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THEORIE/171: Mit Sicherheit der Freiheit entgegen (Archipel)


Archipel Nr. 169 - Zeitung des Europäischen Bürgerforums - März 2009

GESTERN - HEUTE - MORGEN:
Mit Sicherheit der Freiheit entgegen
Konzepte der Sicherheit bei Zygmunt Bauman, Luc Boltanski/Ève Chiapello und Michel Foucault

Von Jens Kastner


Sicherheit gehört mit Sicherheit zu den schwammigsten Begriffen, die gegenwärtig in gesellschaftlichen und politischen, künstlerischen und theoretischen Diskursen im Umlauf sind. Vom privaten Sicherheitsunternehmen über die nationale Sicherheit bis zur Sicherheitsnadel omnipräsent, lässt sich Sicherheit auf Individuen oder Gegenstände, Gruppen, Systeme oder ganze Gesellschaften beziehen, bei Google erzielt das Wort nicht weniger als 132.000.000 Treffer.


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Versucht man nun, sich dem Begriff sinnvoll zu nähern, empfiehlt es sich zunächst, eine bestimmte Perspektive zu wählen. Dabei hilft beispielsweise die Suche nach einem Gegenbegriff nur bedingt, denn auch hier sind verschiedene denkbar: Die Angst zum Beispiel, als Individuum ausgesetzt, angreifbar und verletzlich zu sein. Oder das Risiko, das zwar zu Gefahrenabwehr und Sicherheitsmaßnahmen einlädt, aber auch, im Sinne einer alten Surfer-Weisheit, Spaß verspricht («no risk, no fun»). Und letztlich die Freiheit, die als individueller Wert oder gesellschaftspolitisches Ziel der Sicherheit gegenüber steht. Ich möchte im Folgenden den dritten Zugang wählen, weil er mir einerseits sozialtheoretisch am interessantesten und zweitens politisch am fruchtbarsten erscheint.

Die «Liebe zur Freiheit», wie sie der Anarchist Michail Bakunin formulierte, war stets eine der Motivationen nicht nur anarchistischen, sondern emanzipatorischen Handelns überhaupt, «Freiheit oder Tod» die zwingende Alternative, vor die sich jede ernsthafte Befreiungsbewegung gestellt sah. Als Ziel libertärer und emanzipatorischer Bemühungen stand der Freiheit als konservativer Gegenpart - auf der Ebene der Werte wie auch auf realpolitischem Terrain - die Sicherheit gegenüber. Im politischen Alltagsempfinden gilt: Je mehr von dieser, desto weniger von jener, und umgekehrt. Aber die Zeiten, d. h. die gesellschaftlichen Bedingungen, ändern sich bekanntlich. Sind Freiheit und Sicherheit also heutzutage überhaupt noch Gegensätze? Michel Foucault und die CDU sagen Nein. Der 21. Parteitag der CDU, der Anfang Dezember 2007 unter dem Motto «Die Mitte» stattfand, verabschiedete ein neues Grundsatzprogramm unter dem Titel «Freiheit und Sicherheit - Grundsätze für Deutschland». Und Michel Foucault bezeichnete die Freiheit als eine Ideologie und Regierungstechnik, die durchaus im Einklang mit der Sicherheit stünde. Was der CDU ihr Programm, ist allerdings für Foucault das Problem.

Dem Ansatz von Foucault gegenüber stehen die sozialtheoretischen Überlegungen des polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman und jene der französischen SoziologInnen Luc Boltanski und Ève Chiapello. Sie halten am Gegensatz von Freiheit und Sicherheit fest. Nur was folgt daraus? In der Frage, was das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit für soziale und politische Kämpfe bedeutet, welche Konsequenzen also aus der Analyse gezogen werden sollen, teilen alle zumindest die vehemente Ablehnung jener neoliberalen und wertkonservativen Wurzeln, zu denen die CDU nach eigenen Angaben mit ihren neuen Grundsätzen zurück will.


Zentraler Politikinhalt

Sowohl Bauman als auch Foucault und Boltanski/Chiapello beschäftigen sich mit der Frage der Sicherheit angesichts einer neuen gesellschaftlichen Situation, des Neoliberalismus. Unter Neoliberalismus verstehen alle nicht allein das wirtschaftliche Modell von Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung, sondern auch eine politische und soziale Konzeption, mit der die umfassende Ökonomisierung des Sozialen betrieben wird.

