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DISKURS/078: Der Verfall von Staatskapazität - Gespräch mit Claus Offe (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2009

Gespräch mit Claus Offe
"Der Verfall von Staatskapazität bereitet mir Sorge"


Claus Offe (geb. 1940) gehört seit seiner Emeritierung an der HU Berlin im Jahr 2005 zum Lehrkörper der Hertie School of Governance. Der Professor für Politische Soziologie erörtert im Gespräch mit Thomas Meyer unter anderem die Frage, ob heutige Gesellschaften noch fähig sind, ihre Zukunft zu gestalten.


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NG/FH: Hans Jonas hat die These formuliert, dass die moderne wissenschaftlich-technische Zivilisation zunehmend Fernwirkungen produziert, die sie selbst zwar nicht mehr ohne Weiteres kontrollieren kann, die aber existenzgefährdend sein können. Ist diese Diagnose noch gültig?

CLAUS OFFE: Hans Jonas' Langstrecken-Ethik von 1979 mit dem "ökologischen Imperativ" und dem damals aktuell werdenden Gedanken der Nachhaltigkeit hat mir nie besonders eingeleuchtet. Aus meiner Sicht geht es, jedenfalls heute, um die Frage, wie sich Gesellschaften unseres Typs mit politischen (und weniger mit "ethischen") Mitteln davor schützen können, ihre eigenen physischen und ihre moralischen Bestandsbedingungen zu verletzen.


NG/FH: Hans Jonas hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass wir, wenn wir verantwortlich handeln wollen, verpflichtet sind, mögliche Fernwirkungen unseres jetzigen Handelns zu imaginieren und jedwedes Handeln zu unterlassen, das nicht verantwortbare Fernwirkungen erzeugen kann. Dieses Prinzip, so gut begründet es ist, hat im politischen Bereich keine Freunde gefunden. Woran liegt das?

OFFE: Es liegt daran, dass die Lehre von Jonas gänzlich unpolitisch ist. Politisch gesehen haben wir es mit Problemen zu tun, die sich nicht aus Gründen der "Technik" in einer fernen Zukunft eventuell zutragen könnten, sondern die in der Jetzt-Zeit zum Greifen nahe sind. Sie stehen buchstäblich in der Tageszeitung: Klimawandel, Finanzkrisen und militärische Konflikte der Art, wie sie in Gaza und Afghanistan stattfinden. Und was die lange Frist angeht: Wir müssten heute in der Lage sein, die Weichen so zu stellen, dass wir nicht aufs falsche Gleis rollen. Aber das können wir nicht, weil wir aktuell (Stichwort "Arbeitsplätze") erst einmal mit öffentlichen Mitteln die Automobilindustrie samt ihren notorischen Überkapazitäten aufpäppeln müssen.


NG/FH: Nun gibt es aber auch problematische Fernwirkungen, die schon eingetreten sind und von denen man weiß, dass sie sich verschärfen werden. Der Klimawandel ist das anschaulichste Beispiel. Haben moderne Gesellschaften denn überhaupt das Potenzial, in ihrem Erkenntnisvermögen, aber auch in ihrem politischen Handeln mit dieser Art von Problemen umzugehen, die sie doch fortwährend erzeugen?

OFFE: Was fehlt ist wohl weniger das "Wissen" über problematische Handlungsfolgen, sondern eher das politische "Können", das erforderlich wäre sie abzuwenden. Der Engpass liegt nicht bei der Prognose, sondern bei dem, was manchmal als State Capacity bezeichnet wird. Moderne Gesellschaften sind sich selbst gegenüber eigentümlich machtlos, d.h. nicht einmal fähig, auch nur für die nächsten zwei Jahre zielorientiert zu agieren. Immer kommt etwas in die Quere, was uns nötigt, die Prioritäten neu zu sortieren. Wer hätte z.B. vor zwei Jahren gedacht, dass sich die politischen Systeme der westlichen Welt vom Finanzkapital so vor sich hertreiben lassen, wie das heute der Fall ist? Ist das nicht ein gigantischer Akt der Geiselnahme bzw. Lösegelderpressung, dem sich Staat und Politik ausgesetzt sehen und dem alles andere, zum Beispiel so eherne Zielgrößen wie Haushaltsstabilisierung und "Wiedererlangung der haushaltspolitischen Souveränität" zum Opfer fallen?


