische Flüchtling hier in Haft gesessen und auf eine Entscheidung über seinen Asylantrag gewartet, den er nach der Einreise aus Polen gestellt hatte. Doch auch jetzt erhielt er keine Nachricht zu seinem Verfahren.

Eine Entscheidung über sein Asylgesuch unterblieb vollständig. Stattdessen wurde er von Bundespolizisten zum Flughafen eskortiert und in die Maschine nach Athen gesetzt. Stunden später fand sich Hiwa H. erneut in Haft, diesmal in der Obhut griechischer Beamter.

Nach einigen Tagen wurde er entlassen. Nun stand er mutterseelenallein auf der Straße - ohne ein Bett zum Schlafen, ohne die notwendigsten Mittel zum Überleben, ohne eine Ahnung, wie es weitergehen sollte.


Inhaftierung von Flüchtlingen - Alltag in Deutschland und Europa

Schutzsuchende Flüchtlinge sollen in ihrer Bewegungsfreiheit keinen unnötigen Beschränkungen unterworfen werden. Wenn dies geschieht, sollen die Beschränkungen auf ein Minimum reduziert werden und nur so lange andauern,bis die Rechtsstellung des Flüchtlings im Aufnahmeland geklärt ist oder ein anderes Land ihn aufnimmt. So steht es in Artikel 31 Absatz 2 der Genfer Flüchtlingskonvention. Das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) leitet daraus ab, dass auch Asylsuchende, die illegal einreisen, nicht automatisch oder nicht für unangemessen lange Zeit inhaftiert werden sollten (Quelle: UNHCR-Richtlinien über anwendbare Kriterien und Standards betreffend die Haft von Asylsuchenden).

Die Realität in Deutschland und Europa ist eine andere. Asylsuchende wie Hiwa H. werden heute in nahezu allen europäischen Staaten massenhaft bei ihrer Einreise inhaftiert, teils monatelang. Ursache ist die sogenannte Asylzuständigkeitsverordnung, die Verordnung Nr. 343/ 2003 (EG), kurz »Dublin II-Verordnung« genannt. Die Verordnung regelt im Wesentlichen, dass ein Flüchtling sein Schutzbegehren nur in einem einzigen EU-Mitgliedsstaat prüfen lassen kann, und dass dafür im Regelfall der Staat der Ersteinreise zuständig ist. Da aber Flüchtlinge häufig innerhalb Europas weiterwandern, werden nach der Dublin II-Verordnung sogenannte Rücküberstellungen in den zuständigen Staat notwendig. Diese werden regelmäßig durchgesetzt, indem Asylsuchende bis zu ihrer Überstellung inhaftiert werden. Verschärft wird das Problem der Inhaftierung von Flüchtlingen dadurch, dass einzelne EU-Staaten selbst solche Schutzsuchenden, die gerade erst europäischen Boden betreten haben, unterschiedslos ihrer Freiheit berauben. So werden beispielsweise auf Malta, das durch die hohe Zahl an ankommenden Flüchtlingen der letzten Jahre schlicht überfordert war, alle Neuankömmlinge für bis zu 18 Monate interniert.

Im Ergebnis kommt es also gerade zu der automatischen Inhaftierung, die laut UNHCR zu vermeiden ist.


Nachbesserungen auf europäischer Ebene

Die EU-Kommission hat auf die Probleme des Dublin II-Systems mit einem Vorschlag zur Überarbeitung der Verordnung reagiert (Kommissionsdokument KOM (2008) 820 endgültig vom 3. Dezember 2008). Danach soll u. a. der Grundsatz in die Verordnung aufgenommen werden, dass niemand nur deshalb in Gewahrsam genommen werden darf, weil er um internationalen Schutz nachsucht. Die Zahl der Gründe für eine Ingewahrsamnahme soll begrenzt werden, um willkürliche Inhaftierungen von Flüchtlingen zu verhindern. Für Minderjährige soll es einen besonderen Schutz geben. Und, wohl noch wichtiger für die tatsächliche Vermeidung von Haft: Sind in einem Mitgliedstaat - wie derzeit in Griechenland - die Schutzsysteme für Flüchtlinge überlastet, soll es zukünftig möglich sein, Überstellungen dorthin auszusetzen. Zudem soll die Definition für Familienangehörige weiter gefasst werden. Dies erleichtert es Flüchtlingen dann, ein Asylverfahren dort führen zu können, wo bereits Verwandte von ihnen leben, auch wenn sie über andere Staaten eingereist sind. Auch dies würde helfen, die Zahl der Rücküberstellungen zu reduzieren.

