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AUSSEN/564: Opfer der Colonia Dignidad von Gauck-Besuch enttäuscht (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile / Deutschland
Wir dokumentieren: Opfer der Colonia Dignidad von Gauck-Besuch enttäuscht - Verurteiltes Colonia Dignidad Mitglied nimmt an Botschaftsempfang des Bundespräsidenten teil

Presseerklärung des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika e.V. (FDCL)


(Santiago de Chile-Berlin, 14. Juli 2016, FDCL) - Der Fall Colonia Dignidad war das wohl wichtigste politische Thema des zweitägigen Chile-Besuchs von Bundespräsident Joachim Gauck, der heute zu Ende geht. Nach der selbstkritischen Rede von Bundesminister Steinmeier zum Versagen der bundesdeutschen Diplomatie vom 26.04.2016 wollten die verschiedenen Opferkollektive vom Bundespräsidenten hören, was die Bundesregierung nun für die Opfer zu tun gedenkt.

Stattdessen hörten sie von Gauck, was sie nicht tun wird: "Was die deutsche Regierung sicher nicht tun wird, das sind irgendwelche Wiedergutmachungsansprüche zu akzeptieren". Die Hauptverantwortung liege stattdessen in Chile, "denn die deutsche Regierung hat nicht in Chile die Diktatur gebaut oder daran mitgewirkt. Was wir betrauern und bedauern ist, dass deutsche Diplomaten in einer Zeit Menschenrechtsverletzungen und -verbrechen nicht ernst genug genommen haben". Trotzdem sei sein Erschrecken groß "wenn z.B. deutsche Diplomaten jahrelang wegschauten, wenn in der deutschen Sekte "Colonia Dignidad" Menschen entrechtet, brutal unterdrückt und gefoltert wurden, und dann gar der chilenische Geheimdienst dort foltern und morden konnte".

Der Rechtsanwalt und ehemalige Bewohner der Colonia Dignidad, Winfried Hempel, zeigte sich von diesen Worten enttäuscht: "Die Bundesrepublik Deutschland ist mitverantwortlich, da sie wusste, was in der Colonia Dignidad vor sich ging und trotzdem nichts unternahm, um die Verbrechen zu unterbinden", so Hempel. Es sei enttäuschend, dass Gauck während seines Besuches nicht mit einem einzigen Opfer gesprochen habe. "Wir verlangen, dass beide Staaten, Deutschland und Chile, endlich Verantwortung für alle Opfergruppen übernehmen", sagte der Rechtsanwalt Hernán Fernández, der maßgeblich an der Festnahme Paul Schäfers im Jahr 2005 in Argentinien beteiligt war.

Angehörige von in der Colonia Dignidad "verschwundenen" und vermutlich dort ermordeten politischen Gefangenen hatten Gauck erfolglos um ein Gespräch ersucht. Sie mussten sich stattdessen damit begnügen, in der Bibliothek des Menschenrechtsmuseums Museo de la Memoria Gaucks Staatssekretär David Gill einen Brief an den Bundespräsidenten zu überreichen. In dem Brief forderten die Angehörigen die Bundesregierung auf, die Errichtung eines Gedenkortes in der Colonia Dignidad zu unterstützen. Es sei sehr schmerzhaft gewesen, dass die Bundesregierung bis vor kurzem die Unternehmen der Colonia Dignidad gefördert habe, ohne Raum für ein Gedenken an die Opfer zu schaffen. Gemeinsam mit Chile solle nun eine Expertenkommission eingerichtet werden, die die Bedürfnisse der Opfer zusammentragen und Vorschläge für Hilfs- und Gedenkmassnahmen ausarbeiten solle.

Um ihrer Enttäuschung über das verweigerte Gespräch mit dem Bundespräsidenten auszudrücken, sagten die Angehörigen Myrna Troncoso und Rosa Merino ihre Teilnahme an einem Empfang in der Botschafterresidenz am gestrigen Abend ab. "Als Angehörige eines Verschwundenen möchte ich nicht an einem sozialen Empfang in der Residenz des deutschen Botschafters teilnehmen und anderen zuprosten. Wir haben erwartet, dass der Bundespräsident mit uns spricht und uns zuhört" so Troncoso. Zu dem Empfang waren mehrere hundert Personen geladen, darunter auch der deutsche Multimilliardär Horst Paulmann, der landwirtschaftliche Produkte der Sektensiedlung in seinen Supermarktketten vertrieb und enge Beziehungen zu Paul Schäfer unterhalten haben soll. "Horst Paulmann war regelmässiger Besucher der Colonia. Seit ich mich erinnern kann, sah ich diesen Herren mit Paul Schäfer durch die ehemalige Colonia Dignidad spazieren", erklärte Winfried Hempel gestern gegenüber Radio Cooperativa.

"Es ist positiv, dass das Thema Colonia Dignidad im Rahmen des Chile-Besuchs des Bundespräsidenten ein solch breites Medienecho gefunden hat. Die Worte von Gauck blieben jedoch hinter den Erwartungen der Opfer zurück", resümiert Jan Stehle vom FDCL. "Es hätte eine wichtige Symbolkraft gehabt, wenn Gauck den Angehörigen der Verschwundenen die Hand gereicht hätte. Mit dem Finger auf Chile zu zeigen hingegen hat im Fall Colonia Dignidad traurige Tradition. Das hat jahrzehntelang eine Aufarbeitung verhindert und die Straflosigkeit begünstigt", so der Wissenschaftler, der jedoch gleichzeitig vorsichtig optimistisch in die Zukunft blickt: "Es gibt Anzeichen dafür, dass das Auswärtige Amt nach der Steinmeier-Rede nun konkrete Hilfsmassnahmen für die Opfer der Colonia Dignidad ins Auge fassen möchte." Dabei sei jedoch eine Einbeziehung aller Opfer, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, unabdinglich. "Die Menschenrechte sind unteilbar. Beide Staaten tragen eine gemeinsame Verantwortung für alle Opfer", so Stehle.

Bei solchen Hilfsmassnahmen sollten jedoch auch klare Maßstäbe für eine Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern unter den (ehemaligen) Bewohnern der Colonia Dignidad angelegt werden. Eine solche Differenzierung findet anscheinend derzeit seitens der deutschen Botschaft in Santiago de Chile nicht statt. Wie am gestrigen Abend zu später Stunde bekannt wurde, befand sich unter den Gästen des Präsidenten-Empfangs in der Residenz des deutschen Botschafters auch Reinhard Zeitner: Dieser wurde im Januar 2013 rechtskräftig im Verfahren um den systematischen sexuellen Missbrauch in der Colonia Dignidad wegen Kindesentziehung zu 3 Jahren und einem Tag Haft verurteilt, ausgesetzt auf vier Jahre zur Bewährung. Es handelte sich um eine Verurteilung im selben Verfahren, in dem auch der Arzt Hartmut Hopp verurteilt wurde, der sich seiner Strafe durch Flucht in die Bundesrepublik entzog und bis heute straflos in Krefeld lebt.


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2016

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