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MENSCHENRECHTE/367: Chile - Scholz und Boric zum Gedenkort in der Ex Colonia Dignidad (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile
Scholz und Boric zum Gedenkort in der Ex Colonia Dignidad

von Ute Löhning


"Das Thema ist zu wichtig, um es im Nachhinein nur als folkloristisches Menschenrechts-Beiwerk für den Rohstoff-Einkaufstrip des Kanzlers zu behandeln".

(Berlin, 06. Februar 2023, npla) - Ende Januar war Olaf Scholz auf Südamerikareise. Bei seiner Kurzvisite in Begleitung einer Wirtschaftsdelegation sprach er in vier Tagen mit den Regierungschefs von Argentinien, Chile und Brasilien (siehe: "Olaf Scholz auf der Suche nach Rohstoffen" [1]). Der chilenische Präsident Gabriel Boric und Olaf Scholz bekannten sich auch zur Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad.

"Deutschland will einen Beitrag leisten als Partner"

Nach einem Besuch im Museum für Erinnerung und Menschenrechte in Santiago, das an die Verbrechen der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990) erinnert, erklärten sich der deutsche Bundeskanzler und sein chilenischer Amtskollege schließlich auch zur Colonia Dignidad. Deutschland wolle die chilenische Regierung "im Hinblick auf die frühere Colonia Dignidad und die Vorstellungen zum Erinnerungsort und Dokumentationszentrum", die dort entstehen, unterstützen und einen "Beitrag leisten als Partner", sagte Scholz. Boric bedankte sich für diese Bereitschaft der Bundesregierung, Chile bei Aufklärungsbestrebungen und bei Plänen zur Errichtung eines Gedenkortes in der Ex Colonia Dignidad zu unterstützen. Gleichzeitig erklärte er, es sei Rolle des chilenischen Staates, "unermüdlich für Wahrheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Das ist auch das Ziel unserer Regierung." Boric wies auch auf die Unterstützung hin, die die Colonia Dignidad von Sektoren der chilenischen Politik erhalten hatte und betonte, dass manche Personen aus diesem Umfeld noch immer politisch aktiv sind. So z.B. Hernán Larraín [2], Mitglied der rechten UDI-Partei: Der frühere Freund und Unterstützer der Colonia Dignidad war bis 2022 Minister für Justiz und Menschenrechte und blockierte in der Zeit eine weitergehende Aufarbeitung der in der deutschen Siedlung begangenen Verbrechen. Nun wurde er zum Vorsitzenden eines "Expert:innengremiums" bestimmt, das den ersten Entwurf für eine neue Verfassung für Chile schreiben soll.

Die "Kolonie der Würde" - ein Ort voll Zwangsarbeit und sexualisierter Gewalt

Die 1961 in Südchile gegründete deutsche Sektensiedlung war von strategischer Bedeutung für die Pinochet-Diktatur. Intern herrschte in der sogenannten "Kolonie der Würde" ein System von Zwangsarbeit und sexualisierter Gewalt. Nach dem Putsch 1973 kooperierte die Sektenführung um den deutschen Laienprediger Paul Schäfer eng mit dem chilenischen Geheimdienst DINA. Hunderte politische Gefangene wurden auf dem Gelände gefoltert, Dutzende ermordet und verscharrt. Siedlungsbewohner gruben deren Leichen später wieder aus, verbrannten sie und warfen ihre Asche in den Fluss Perquilauquén. Überreste einiger der bis heute Verschwundenen werden noch in Massengräbern auf dem Gelände vermutet. Frank-Walter Steinmeier hatte sich 2016 - damals als deutscher Außenminister - zu einer moralischen Mitverantwortung Deutschlands bekannt. Denn das Auswärtige Amt hatte Hilfsgesuche von Sektenangehörigen und deren Familien jahrzehntelang ignoriert, Einzelnen, denen die Flucht aus der streng abgeriegelten Siedlung gelang, sogar den Schutz verweigert. Der Deutsche Bundestag beschloss 2017 einstimmig, die Bundesregierung solle zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad beitragen [3]. Eine zentrale Forderung dabei ist die Errichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes - zusammen mit der chilenischen Regierung.

