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FRAGEN/004: Und wer hat das Sagen? Die Euro-Krise und die Demokratie (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 139/März 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Und wer hat das Sagen? Die Euro-Krise und die Demokratie

Wolfgang Merkel, Mattias Kumm und Michael Zürn im Gespräch



Die europäische Krise hat dazu geführt, dass grundlegende Fragen der demokratischen Gesellschaft, der Teilhabe an Entscheidungen neu und eindringlich gestellt werden. Die WZB-Forscher Wolfgang Merkel, Mattias Kumm und Michael Zürn befassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit diesen Fragen und haben darüber miteinander diskutiert, moderiert von Paul Stoop.

Frage: Muss in einer Krise wie der jetzigen nicht manchmal schnell, ohne lange Entscheidungsprozesse, entschieden werden?

Wolfgang Merkel: Ich halte das für ein Problem. Es geht ja meist um Entscheidungen, die Folgen haben. Jene, die diese Folgen tragen, müssen Entscheidungen legitimieren können. Wenn sich unter dem Druck der Ereignisse eine neue Entscheidungskultur entwickelt und immer wieder das Scheinargument kommt, es müsse schnell gehen, kann die Demokratie Schaden nehmen. Wir geraten da auf eine schiefe Ebene.

Michael Zürn: Wenn ein Regierungschef wüsste: Ich kann jetzt eine Entscheidung treffen, von der ich sicher weiß, dass sie eine Wirtschaftskrise im Umfang der von 1929 vermeidet, indem ich das Parlament umgehe, wäre das verantwortungsethisch nachvollziehbar. Es geht aber heute nicht um eine Einzelentscheidung, sondern um eine systematische Verlagerung der Kompetenzen auf nicht ausreichend demokratisch legitimierte Instanzen: auf die EU und auf expertokratische Gremien. Parlamente hingegen dürfen nur noch Vorlagen ohne Alternative abnicken.

Mattias Kumm: Man müsste die nationale Ebene von der europäischen unterscheiden. In einem Staat kann es im Einzelfall ja möglich sein, ex post eine rasch getroffene Entscheidung zu ändern. Es gibt Oppositionsparteien, die sich artikulieren und die daran arbeiten können, dass Fehlentwicklungen korrigiert werden. Aber auf EU-Ebene handeln ja in Krisenzeiten die nationalen Exekutiven als Einheit. Sie treten nach langen Verhandlungen vor die Kamera mit einem mühsam ausgehandelten Kompromiss, der in dem Moment von allen getragen wird. Es ist eher unwahrscheinlich, dass diese Entscheidungen später fundamental infrage gestellt werden. Es gibt keine Opposition auf europäischer Ebene.

Frage: Es geht also um viel mehr als Kommunikationsprobleme und um die Notwendigkeit, Kompromisse zu erklären?

Mattias Kumm: Die Behauptung der Alternativlosigkeit ist natürlich auch eine rhetorische Formel. Es gibt immer Alternativen. Mit Alternativlosigkeit meint man eher den schwierigen politischen Prozess, der einen Kompromiss erfordert, und andere Lösungen realistisch nicht durchsetzbar sind. Wer dies Argument auf europäischer Ebene bemüht, verweist implizit auf ein gravierendes Demokratieproblem.

Michael Zürn: Die Rede von der Notwendigkeit, Entscheidungen besser zu erklären, ist nicht ganz unberechtigt. Es muss hierzulande deutlich macht werden, in welchem Maße Deutschland von der EU profitiert. Wir dürfen nicht das Gerede von den Südeuropäern, die allein Fehler gemacht haben, befeuern. Es ist ja eine Politik, die gemeinsam verantwortet ist. Und es muss einen offenen Umgang mit den Vor- und Nachteilen der europäischen Integration geben. Das ist aber etwas anderes, als eine Entscheidung alternativlos zu nennen und dann zu erklären, warum sie alternativlos ist.

Wolfgang Merkel: Das bezieht sich dann letztlich auf den Diskurs im gesamten Prozess. Aber Erklären und Werben können transparente Mechanismen und politische Prozesse nicht ersetzen.

Frage: Was ist die treibende Kraft hinter dem Druck auf demokratische Prozesse und Prinzipien? Technokratie, Ökonomie, Partikularinteressen?