NG/FH: Nun gibt es aber doch immer wieder eine Reihe von wichtigen Szenarien und Prognosen, z.B. den Meadows-Report über die Grenzen des Wachstums aus den 70er Jahren, die die folgende Entwicklung offenbar entscheidend beeinflusst haben. Können Prognosen und Szenarien nicht doch politische Diskurse verändern und auch Weichen künftigen Handelns neu stellen?

OFFE: Ja, sie haben Aufmerksamkeit geweckt, weil sie von damals sich regenden grünen politischen Kräften aufgegriffen worden sind. Der Meadows-Report ist auch von anderen Kräften aufgegriffen worden, denen das Alibi willkommen war, das ihnen der Report für die bevorstehenden mageren Jahre mit Stagnation und Arbeitslosigkeit ab 1973 bot. So wurde das faktisch Absehbare gewissermaßen als das ökologisch-moralisch Gebotene ausgegeben und veredelt.


NG/FH: Ist es nicht eine Art paradoxer Intervention, wenn etwas projiziert und mit scheinbarer Exaktheit ausgerechnet wird, von dem eigentlich klar ist, dass es eben so nicht kommen wird, eben weil es entgegen gerichtetes Handeln auslöst und das gerade deswegen so ausgerechnet wird, damit es nicht so kommt.

OFFE: Genau. Das ist eine mögliche heilsame Wirkung pessimistischer Prognosen: Weil sie für wahr genommen werden, werden sie im Ergebnis unwahr gemacht. Das setzt aber wiederum voraus, dass die politischen Kräfte zugegen sind, welche die Voraussage durchkreuzen können. In Abwesenheit solcher Kräfte können aber auch ganz andere Reaktionen eintreten: Rette sich, wer kann! Oder: Wir können sowieso nichts machen! So ist es eher bei den aktuellen Prognosen über die mittelfristige Entwicklung von Wachstum und Beschäftigung.


NG/FH: Was ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht von solchen politischen Szenarien zu halten, wenn man auf deren Grundlage eine mögliche Zukunft entwirft und versucht, sie für politisches Handeln nutzbar zu machen?

OFFE: Prognosen sind ohnehin mit sehr vielen Fragezeichen besetzt. Das kann dazu führen, dass sie überhaupt nicht ernst genommen werden und die Prognostiker daraufhin in Schweigen verfallen - wie zur Zeit ein großer Teil unserer Wirtschafts-Weisheit. Ich denke, dass das Verhältnis von Politik, Wissenschaft und Prognosen der erwähnten Art mit einer pragmatisch bestimmten Wechselwirkung zwischen Können und Wollen zu tun hat. Diese Wechselwirkung folgt der Logik: Wer einen dicken Hammer in der Hand hat, dem erscheint die Welt so, als bestünde sie aus lauter Nägeln. Und umgekehrt! Derjenige, dem nur ein unbedeutendes Hämmerchen zur Verfügung steht - will sagen: der sich und anderen politisch realistischerweise nichts zutrauen kann - der verfällt leicht in fatalistische Fügsamkeit, die Obama mit seinem "yes, we can!" zu bannen versucht hat. Wir werden sehen, mit welchem dauerhaften und so dringlich wünschenswerten Erfolg. Falls der ausbleibt, desavouiert sich die Politik als getriebener Akteur - getrieben, sei es von den Naturgewalten des Weltmarktes, sei es von den Kontingenzen innenpolitischer Kräftekonstellationen.


NG/FH: Ist das nicht ein Risiko für die Demokratie?

OFFE: Das kann man wohl sagen! Demokratie ist immer angewiesen nicht nur auf egalitäre und inklusive Partizipation, sondern ebenso auf organisierte politische Handlungsfähigkeit. Ein Staat, der in seinem Handlungsvermögen darauf beschränkt wäre, über Maße und Gewichte sowie über die Namen von Straßen zu entscheiden, kann kein demokratischer sein. Der Verfall von Staatskapazität bereitet mir in der Tat Sorge - ebenso wie jenem wachsenden Teil unserer Mitbürger, der auf die evidente Schwäche der öffentlichen Gewalt mit Zynismus und einem Gefühl der eigenen Machtlosigkeit reagiert.