Protest gegen die Nutzung als Ausflugsort im folkloristischen Bayernstil

"Chile und Deutschland sind gleichermaßen für die Verbrechen der Colonia Dignidad in der Verantwortung", erklärt Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika. "Folgerichtig sollten Aufarbeitungsmaßnahmen auch in gemeinsamer Verantwortung vorangebracht und umgesetzt werden", so der Politologe, der die Geschichte der Colonia Dignidad für seine Dissertation ausgiebig erforscht und als Buch veröffentlicht hat [4]. Das Bekenntnis beider Regierungschefs zur Gedenkstätte sei richtig und wichtig, jetzt müsse es aber an die konkrete Umsetzung gehen, betont Stehle: "Das Zögern beider Regierungen bei der Konkretisierung verhindert eine Demokratisierung der heutigen Villa Baviera". So nennt sich die ehemalige Colonia Dignidad seit 1988. Heute floriert in der Siedlung ein Hotel-Restaurant-Betrieb im folkloristischen Bayernstil, daneben Landwirtschaft und eine Hühnerfarm. Gäste genießen das leckere Essen, die frische Luft und die schöne Landschaft am Fuß der Anden. Ein Affront für die Angehörigen der Verschwundenen: Sie fordern Aufklärung und ein "Ende des Tourismus an diesem Ort, der ein Ort der Erinnerung sein sollte", sagt Myrna Troncoso, Vorsitzende der Vereinigung der Angehörigen der verschwundenen politischen Gefangenen der Region des Maule-Flusses. Auch ihr Bruder Ricardo wurde 1974 verhaftet und ist bis heute verschwunden.

Gedenk-, Dokumentations- und Lernort

Ein Team von deutschen und chilenischen Gedenkstättenexpert*innen hatte im Auftrag einer "Gemischten Kommission" mit Vertreter*innen beider Regierungen bis 2021 einen Vorschlag für die Errichtung einen Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes [5] ausgearbeitet. Als bislang ranghöchster deutscher Politiker besuchte der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (LINKE) im Oktober 2022 - damals in seiner Funktion als Bundesratspräsident - die Villa Baviera [6]. Er machte sich für die Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte stark. Doch weder die deutsche noch die chilenische Regierung unterstützen seinen Besuch. Die deutsche Botschafterin begleitete ihn nicht. Im Nachhinein soll ein Referatsleiter des Auswärtigen Amtes Ramelow als "aufgeblasenen Pfau" [7] bezeichnet und ihm Selbstdarstellung nachgesagt haben. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es dazu, diese Anschuldigungen würden intern überprüft. Auf Wunsch der chilenischen Regierung entzog die Gemischte deutsch-chilenische Regierungskommission dem Expert*innenteam im November 2022 allerdings das Mandat. Gleichzeitig bekannte sich die chilenische Seite jedoch zum Ziel der Errichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte [8]. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es dazu, die Bundesregierung wolle die deutschen Expert*innen Elke Gryglewski (Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen) und Jens-Christian Wagner (Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora) auch zukünftig weiter in diesen Prozess einbinden.

Alle Betroffenengruppen gleichermaßen berücksichtigen

Daher habe das Auswärtige Amt auch im Dezember 2022 wieder Dialogveranstaltungen von Gryglewski und Wagner mit verschiedenen Betroffenengruppen in Chile finanziert. "Wir haben in diesem Jahr zum achten Mal mit den unterschiedlichen Opfergruppen gearbeitet", erklärt Gryglewski. Dabei sprechen sie über Erwartungen an einen Gedenkort und Konflikte: Mit Bewohner*innen der Villa Baviera, mit den Angehörigen von Verschwundenen, mit den in der Colonia Dignidad Gefolterten, mit den chilenischen Opfern von sexualisierter Gewalt oder unrechtmäßigen Adoptionen sowie mit Landarbeiterfamilien, die Anfang der 1970er Jahre von dem Gelände der Colonia Dignidad vertrieben wurden. "Wenn man das vergleicht, zum ersten Jahr 2014, als keine der unterschiedlichen Gruppen auch nur ansatzweise mit einer anderen Opfergruppe sprechen konnte, sondern nur Vorurteile gegenüber den anderen bestanden", so die Historikerin, sei es ein "unendlich großer Erfolg", dass inzwischen eine "große Empathie" entstanden sei. Entsprechend dem Vorschlag der Expert*innen sollen alle Opfergruppen, ihre Geschichte und ihr Leiden in einer Gedenk- und Dokumentationsstätte angemessen repräsentiert werden. Viele von ihnen sprechen sich heute für die Errichtung einer Gedenkstätte, eines Dokumentationszentrums in der Ex Colonia Dignidad aus.