Wolfgang Merkel: Monokausal kann man das nicht erklären. Aber die weltweite Deregulierung der Finanzmärkte hat eine Lawine losgetreten, die jetzt auf das demokratische Gemeinwesen zurückschlägt. Es gibt heute mächtige Akteure, die schnell und frei von gemeinschaftsverträglichen Regeln entscheiden können. Diese bringen ganze Staaten in Zugzwang. Hedgefonds, Banken und andere demokratisch nicht legitimierte Finanzakteure spekulieren gegen eine Währung, drohen mit Abzug "ihres" Kapital. Sie haben sich ihre eigenen Ratingagenturen geschaffen, die ganze Volkswirtschaften Richtung Abgrund treiben können. Die Spekulanten sind demokratisch nicht legitimiert, greifen aber tief in die Struktur und Lebensweise demokratischer Gemeinschaften ein.

Frage: Wie kam es, dass die Märkte so ermächtigt wurden?

Mattias Kumm: Die Auslieferung an die Finanzmärkte geht vor allem auf zwei zentrale Regelungs- und Designfehler zurück. Erstens: Wenn von vornherein klar gewesen wäre, dass die Europäische Zentralbank als Lender of Last Resort gegen jede Form der Spekulation in einem einzelnen Land hätte intervenieren können, wäre einigen EU-Ländern viel erspart geblieben. Draghis weite Interpretation der EZB-Kompetenzen war mutig, wirtschaftlich richtig und im Übrigen auch rechtlich vertretbar. Sie hat Ruhe geschaffen und die Kapitalkosten vieler europäischer Problemländer gesenkt. Zweitens: Wenn sichergestellt wäre, dass Banken schärfer reguliert würden oder ohne große soziale Kosten abgewickelt werden können, dann wäre es nicht erforderlich gewesen, scheiternde Finanzinstitutionen mit öffentlichen Geldern zu versorgen.

Wolfgang Merkel: Die Frage ist da aber, ob man rechtliche Regulierungen schaffen kann, die die globale ökonomische Dynamik in eine kontrollierende Rechtsform hineinführen kann. Die Banken sind so groß geworden, dass ihnen schon ihre schiere Größe Erpressungsmacht verleiht: Das heißt dann too big to fail. Man müsste deshalb auch die Größe dieser Akteure begrenzen. Die Vernetzung über die ganze Welt wird man kaum einschränken können.

Michael Zürn: Ich finde den Gedanken, dass Banken für ihr eigenes Handeln verantwortlich gemacht werden müssen, das Problem also auf der Bereitstellungsseite anzugehen, plausibel. Nur gibt es möglicherweise Camerons auf dieser Welt, die da nicht mitmachen würden. Daher ist die supply side-Regelung, also die Regulierung der Vergabepraxis der Banken, politisch schwieriger umzusetzen als die demand side-Regelung, das heißt die Verschuldung der Staaten. Diese Lage ähnelt dem Grundproblem der Globalisierung: Wir haben nach wie vor Nationalstaaten, die nur kleinere Räume regulieren können. Das globalisierte Kapital hat gegenüber dem nicht globalisierten Staat immer einen Vorteil.

Mattias Kumm: Aber konkret war die Dynamik im europäischen Verhandlungsprozess genau umgekehrt. Cameron hat auf eine Teilnahmeoption für britische Banken bestanden, weil zusätzliche Regulierungssicherheit eben auch einen Vertrauenszuschuss bringt, und das ist auf dem globalen Markt für Banken ein Vorteil. Das heißt nicht, dass Michael Zürns Argument nicht richtig ist, sondern nur, dass die Situation je nach Regulierungsbereich und konkreter Regelung zu differenzieren ist. Manchmal kann es eine Art race to the top geben, in dem Regulierung, Globalisierung und Wettbewerb gut zusammen bestehen können. Ein Gegenbeispiel ist natürlich die jetzt ebenfalls vorgeschlagene Finanztransaktionssteuer.

Michael Zürn: Dieses race to the top gibt es manchmal, es ist aber in hohem Maße von konjunkturellen Einschätzungen und Wahrnehmungen abhängig. Wir wissen alle, dass die Basel-Diskussionen über den Rücklagen-Fonds der Banken über Jahrzehnte immer von der Logik des kleinsten gemeinsamen Nenners gekennzeichnet waren. Jede Nation hat das eigene System verteidigt und nur so viel internationale Regelung akzeptiert, wie es den eigenen Banken keine negativen Verteilungseffekte brachte. Das scheint jetzt wieder zu greifen, was die Bankenregulierung erschwert.