Für Bauman ist Sicherheit gegenwärtig - neben dem Phänomen der Aufmerksamkeit - der zentrale Inhalt von Politik. Gemeint ist damit aber nicht in erster Linie die Ausweitung des staatlichen Sicherheitsapparates, sondern im Gegenteil geht Bauman davon aus, dass der Staat angesichts der neoliberalen Globalisierung an politischer Gestaltungsmacht verliert. Unter anderem dieser angebliche Verlust wiederum führt in der Gesellschaft zum Einbruch alter und lang bewährter Sicherheiten. Der Verlust der Sicherheit betrifft jede ihrer drei, so von Bauman unterschiedenen, spezifischen Formen: security, certainty und safety (vgl. Bauman 2000: 30). Die erste Sicherheit, security, bezieht sich auf Besitz und betrifft das Gefühl, alles, was gewonnen und erworben wurde, behalten zu wollen. Zweitens geht es mit certainty um Gewissheit, um verlässliche Kenntnis von Unterscheidungskategorien für alltägliche Entscheidungen. Und das dritte fragliche Gut ist Schutz, safety, das garantierte Wohlbefinden des Körpers und seines Lebensraumes.

Diese Sicherheiten sind Bauman zufolge voraussetzend für Selbstvertrauen und Selbstsicherheit, von denen letztlich vernünftiges Denken und Handeln abhänge. Und das wiederum sei die Bedingung für politische Partizipation überhaupt. Bauman versucht zu zeigen, wie neoliberale Globalisierung diese Sicherheiten untergräbt und angreift, und somit auch die Möglichkeit von Politik in Frage stellt.

Der Wert der Sicherheit steht als Inhalt von Politik immer in einem Spannungsverhältnis zum Wert der Freiheit. Bauman spricht von einem Handel zwischen beiden. Allerdings habe dieses Gleichgewicht nie bestanden, sondern war immer nur als Vorstellung und als Suche vorhanden. Diese Suche beschreibt Bauman als das Wesensmerkmal der politischen Geschichte der Moderne(1). Angesichts des Tauschhandels zwischen Sicherheit und Freiheit bzw. angesichts dessen von Bauman betonter Notwendigkeit, geraten die mit dem Konzept der Sicherheit verbundenen Ausgrenzungspraxen aus dem Blick. Sicherheit und Freiheit werden als gegenläufige Werte interpretiert, die dennoch «beide erstrebenswert» (Bauman 1999: 24) seien. Es bedürfe des Ausgleichs zwischen ihnen oder zumindest der Versuche, ihn herzustellen, um individuelles Glück zu ermöglichen.

Als Akteur für diese Herstellung sieht Bauman den Staat bzw. die Republik vor, ein geeignetes Instrument scheint ihm die Einführung des Grundeinkommens zu sein. Argumentatorisch begibt er sich damit allerdings in direkten Gegensatz zu seiner viel zitierten Ordnungskritik, wenn er zustimmend schreibt: «Sicherheit kann allerdings nur entstehen, wenn der unstete, unberechenbar launische, oft explosive Lauf der Bedürfnisse durch Ordnung ersetzt wird.» (Bauman 1999: 23).

Gegen Bauman muss also eingewandt werden, dass es sich bei dem Paar Freiheit und Sicherheit vielleicht um ein auszutarierendes, ins Gleichgewicht zu bringendes handelt, dass dieses Gleichgewicht aber noch lange kein gutes oder demokratisches ist. Es ist vielmehr äußerst heikel, aus emanzipatorischer Sicht sehr zweifelhaft, und zwar aus zwei Gründen: Weil erstens Freiheit im Kontext der neoliberalen Hegemonie nicht mehr automatisch dieselbe ist, die Bakunin meinte, Freiheit von Zwang und Unterdrückung nämlich, sondern umgedeutet wurde und eben auch die «Freiheit» im Sinne von Flexibilität, Selbstverantwortung, Freisetzung, Selbstregulierung meint. Und weil zweitens Freiheit und Sicherheit sich nicht auf ein und dasselbe Subjekt beziehen müssen und daher ihr Austarieren mit Ausschlüssen einhergeht.

Anders gesagt: Die Freiheit für Kapitalflüsse und Bewegung der einen, also Freihandel und Reisefreiheit, basiert auf Einfuhrbeschränkungen und strengster Migrationkontrolle gegen die anderen; die Sicherheit in den gated communities von wenigen geht einher mit neuen «Unsicherheitsregime(s)» (Sauer 2005: 203), denen viele ausgesetzt sind.