NG/FH: Ist da die Zivilgesellschaft gefordert oder hat die Beschränkung der Handlungsfähigkeit auch sie erfasst?

OFFE: Es gibt mittlerweile bis an die Grenze des politischen Kitsches reichende Lobpreisungen der Zivilgesellschaft - viel billige Tröstung ist dabei und auch Spekulation auf "staatsentlastende" Nützlichkeit. Als ob diese Zivilgesellschaft, allein, auf sich gestellt, ohne politische Förderung gerade dort etwas auszurichten vermöchte, wo es an ökonomischen Rechten und sozialer Sicherheit fehlt! Für letztere benötigen wir eine intakte und leistungsfähige Staatsgewalt bzw. heute zusätzlich supranationale Entscheidungskapazität, um wichtige Entwicklungen - soziale, ökonomische, bildungspolitische, ökologische - zum Besseren wenden zu können. Dazu werden wir nicht ohne staatliche Politik auskommen.


NG/FH: Es gibt offenbar drei Gründe für die Begrenztheit von Zukunftsplanung. Erstens: den kognitiven, denn sicherer Erkenntnisgewinn über künftige Entwicklungen ist unvermeidlich schwer bis unmöglich. Zweitens: den sachlichen, denn moderne Gesellschaften und die natürliche Umwelt zeichnen sich durch hohe Komplexität der Wechsel- und Rückwirkungen ihrer Entwicklung aus. Drittens: die stets begrenzten institutionellen Kapazitäten von Gesellschaft und Politik. Wie können unter diesen Umständen halbwegs realistische Lösungsmöglichkeiten für die Abwendung existenzieller Krisen durch unbeherrschte Fernwirkungen unseres Handelns im politisch-institutionellem Bereich aussehen?

OFFE: Vielleicht könnte die Politik ihre Rolle wiederfinden, indem sie aufhört ihren Klienten in unglaubwürdiger Weise Fortschrittspfade in die Zukunft in Aussicht zu stellen. Statt dessen muss sie damit anfangen, Schwellenwerte, Minima, unverzichtbare Mindestwerte zu definieren und zu gewährleisten, die z.B. die Altersarmut von Hinterbliebenen ebenso ausschließen wie die Bildungsarmut von Migrantenkindern. Was ausgeschlossen werden muss, ist die Möglichkeit von - und damit die lähmende Angst vor - anders als durch staatliche Politik nicht beherrschbare (aber von ihr durchaus beherrschbare!) Lebensrisiken individueller und kollektiver Art. Die Finanzmarktkrise ist das aktuelle Beispiel. Durch staatliche Regulierung muss zu verhindern sein, dass so etwas wieder vorkommen kann; das bedeutet, dass es bestimmte Arten von potenziell krisenursächlichen Finanzmarktgeschäften einem supranational durchgesetzten Verbot unterliegen. Dasselbe gilt für Aufgaben der ökologischen Katastrophenvorsorge. Der Fortschritt bestünde dann darin, dass die Politik individuell und kollektiv unerträgliche Rückschläge unwahrscheinlicher machte.


NG/FH: Was ist dann noch die Rolle politischer Programme für die Zukunftsgestaltung?

OFFE: Eine ernst zu nehmende Programmatik muss versuchen, die für die Realisierung der genannten "Vermeidungsziele" erforderlichen politischen Handlungskapazitäten zurückzugewinnen. Eine politische Programmatik, die einzelnen Klientengruppen Besserungen verspricht (dem Mittelstand billige Kredite und der "Generation Praktikum" sozialen Aufstieg), ist jedenfalls weniger überzeugend als eine Art von Programmatik, die glaubwürdig jene Art von Sicherheit in Aussicht stellt, die für eine minimale Krisenfestigkeit auf individueller und kollektiver Ebene sorgt.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2009, S. 55-58
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2009