Wolfgang Merkel: Ich bin etwas skeptischer, was die Regulierungsmöglichkeiten angeht. Wirtschaftsakteure wie Banken haben global gemeinsame Interessen. Dagegen vereinen Regulierungsakteure, also die nationalen Regierungen, und ganz besonders internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds unterschiedliche ökonomische Glaubenssätze und Interessen. Die einen sagen Sparpolitik, die anderen argumentieren überzeugend, dass man Volkswirtschaften nicht kaputt sparen dürfe, sondern Ausgabenimpulse setzen muss. Andere wollen deregulierte Finanzmärkte, wie Großbritannien, weil die Finanzindustrie für dessen Volkswirtschaft eine ganz andere Bedeutung hat als etwa für Frankreich oder Deutschland.

Frage: Und wo sind in dem Prozess die Bürger, Wähler, Parlamente?

Michael Zürn: Bei diesen europäischen Krisenentscheidungen spielen demokratische Debatten und Parlamente kaum eine Rolle. Insofern die Rechte der Parlamente thematisiert werden, geschieht es durch Verfassungsgerichte, die selbst keine Mehrheitsinstitutionen sind. Wir sehen also eine generelle Verlagerung der Entscheidungskompetenzen, weg von Parlamenten, Parteien, öffentlichen Debatten, hin zu Organen, die ihre Kompetenz letztendlich durch ökonomische oder juristische Expertise begründen. Bemerkenswert ist dabei, dass Parteien und Parlamente sehr schlechte Vertrauenswerte haben, Zentralbanken und Verfassungsgerichte bei Umfragungen dagegen ganz hervorragende Noten erhalten. Das ist ein demokratisches Paradox.

Wolfgang Merkel: Ja, das ist eine interessante Verschiebung. Das hieße aber, diese supranationalen Gebilde wie die EU wären nie im gleichen Maße zu demokratisieren wie der Nationalstaat. Wenn etwa eine Mehrheit in Europa den Südländern die Sparpolitik diktiert, muss man doch fragen: Wer von den Entscheidungsadressaten in Griechenland oder Spanien hätte denn die deutsche Regierung je durch eine demokratische Prozedur ermächtigt, diese Entscheidungen für sie zu treffen? Es gibt keinen europäischen demos, es gibt keine Identität. Ich habe noch kein Design gesehen, das die Güter von Partizipation, Repräsentation und Transparenz in ähnlicher Weise auf der europäischen Ebene vorstellbar macht wie auf nationalstaatlicher Ebene.

Mattias Kumm: Ich bin weniger skeptisch. Auf europäischer Ebene wäre eine Parlamentarisierung nötig. Das europäische Parlament ist noch keine starke Legitimationsinstanz. Aber es ist wichtig, dass es eine wird. Der Ministerrat würde dann ein solches Parlament als zweite Kammer flankieren, in der die Regierungen der Mitgliedsstaaten vertreten sind. Das würde nicht alle Probleme lösen, aber es wäre eine Richtung, mit der viele problematische Tendenzen, die wir beobachten, abgeschwächt würden. Die Frage von verschiedenen Interessen, Mehrheiten und Minderheitenschutz stellt sich übrigens ja auch in jeder pluralistischen Gesellschaft. Wir haben in Europa die Ressourcen, Interessendivergenzen durch rechtliche Prozeduren zu lösen, die dann zu verbindlichen Regelungen führen.

Wolfgang Merkel: Man darf die Kosten einer solchen europäischen Parlamentarisierung aber nicht verschweigen. Sie hätte zwangsläufig zur Folge, dass die nationalen Parlamente an Kompetenzen verlieren. Die nationalen Parlamente haben eine viel stärkere Akzeptanz- und Legitimationszufuhr in der nationalen Bevölkerung, als sich das die größten Optimisten für ein Europäisches Parlament selbst in 20 Jahren vorstellen können.

Michael Zürn: Einspruch. Sind nationale Organe per se demokratischer? Demokratie ist ein normatives Prinzip: Alle jene, die von einer Entscheidung betroffen sind, sollten die Möglichkeit haben, an dieser Entscheidung mitzuwirken. Wenn jetzt in einer Finanzkrise Entscheidungen gefällt werden, die ganz Europa betreffen, - die, die sparen müssen wie auch die, die solidarisch geben müssen -, dann sollte dies aus demokratischen Erwägungen eine europäische Entscheidung sein: Institutionen, die in der Lage sind, alle von diesen Entscheidungen Betroffenen zu repräsentieren, sind per se demokratischer, denn sie sind besser legitimiert als nationale Parlamente, die nur Teilregionen repräsentieren.

