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DISKURS/076: Haltungsfragen im politischen Diskurs der Mediengesellschaft (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009

Für die Interpretation
Haltungsfragen im politischen Diskurs der Mediengesellschaft

Von Miriam Meckel


Die "verabsolutierte" Mediengesellschaft bietet eigentlich beste Voraussetzungen für den offenen, klaren und pointierten Diskurs. Doch von weither sichtbare "Positionslichter" findet man heute nur noch selten. Ein Plädoyer gegen die grassierende Verantwortungslosigkeit.


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Anlässlich der Ausstellungseröffnung Gerhard Richter. Abstrakte Bilder in Köln im Oktober 2008 war auch der Künstler selbst anwesend. Was seinen Bildern erlaubt ist, die Loslösung vom Gegenständlichen, die Weigerung eine Wirklichkeitsinterpretation auf den ersten Blick mitzuliefern, vermögen die Beobachter dem Künstler selbst nur ungern zu gestatten. So versuchten einige Journalisten wiederholt, Richter einen Standpunkt abzupressen, sozusagen die Leitinterpretation zum eigenen Werk. "Erklärungen gibt es keine", blaffte der Künstler die Frager an. "Farbenspiele, vielschichtig aufgetragen mit Spachtel und Pinsel". Punkt. Mache sich jeder seinen eigenen Reim darauf.

Was für die Kunst sein darf, muss für die politische Kultur Deutschlands nicht gut sein. Deutschland bräuchte mehr von diesen "Farbspielen, vielschichtig aufgetragen", aber solche, die verständliche Interpretationsangebote sind. Dann trauten sich mehr Menschen aus allen Ecken und über alle Kanten der Gesellschaft hinweg, Haltung einzunehmen zu brennenden Fragen unserer Zeit und sie öffentlich mal mit dem groben Spachtel, mal mit dem feinen Pinsel aufzutragen. So selten gibt es dies, dass jemand nur laut und in gediegener Atmosphäre "Ich nicht!" rufen muss, um zu behaupten, er bringe eine neue Farbe in die Monochromposition des jeweiligen gesellschaftlichen Diskurses. Marcel Reich-Ranicki ist dies gelungen, indem er bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises auf der Bühne lauthals gegen den "Blödsinn" im Fernsehen wetterte und sich weigerte, den Ehrenpreis anzunehmen. Er hat auf sich selbst aufmerksam gemacht, nicht auf ein inhaltliches Problem.


Haltungsbünde statt offenem Diskurs

Im Fernsehen ist bei Weitem nicht alles "hirnlose Scheiße", wie Elke Heidenreich in der FAZ sekundierte. Es gibt viel Gutes zu sehen, hervorragende Dokumentationen, Reportagen, Filme und sogar spannende und anspruchsvolle Unterhaltung. Darauf hinzuweisen macht den differenzierenden Kritiker zum Apologeten der Massenkultur. Er passt nicht mehr zu der Elite, die sich im Zentralkomitee Deutscher Fernsehkultur zusammengeschlossen hat. Die weiß: Das Fernsehen taugt für Haltungsfragen. Das Buch ist gut, das Bild ist schlecht. So basal und banal verlaufen die gesellschaftlichen Debatten in Deutschland gelegentlich.

Schnell finden sich Haltungsbünde dort, wo Meinungen sich festgetreten haben. Sie tummeln sich rund um die kahle Stelle, die schon viele Vertreter des immer Gleichen frei getrampelt haben. Dort steht man leicht und fest. Man muss sich nicht durchschlagen durchs Dickicht, nicht kämpfen um Durch- und Weltblick, den Weg zur nächsten Lichtung, auf der man dann womöglich alleine steht - gut sichtbar von vielen und aus allen Richtungen. Es ist doch seltsam: Wir leben in der verabsolutierten Mediengesellschaft. In ihr kann alles jederzeit und überall zum Thema gemacht werden. Das Internet hat unsere Kommunikation vernetzt, die Kanäle für alle geöffnet und die Thematisierungsprozesse unserer öffentlichen Kommunikation enthierarchisiert. Heute kann jeder alles sagen und schreiben, er findet gewiss eine Plattform in einem der traditionellen Medien, in jedem Fall aber im Internet. Die Voraussetzungen sind also mehr als günstig für den offenen, klaren und pointierten Diskurs über die wichtigen Fragen unserer Zeit. Aber genau ihn gibt es selten. Vielleicht sogar seltener als zuvor.