Da bei Bauman genau diese beiden prekären Aspekte aus dem Blick geraten - was sich u. a. in seiner Auffassung der Rolle des Staates äußert - bietet sich ein Schwenk zur Theorie Luc Boltanskis und Ève Chiapellos an, um anschließend auf Michel Foucault zu kommen, die sich jeweils diesen Problemen widmen.


Sozialkritik und Emanzipationsfaktor

In ihrer großen Studie «Der neue Geist des Kapitalismus» (2003) gehen Boltanski/Chiapello u. a. der Frage nach, wie es zur Durchsetzung der gegenwärtigen kapitalistischen Ordnung ohne nennenswerten Widerstand kommen konnte. Sie verwerfen dabei einen einfachen Repressionsgedanken, stehen aber auch der These einer «Herrschaft des Wirtschaftlichen über das Gesellschaftliche» (Boltanski/Chiapello 2003: 215) skeptisch gegenüber. Sie analysieren stattdessen eher Formen der Beteiligung, die vom Kapitalismus angeboten worden sind und werden und die gerade mit den Wünschen der ehemaligen Protestgruppen und -milieus kompatibel sind. Denn der «neue Geist» des Kapitalismus ist laut Boltanski/Chiapello vor allem als Reaktion auf die fundamentale Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen um 1968 zu verstehen.

Hinsichtlich der Milieus und der Inhalte des Protests unterscheiden Boltanski/Chiapello zwischen einer Sozialkritik und einer KünstlerInnenkritik. Beide Kritikformen haben die Proteste von ArbeiterInnen und Studierenden der 1960er Jahre geprägt. Dabei hätten beide Gruppen Themen transportiert, die die seit den 1930er Jahren (zwischen UnternehmerInnentum, Staat und Gewerkschaften) geregelten Bahnen der gesellschaftlichen Arrangements gesprengt haben. Und zwar deshalb und insofern, als sie über Einzelbereichsforderungen hinaus auf das ganze Leben ausgerichtet waren. Hier spielt das Moment der Sicherheit eine entscheidende Rolle, denn die Sicherheit sei die zentrale Forderung der ArbeiterInnen (also der traditionellen Sozialkritik) an der kapitalistischen Ausbeutung als Kampf gegen die Macht der Monopole und den Egoismus der Oligarchie gewesen. Die Studierenden hingegen - und im Anschluss an sie die Neuen Sozialen Bewegungen - weiteten die KünstlerInnenkritik an der Entfremdung zur Technokratisierungs- und Alltagskritik aus, die die Forderungen nach Kreativität und vor allem nach Autonomie nach sich zogen (vgl. Boltanski/Chiapello 2003: 216ff.). Sicherheit und Autonomie wiederum standen nun im Zentrum der Reaktionen auf 1968. Wurde zunächst mit innerbetrieblichen Institutionalisierungen den Forderungen nach Sicherheit nachgegangen, kam es vor allem unter dem Einfluss der KünstlerInnenkritik zu einem Kreativität und Autonomie in den Vordergrund rückenden «Flexibilitätskonsens» (Boltanski/Chiapello 2003: 249).

Mit anderen Worten, der Geist der Hippies, Künstler und Beat-Poetinnen, mobil im Gegensatz zum fordistischen Reihenhaus und flexibel im Kontrast zum starren Fabrikalltag, jener Geist hat die flachen Hierarchien der new economy mit vorbereitet. Gerade die auf die Veränderung des ganzen Lebens ausgerichtete Protestkultur scheint sich für diese Modernisierung der Herrschaft also angeboten zu haben. So beschreiben Boltanski/Chiapello (2003: 252) einen «Kompetenztransfer von der linken Protestkultur zum Management», der sich vor allem um das Thema der Selbstverwaltung entfaltete. Autonomie, Selbstverwaltung und Freiheit haben damit auch weitgehend ihre Funktion als Gegenbegriffe zur Herrschaft des Staates eingebüßt und sind stattdessen zu deren integralen Bestandteilen mutiert.