Frage: Wäre das in der Praxis machbar und demokratisch sinnvoll?

Wolfgang Merkel: Hans Kelsens Prinzip, dass die Entscheidungsadressaten sich auch als Entscheidungsautoren begreifen müssen, ist doch auf europäischer Ebene nur unzureichend institutionalisiert. Umwelt-, Wirtschafts-, Fiskal- und Finanzpolitik - das trifft doch immer alle. Soll das alles von der EU entschieden werden? Wo zieht man dann die Linie? Wenn man dem Prinzip Kelsens folgt, würde das auf einen europäischen Föderalstaat hinauslaufen, der dann diese Probleme nach dem Subsidiaritätsprinzip zu lösen hat.

Michael Zürn: Ein eindeutiges Kriterium wird es wahrscheinlich wohl nicht geben. Das wäre ohnehin in einer öffentlichen, gesamteuropäischen Auseinandersetzung zu entwickeln. Wenn wir etwa hinsichtlich der Finanzpolitik in Europa zum Ergebnis kommen, dass ein bestimmtes Maß an Kontrolle durch die Kommission über nationale Haushalte erfolgen muss, bedarf es eines Kommissionspräsidenten, der vom Parlament gewählt wird.

Mattias Kumm: Bei der Debatte um eine europäische Parlamentarisierung geht es nicht um neue Kompetenzen für die EU, sondern primär um die Frage, wie das Verfahren strukturiert sein soll, in dem schon bestehende Kompetenzen wahrgenommen werden. Natürlich ist losgelöst davon auch danach zu fragen, wie im politischen und rechtlichen Prozess das Subsidiaritätsprinzip angemessen zur Geltung gebracht werden kann. Aber das ist eine andere Frage. Man wird sehen, wie sich die Neuerungen im Lissabonner Vertrag hinsichtlich der Beteiligungsrechte nationaler Parlamente hier längerfristig auswirken werden. Generell geht es um die Frage nach angemessenen subsidiaritätssensiblen Entscheidungsprozeduren und auch um die bisher eher unzureichend realisierte gerichtliche Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips.

Wolfgang Merkel: Das stimmt, aber jede solche Entscheidungsprozedur wird hoch kompliziert sein. Was uns zur Ausgangsfrage zurückführt: Können wir akzeptieren, dass bestimmte demokratische Verfahren der Mitgliedsstaaten durch weniger demokratische europäische Verfahren aus Gründen der Effizienz ersetzt werden? Da muss es enge Grenzen geben. Eine solche Verschiebung der Legitimitätsachse ist höchst problematisch. Wir sollten uns nicht darauf zurückziehen zu sagen, die Bevölkerung stimmt mehrheitlich dem Effizienzargument zu. Unter Umständen würde die Bevölkerung mehrheitlich auch diktatorischen Entscheidungsprozeduren zustimmen, die dadurch aber nicht demokratisch würden.

Michael Zürn: Immerhin hat die Krisendebatte ihre positiven Seiten. Zum ersten Mal erleben wir einen Aufschrei, wenn das Wort "alternativlos" zur Verteidigung politischer Entscheidungen verwendet wird. Eine solche Polarisierung der Meinungen zum europäischen Prozess, die ich als Politisierung bezeichne, heißt ja auch: Die europäische Frage und die Entscheidungen der europäischen Institutionen sind auf der Agenda der öffentlichen Auseinandersetzung. Das gewährleistet noch keine europäische Demokratie, ist aber die kulturelle Voraussetzung, die man braucht, um funktionierende demokratische Institutionen zu entwickeln.


Mattias Kumm ist Forschungsprofessor Law in the Age of Globalization und geschäftsführender Leiter des WZB Rule of Law Center. Außerdem lehrt er an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Gastprofessor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. mattias.kumm@wzb.eu

Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung sowie Co-Leiter des WZB Rule of Law Center. Er lehrt außerdem am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. (Siehe auch seinen Artikel S. 6-9 in der Originalpublikation)

Michael Zürn ist Direktor der Abteilung Global Governance und Co-Leiter des WZB Rule of Law Center. Er lehrt außerdem Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin. (Siehe auch seinen Artikel S. 10-13 [siehe im Schattenblick unter www.schattenblick.de → Politik → Fakten: THEORIE/176: Die schwindende Macht der Mehrheiten (WZB)])

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 139, März 2013, Seite 25-28
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. April 2013