Liegt es daran, dass wir Angst haben mit einem klaren Satz ein öffentliches Feuerwerk zu entzünden, dessen Dauer und Ausbreitung niemand mehr abschätzen kann? So wie es Mayhill Fowler gelungen oder ergangen ist, als sie im April 2001 auf einer privaten Spendensammlerveranstaltung in San Francisco Barack Obama sprechen hörte und vernahm, wie er über die Kleinstadtamerikaner redete, die verbittert seien und an ihren Waffen und ihrer Religion klebten. Fowler verstand, was dieser Mann da sprach. Sie schrieb ein kleines Posting für die Huffington Post. So klein es war, es löste eine mediale Lawine aus, die die öffentliche Debatte der USA über Wochen beherrschte und Obama fast die Nominierung als Präsidentschaftskandidat gekostet hätte. Läge hier das Risiko der medialen Themensetzung, dann bräuchten wir mehr Aufklärung über die Formen und Funktionsweisen der Kommunikation in der vernetzten Gesellschaft, über die Rolle und Nutzungsmöglichkeiten des Internet. Das wäre die leichtere Aufgabe.

Dass es so wenige Positionslichter gibt, könnte aber auch daran liegen, dass wir faul geworden sind in einer Mediengesellschaft, in der jeder jederzeit und überall alles sagen kann, und wir die klaren Positionslichter gerne von anderen gesetzt sehen wollen. Wenn jeder das vom anderen erwartet, bleibt es ziemlich dunkel über dem Ozean der Informationsströme im Netz. Dann verliert sich die politische Navigation in einem weiten Feld. Wäre es das, dann bräuchten wir Aufklärung über die notwendigen Formen und Funktionen des öffentlichen Diskurses in der Demokratie. Dann sprächen wir über eine der Grundlagen in der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, die es zu animieren gelte. Das wäre die schwerere Aufgabe.

Genau darum geht es nämlich in der lebendigen gesellschaftlichen Debatte über die Fragen unserer Zeit: Sie braucht klare, frische Positionen. Und für sie wiederum braucht man den Zweifel als Ausgangspunkt, an allem und auch an sich selbst. Man braucht ein Argument, das sich entwickeln und erweitern lässt. Und man braucht den Mut, sich gegen das zu stellen, was gerade in ist. Es ist der Wagemut einer eigenen Interpretation der Zeitläufte, die individuell und kantig sein kann und die nicht erst abwartet, was die Mehrheit wohl meint, bevor sie die Stimme hebt.

Ein Rückblick auf das Jahr 2008 zeigt, dass wir sie brauchen, die Wiederbelebung der öffentlichen Kontroverse um der Inhalte, nicht der formalen Juxtaposition willen. Es sind drei Dinge verloren gegangen im vergangenen Jahr, die Folgen der Überkomplexität allumfassender Kommunikation in der Mediengesellschaft sein können. Vielleicht sind sie aber auch nur die Opfergaben einer demokratischen Faulheit, die glaubt, wenn alle scheinbar Ähnliches wollen, müsse es doch in die richtige Richtung gehen. Die Große Koalition als politische Form zeitigt ihre Wirkung in allen Lebensbereichen. Einigt Euch, koste es, was es wolle. Zumeist kostet es den Widerspruch zugunsten des kleinsten gemeinsamen Nenners.


