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ASYL/720: Brasilien - Neuanfang im Amazonas, wachsender Zuzug afrikanischer Flüchtlinge (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. September 2011

Brasilien: Neuanfang im Amazonas - Zunehmender Zuzug afrikanischer Flüchtlinge

Von Fabíola Ortiz


Rio de Janeiro, 16. September - Wilson Nicolas ist ein Kongolese, den es nach Brasilien verschlagen hat. Der 46-Jährige war der erste anerkannte afrikanische Flüchtling, der im Amazonasgebiet einen Neuanfang wagte. Ein Schritt, der offenbar im Trend liegt.

Nicolas (Name von der Redaktion geändert) war vor den Kämpfen rivalisierender ethnischer Gruppen um die Fischereirechte in der kongolesischen Provinz Äquator geflohen. Er ist einer von 30 afrikanischen Flüchtlingen, die in Brasilien Asyl beantragt haben und nun im Amazonasregenwald leben. Die Menschen stammen aus Côte d'Ivoire, der Demokratischen Republik Kongo (DRC), Ghana, Guinea-Bissau, Nigeria, Sierra Leone und Simbabwe.

Zunächst trieb es Nicolas nach São Paulo. Ende 2009 nahm er dort einen Job an, den ihm ein Bekannter vermittelt hatte. Von dort aus wechselte er nach Boa Vista, der Hauptstadt des nordbrasilianischen Bundesstaates Roraima. Ein Reinfall, wie er heute meint. Deshalb brach er nach Manaus auf, der Hauptstadt des nördlichen Bundesstaates Amazonas. Dort stellte er mit Unterstützung der katholischen Flüchtlingsorganisation 'Pastoral do Migrante' einen Antrag auf Asyl, der im Februar bewilligt wurde und ihn zum ersten offiziell anerkannten afrikanischen Flüchtling im Amazonasgebiet machte.

"Wir haben es hier mit einer neuen Art von Flüchtlingen zu tun", sagt Luiz Fernando Godinho, Sprecher des Brasilien-Büros des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR). "Die Region, in der sich in der Regel Südamerikaner etwa aus Bolivien und Kolumbien niederlassen, zieht immer mehr Afrikaner an. Das ist ein Trend, den wir seit nunmehr zwei Jahren beobachten."

In einem Telefongespräch mit IPS schildert Nicolas, warum er nach Brasilien gekommen ist. "In der DRC wird auch nach dem Friedensabkommen von 2003 in einigen Regionen weiter gekämpft." 2009 hatte die kongolesische Regierung den ausgebildeten Geologen in die nördliche Stadt Dongo nahe dem Grenzfluss Ubangi in der Provinz Äquator versetzt. Dort sollte er die Verteilung von Land und Nahrungsmitteln koordinieren. "Als wir dort ankamen, versuchten wir die Ethnien miteinander auszusöhnen. Doch stattdessen führte der Streit um Land zu handfesten Auseinandersetzungen", berichtet Nicolas. Der Konflikt, in den schwer bewaffnete Gruppen verstrickt waren, eskalierte und Nicolas wurde beschuldigt, ein Spion der Regierung zu sein.

Die Gewalt zwischen den Boba und Lobala sprang auf ganz Äquator über, und mehr als 100.000 Menschen flohen nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in die Nachbarländer. Der Konflikt war nur einer von vielen in der DRC, wo seit Mitte der 1990er Jahre fünf Millionen Menschen gewaltsam ums Leben kamen.


Unterstützung aus der Heimat

Nicolas spricht mehrere Sprachen: Lingala, eine im Norden der DRC gesprochene Bantu-Sprache, Französisch, Swahili, Englisch und Portugiesisch. Was das portugiesische Wort 'saudade' (portugiesisch: Sehnsucht) bedeutet, hat er selbst erfahren, so sehr vermisst er seine zurück gelassene Familie. "Ich leide so sehr unter der Trennung", sagt er. "Doch ich habe kein Geld, um nach Hause zu reisen oder meine Frau und Kinder nach Manaus zu holen."

Nicolas lebt von geliehenem Geld und von dem, was er durch Französischstunden hinzuverdient. Er nimmt alle Arbeiten an, die ihm angeboten werden. Da er jedoch sein Abschussdiplom in der DRC gelassen hat, findet er keinen Job als Geoinformatiker. "Ich habe die Hoffnung auf eine Festanstellung und auf Stabilität aber noch nicht aufgegeben", meint er.

Im brasilianischen Amazonasgebiet leben inzwischen 140 Flüchtlinge. Die meisten stammen aus Bolivien. Weitere 700 Asylanten warten auf eine Genehmigung, sich im Amazonasgebiet niederlassen zu dürfen. Das Verfahren zieht sich in der Regel bis zu sechs Monate in die Länge. In dem 192 Millionen Einwohner zählenden Land gibt es keine Flüchtlingsquoten und selbst illegale Einwanderer dürfen Asyl beantragen. Trotz dieser Zugeständnisse hält sich die Zahl der Migranten in Grenzen.

Die meisten der rund 4.500 Flüchtlinge leben in der Region zwischen Rio de Janeiro und São Paulo. Doch auch im Bundesstaat Rio Grande do Sul und im zentralen Bundesstaat São Paulo sind viele anzutreffen. 2.841 stammen aus Afrika, die meisten aus Angola (1,686), Kolumbien (634), der DRC (462), Liberia (258) und dem Irak (203).

Nicolas hat nicht vor, in die DRC zurückzukehren. "Das kommt für mich erst dann in Frage, wenn wirklich Frieden herrscht", sagte er. "Jetzt bin ich ein Flüchtling, der erst einmal in Brasilien bleiben wird. Leben bedeutet Kampf, den man überall führen muss, um zu überleben." (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.pastoraldomigrante.org.br/
http://www.onu.org.br/onu-no-brasil/acnur/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=99120

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 16. September 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2011