Im Sinne einer Vermeidung der unnötigen Inhaftierung von Flüchtlingen sind diese Vorschläge zu begrüßen. Offen ist allerdings derzeit noch, ob es gelingen wird, die Mitgliedstaaten dazu zu bewegen, den Vorschlag der Kommission in europäisches Recht umzusetzen.

Abschiebungen nach Griechenland stoppen

Der Jesuiten - Flüchtlingsdienst Deutschland hat sich ebenso wie PRO ASYL und weitere zahlreiche Nichtregierungsorganisationen dafür ausgesprochen, in der aktuellen Situation zumindest Überstellungen nach Griechenland bis auf weiteres auszusetzen. In diesem Sinne hat sich der Jesuiten - Füchtlingsdienst schriftlich an den neuen Bundesinnenminister gewandt. In seiner Antwort vom 12.1.2010 weist Minister Thomas de Maizière zwar zutreffend darauf hin, dass Deutschland zwischen Januar und Oktober 2009 in 560 Fällen die Prüfung des Asylantrags übernommen hat, weil die Antragsteller besonders schutzbedürftig - also zum Beispiel traumatisiert, minderjährig oder schwanger - waren. Diese Angabe entspricht einem Drittel aller Fälle mit Griechenlandbezug. Unerwähnt lässt de Maizière, dass in rund 800 anderen Fällen keine freiwillige Übernahme erfolgte, sondern sich die Betroffenen vor Gericht oder durch Petitionen ihren Verbleib in Deutschland erstreiten mussten oder sich die Sache durch Fristablauf oder ähnliches auf andere Weise erledigt hat. Im Übrigen, so der Minister weiter, sehe man sich nicht veranlasst, auf Überstellungen vorläufig zu verzichten. Im Gegenteil: Mit Hinweis auf einen »sprunghaften Anstieg der unerlaubten Einreisen« in den vorherigen Monaten teilt de Maizière mit, die Bundespolizei sei gehalten, an ihrer bisherigen Praxis auch künftig festzuhalten. Es wird also weiter nach Griechenland abgeschoben.

Die Zukunft von Hiwa H. liegt weiter im Ungewissen. Zwar hatte er Glück im Unglück und fand mit Unterstützung von PRO ASYL sowie dem Rechtshilfefonds des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Deutschland noch während seiner Zeit in Eisenhüttenstadt einen engagierten Anwalt aus Berlin. Der spürte ihn in Griechenland wieder auf und hielt über Monate Kontakt zu ihm per E-Mail. Mit einem Eilantrag beim Verwaltungsgericht in Frankfurt/ Oder konnte der Rechtsanwalt schließlich erreichen, dass die Bundesrepublik verpflichtet wurde, Hiwa H. nach Deutschland zurückzuholen. Auf Staatskosten. Als einer von vielleicht vier oder fünf Flüchtlingen der letzten Jahre, denen so die offizielle Wiedereinreise in die Bundesrepublik ermöglicht wurde. Bei Redaktionsschluss war aber noch unklar, ob der junge Iraker nun tatsächlich zurückkehren wird, um hier zumindest die Entscheidung über die Eröffnung eines Asylverfahrens abzuwarten. Seit Wochen schweigt sein Handy, auch der E-Mail Kontakt ist abgebrochen.


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52, S. 38-39
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-
dam/q_PUBLIKATIONEN/2010__ab_April_/TdF2010_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für
Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2010