Auf der Suche nach der verlorenen Verantwortung

Wer keine Position bezieht, muss sich auch für keine verantworten. Diesen Mangel an Positionierungsverantwortung muss vor allem nicht mehr erklären, wer auf das "System" ausweicht. Die Einschätzungen des Ökonomen Hans-Werner Sinn offenbaren am Beispiel der Finanzkrise den schlimmen Zustand der politischen Kultur in Deutschland. Seiner Ansicht nach haben "anonyme Systemfehler" (Tagesspiegel v. 27.10.2008) den Kapitalmarktkollaps ausgelöst. Menschen spielten dabei keine Rolle. Banker trafen keine Entscheidung. Politiker guckten nicht weg oder zumindest nicht so genau hin. Sinn sieht vor allem die Manager als Sündenböcke. Nicht als Sünder. Sie sind nicht verantwortlich, sie werden nur verantwortlich gemacht. Niemand ist verantwortlich. Es ist das System, das alles hervorbringt. Der Einzelne spielt darin keine Rolle. Mit diesen Formen der organisierten und im öffentlichen Diskurs fortlaufend abgesicherten Verantwortungslosigkeit hat Deutschland historisch viel Erfahrung. Sie garantiert nicht immer für den einen Lerneffekt der Zeitläufte.

Es ist doch seltsam, dass man durchaus Beobachter findet, die das alles ganz anders sehen. Helmut Schmidt hat zum Beispiel für die Zeit (v. 25.09.2008) einen Beitrag geschrieben, der die Grundlagen der Finanzkrise klar und drastisch beschreibt, die Schuldigen benennt und die notwendigen Maßnahmen formuliert. Es gibt sie also, die Stimmen der Vernunft im medialen Aufmerksamkeitswettbewerb. Sie nehmen sich Zeit für ein Argument, entwickeln es sauber, kalkulieren Widerspruch ein, ja provozieren ihn gar. So entsteht eine Debatte, die Dinge benennt. Und wenn Dinge benannt werden, in Ausgangspunkt und Folgen, dann füllt sich ein Raum, der Verantwortung heißt.


Auf der Suche nach der verlorenen Sprache

Im umfassenden Grundrauschen der Medien sind solche herausragenden Töne selten zu hören, die einem länger im Ohr bleiben. Es schwillt an und wieder ab, gezeitengleich, je nach öffentlichem Beachtungs- und Erregungsgrad. Aber mit Ausnahme von Helmut Schmidt stammen die Ideengeber bemerkenswert oft aus Übersee. Intellektuelle Wirtschaftsfachleute, wie der 2008 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnete Paul Krugman, wie Thomas L. Friedman, Autor des Globalisierungsbestsellers The World is Flat oder der Wissenschaftler und Trader Nassim Nicholas Taleb, der sich der Erforschung unwahrscheinlicher Ereignisse widmet, setzen in der Debatte über die Finanzkrise die Akzente, die dann im öffentlichen Diskurs in Deutschland mit- oder gelegentlich auch weitergedacht werden. Eine zynische Betrachtung folgert: Dort wo die Krise begonnen hat, sollen sie gefälligst auch ihre intellektuelle Verarbeitung übernehmen. Eine realistische Betrachtung konstatiert: Wenn der öffentliche Diskurs eines globalisierten Landes vor einem Globalisierungsthema kapituliert, kapituliert er vor sich selbst.

Wie kann das sein im Land der Dichter und Denker? Dadurch zum Beispiel, dass sich in Deutschland viele Intellektuelle noch immer mit ökonomischer Ahnungslosigkeit brüsten und sich in einer Gesellschaft wähnen, deren Systeme schön sauber getrennt sind. Politik ist wichtig, Kultur auch. Wirtschaft ist nur Gewinn und Gier. Man muss nicht die systemtheoretische These vom "Megasystem Wirtschaft" befürworten, nach dessen generalisiertem Kommunikationsmedium "Geld/ kein Geld" nun alles in unserer Gesellschaft funktioniert. Aber dass die "Politökonomie" keine neue Erfindung ist, dass wir die Einflüsse von Wirtschaft und Politik grenzüberschreitend analysieren müssen, das dürfte doch nicht erst mit der Kapitalmarktkrise klar geworden sein.