Nochmals anders formuliert: Mit ihrem von kleinen Avantgardekreisen in den 1950er Jahren zum Massenphänomen der 1960er aufgestiegenem Streben nach Freiheit haben die KünstlerInnen jene Sicherheit zerstört, die die ArbeiterInnenbewegung dem Kapital abgerungen hatte. Diese Sicherheit, verstanden als Arbeitsplatzsicherheit und soziale Stabilität, war für weite Teile der Bevölkerung - zumindest der männlichen, weißen Mittelschichten innerhalb der Industrienationen - Garant für bestimmte «Freiräume» (Boltanski/Chiapello 2003: 508), wohl auch als Voraussetzung für vernünftige Teilhabe an politischen Prozessen, wie Bauman eine solche Sicherheit versteht. Deshalb folgern Boltanski/Chiapello, dass die KünstlerInnenkritik gescheitert sei. Denn sie habe der kapitalistischen Herrschaft erst ermöglicht, sich auf neue Kontrollformen zu stützen, und sie habe der Warenwelt die Weiterentwicklung individualisierter und «authentischer» Güter ermöglicht. Dabei habe sie nie begriffen, «wie sehr die Freiheit Teil des Kapitalregimes und wie eng dieses kapitalistische System mit dem Begehren verbunden ist, auf dem ein Großteil seiner Dynamik beruht.» (Boltanski/Chiapello 2003: 506)


Dispositiv und Mechanismus der Regierung

Bauman betont, dass Freiheit nicht nur als eine Situation fehlender Einschränkungen und Zwänge zu verstehen, sondern auch als Gestaltungsmacht aufzufassen sei. Und diese bliebe eben in den gegenwärtigen Gesellschaften den meisten Menschen vorenthalten (vgl. Bauman 1999: 27). Dass die Macht zum eigenen Handeln gar nicht ausgeschaltet, sondern vielmehr eingespannt wird, legt Michel Foucault in seiner Auseinandersetzung mit der neoliberalen Epoche nahe. Freiheit und Sicherheit sind bei Foucault nicht frei schwebende Begriffe der politischen Sphäre, sondern Teil einer Regierungsform. In der liberalen Phase der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften habe sich eine Machttechnik herausgebildet, die individuelle Freiheit weniger «gewährt», als sie selber «produziert». Freiheit wird quasi geschaffen, um eine optimale, ökonomisch effektive Regierung der Menschen zu gewährleisten. Die liberale Freiheit gilt auch nicht unumschränkt, sondern wird dem Prinzip eines Kalküls unterstellt, und dieses ist die Sicherheit (vgl. Lemke 1997: 186). Sicherheitsmechanismen werden eingesetzt, um in einem umfassenden Sinne die Bevölkerung (und ihre Freiheit) zu kontrollieren - und nicht um, wie im Polizeistaat, in erster Linie zu ordnen und zu überwachen.

Laut Foucault ist die Sicherheit mit dem Aufkommen einer neuen Machttechnik verbunden, die er «gouvernementale Führung» (Foucault 2000a: 64) nennt. Als zentrale Techniken der Macht in der Geschichte der Moderne hatte Foucault zuvor einerseits die «Souveränität» und andererseits die «Disziplinen» beschrieben. Während der Gegenstand der Souveränität der Raum eines Territoriums ist und die Disziplinen sich auf den individuellen Körper richten, bezieht sich die gouvernementale Führung - Gouvernementalität als Verbindung von gouverner, regieren und mentalité, Denkweise - auf die Bevölkerung als Ganzes. Diese Techniken sind, wenn auch in einer je spezifisch-historischen Situation entstanden, wiederum nicht als sich gegenseitig ablösend zu verstehen. Herrschaft heute zeichnet sich demnach nicht so sehr durch ein UntertanInnenverhältnis aus, noch durch normierte und regulierte Verhältnisse, als vielmehr durch eine Mischung dieser mit einer umfassenden Ökonomisierung.

Unter dieser Prämisse sind nicht mehr (allein) Ausschluss oder Zwang vonnöten, um Herrschaft durchzusetzen, sondern gesellschaftliche Aushandlungsprozesse. Daran nehmen aber nicht mehr Kollektive, Interessensgruppen oder Milieus teil, sondern zuvor bzw. in diesen Prozessen konstituierte UnternehmerInnenindivduen. Und zwar Individuen, die als UnternehmerInnen (ihrer selbst) konzipiert und somit auch für ihre soziale Sicherung selbst verantwortlich sind. Das ist ihre Freiheit, und die schafft der Staat gegenwärtig überall mit - und genau das erfasst Bauman nicht, wenn er im Staat die Hoffnung auf den Ausgleich sieht.