Forderung nach erstem Spatenstich zum 50. Jahrestag des Putsches

Doch die Politik zieht nicht mit. Dabei ist die politische Konstellation mit der linken Regierung in Chile und der rot-gelb-grünen Bundesregierung so günstig wie nie zuvor. "Wir wollen hilfreich sein, und wir wissen, wie sensibel das ganze Thema ist", erklärte Scholz in Santiago unter Verweis auf die verschiedenen Opfergruppen, da sei es auch nicht einfach, eine gute Lösung zu finden. "Deshalb werden wir auch mit aller Zurückhaltung aktiv unsere Unterstützung anbieten und das, was wir tun können, gerne tun. Das sind aber Prozesse, die im Lande entschieden werden müssen. Wir sind ein Partner dabei." Für Jan Stehle sind diese Äußerungen des Bundeskanzlers auch "Anlass zur Sorge, dass sich die deutsche Seite aus der gemeinsamen Verantwortung zurückziehen möchte, was nicht geschehen darf". "Zum 50. Jahrestag des Pinochet-Putsches am 11. September könnte und sollte es mit einem ersten symbolischen Spatenstich konkret werden", fordert auch Jan Korte (Linke). Das Thema sei "zu wichtig, um es im Nachhinein nur als folkloristisches Menschenrechts-Beiwerk für den Rohstoff-Einkaufstrip des Kanzlers zu behandeln". Er erwarte konkrete Schritte und die Gründung einer "Stiftung oder Trägerschaft, die den Prozess zur Errichtung des Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes organisiert".

Ob es dazu kommt oder ob - wie im November 2022 in der "Gemischten Kommission" mit Vertreter*innen beider Regierungen diskutiert - auf absehbare Zeit lediglich Gedenktafeln angebracht werden, wird entscheidend sein für die Möglichkeiten weiterer Aufklärung. Auch Elke Gryglewski hofft, dass es "in dem jetzt zur Verfügung stehenden Zeitfenster von zwei Jahren gelingt, ein paar konkrete Schritte zu gehen", weil sie merke, dass die Betroffenen müde sind: "Die Betroffenen sterben auch, und es wäre eine vertane Chance, wenn es nicht unter der jetzigen politischen Konstellation gelingt."


Anmerkungen

[1] https://www.npla.de/thema/umwelt-wirtschaft/olaf-scholz-auf-der-suche-nach-rohstoffen/
Im Schattenblick siehe unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Politik → Wirtschaft
ROHSTOFFE/142: Chile - Olaf Scholz auf der Suche nach Rohstoffen (poonal)

[2] https://www.npla.de/thema/memoria-justicia/netzwerk-der-ueberlebenden-lehnt-ernennung-von-experten-ab/

[3] https://dserver.bundestag.de/btd/18/129/1812943.pdf

[4] https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5871-2/der-fall-colonia-dignidad/

[5] https://www.npla.de/thema/memoria-justicia/wir-dokumentieren-zum-gedenkstaettenkonzept-colonia-dignidad/

[6] https://www.npla.de/thema/memoria-justicia/bringt-ramelows-colonia-dignidad-besuch-gedenkstaette-in-schwung/

[7] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/chile-streit-um-colonia-dignidad-a-12557f68-9bd3-4e5c-99dd-c5300b189f18

[8] https://www.minrel.gob.cl/minrel/site/docs/20221117/20221117173159/comunicado_conjunto.pdf


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/memoria-justicia/scholz-und-boric-zum-gedenkort-in-der-ex-colonia-dignidad/


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Quelle:
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Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: poonal@npla.de
Internet: http://www.npla.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 10. Februar 2023

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