Es gilt übrigens nicht nur für die "Linke" in Deutschland, dass sie sich dem anders Denken, dem Erwägen jenseits von bekannten Systemgrenzen und Zuordnungen widersetzt. Es gilt genauso für die Konservativen. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat - in einer Reihe von kritischen Analysen zur Finanzkrise, die die US-Debatte inspirierend aufgreifen - beschrieben, was es bedeutet, wenn Lebensentscheidungen auf einem rein spekulativen System beruhen, und gefolgert: "Die Krise verändert nicht nur die Welt. Sie verändert das Denken." (FAZ v. 11.1O.2008) Nicht lange müssen wir warten, bis der FAZ ein "Linksruck" bescheinigt wird. Das Denken in Schemata hilft sehr, es reduziert die Komplexität in der Einschätzung schwieriger Fragen. Manche Fragen aber sind neu. Um sie zu beantworten müssen wir eine neue Sprache finden. Dazu leisten die Medien einen Beitrag. Werden sie sprachlos, wird die Gesellschaft es auch. Und umgekehrt.


Für die Interpretation

Wir brauchen wieder mehr Vordenker, Vorredner, Vorprovozierer, die den Finger in die Wunde der Ambivalenz legen, wie sie in Zeiten der Globalisierung, neuer sozialer Fragen und einer Jahrhundertkrise der Wirtschaft klaffen. Wir brauchen Argumente, die diese Ambivalenz auszuloten vermögen und in der Gesellschaft debattiert werden. Wir müssen wieder lernen, diese Ambivalenz auszuhalten und sie als Mehrwert eines demokratischen Systems zu betrachten, nicht als Nachteil. Dafür brauchen wir keine Chefdeuterin namens Mehrheit, sondern denkende Menschen. Sie haben in diesen Zeiten der umfassenden kommunikativen Vernetzung jede Chance, mitzureden, ihre Argumente in die Debatte einzubringen.

In einem ihrer frühen Essays hat die amerikanische Publizistin Susan Sontag "Gegen Interpretation" angeschrieben. Manchmal könne Interpretation ein "befreiender Akt" sein. Dann nämlich, wenn sie Positionen hervorbringt, die Reibung erzeugen. Viel häufiger sind Interpretationen "reaktionär, trivial, erbärmlich, stickig". Mit diesen haben wir es in Deutschland seit einigen Jahren wieder vermehrt zu tun. Sontag plädiert für ein "beschreibendes und kein vorschreibendes Vokabular", um Inhalt und Formen wieder erfassen zu können.

Das ist als Ausgangspunkt nicht nur in der Kunst notwendig, sondern ebenso für die öffentliche Debatte wichtiger Themen der Zeit. Die aber können sich dann eben nicht auf der Beschreibung ausruhen, sondern brauchen die Interpretation. Den Standpunkt, der klar macht, woher das Argument kommt und wohin es will. Dabei übernehmen die Medien eine wichtige Vermittlerrolle. Um aber vermitteln zu können, muss es erst einmal Standpunkte geben, zwischen denen sich ein Diskursraum eröffnet. Was erwartet uns da 2009? Ein "Jahr schlechter Nachrichten", wie die Bundeskanzlerin im Bundestag sagte. Was daraus folgt? Der weitere Kurs auf "Maß und Mitte". Jetzt fehlt nur noch ein "l", dann sind wir beim Mittelmaß.


Miriam Meckel (* 1967) ist Kommunikationswissenschaftlerin und Direktorin am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen.
post@miriammeckel.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2009, S. 57-61
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2009