Ob deshalb aber alles verloren ist, bleibt auch bei Foucault unklar bzw. ungenau beschrieben. Einerseits macht er Freiheit als Teil des Sicherheitsdispositivs aus, andererseits will er aber Freiheit als Hoffnung und Praxis von Emanzipation nicht aufgeben.

Freiheit als Ideologie und Regierungstechnik, so Foucault (2004: 78) einerseits, sei «nur das Korrelat der Einsetzung von Sicherheitsdispositven». Das Sicherheitsdispositiv sei kennzeichnend für die westlichen Gegenwartsgesellschaften. Ein Dispositiv ist nach Foucault der Raum des in einer bestimmten historischen Situation Denkbaren (vgl. Foucault 1978: 120). Ganz im Einklang mit Boltanski/Chiapello sagt auch Foucault, erst «die Möglichkeit von Bewegung, Umstellung, Zirkulationsvorgängen» (2004: 78), die er als Freiheit bezeichnet, sei grundlegend für gegenwärtige Herrschaftstechniken, eben eine Dimension von Sicherheitsdispositiven. Andererseits allerdings ist aber eine Freiheit im Sinne Bakunins, Freiheit als die Befreiung von Zwang, Unterdrückung, Selbst-Knechtung und Disziplinierung, auch für Foucault nicht ganz vom Tisch. Freiheit, verstanden nicht als Zustand sondern als Praxis, ist für Foucault selbst in der Sicherheitsgesellschaft noch möglich. Obwohl er also Freiheit als eingebunden ins Sicherheitsdispositiv beschreibt, kann er sich an anderer Stelle eines geradezu bakuninistischen Tones nicht erwehren. So sagt Foucault in einem Gespräch: «Die Freiheit der Menschen wird niemals durch die Institutionen und Gesetze sichergestellt, die sie garantieren sollen. (...) Ich denke nicht, dass es jemals in der Struktur der Dinge etwas geben könnte, das die Ausübung der Freiheit garantiert. Die Garantie der Freiheit ist die Freiheit.» (zit. n. Lemke 1997: 311) «Freiheit», schreibt Bakunin, «kann nur durch Freiheit geschaffen werden» (Bakunin, zit. n. Cantzen 1995: 53). Bliebe noch die Frage offen: Wie?


Sicherheit zwischen Emanzipationsfaktor und Machttechnik

Während mit Foucault also über Praktiken der Freiheit gegen die Sicherheitsdispositive agiert werden könnte und auch Bauman die Freiheit gestärkt sehen möchte, setzen Boltanski/Chiapello ganz im Gegensatz dazu und in Konsequenz ihrer Ablehnung der KünstlerInnenkritik auf «Sicherheit als Emanzipationsfaktor» (2003: 508). Allerdings: Bauman möchte die Freiheit vor allem mit dem und durch den Staat stärken. Als konkretes Beispiel nennt er die Einführung eines Existenzgeldes, um die materiellen Voraussetzungen für demokratische Partizipation zu sichern (vgl. Bauman 2000). Das dürfte in etwa dem entsprechen, was Boltanski und Chiapello unter Sicherheit verstehen. Foucault hingegen, und das dürfte die Verwirrung komplettieren, hält das Problem des Staates überhaupt für überbewertet und für eine Abstraktion, «deren Bedeutung viel reduzierter ist, als man glaubt» (Foucault 2000a: 65).


Jens Kastner ist Kunsthistoriker und Soziologe und lebt in Wien



Anmerkungen:

(1) Der einzig denkbare Ort des Politischen scheint ihm dabei allerdings der republikanische Staat zu sein, dessen Machtverlust er beklagt. «Anstatt im Kampf gegen die Ungewißheit eine Front zu bilden, fallen praktisch alle wirksamen institutionalisierten Instanzen kollektiven Handelns in den neoliberalen Chor ein und stimmen das Loblied auf die ungebundenen Kräfte des Marktes 'und des freien Handels, der Hauptquellen existentieller Ungewißheit, als des Naturzustands der Menschheit' an» (Bauman 2000: 46f.). Kritisiert er einerseits zu Recht die Naturalisierung des Politischen durch die neoliberale Ideologie, gerät er mit der Parteinahme für den Staat in Widerspruch zu seinen eigenen, früher geäußerten Positionen (vgl. dazu Kastner 2007). Denn zu den theoretischen Schriften, die sich der hier beschworenen Einheitsfront gegen die Ungewissheit entgegengestellt haben, gehört sicher auch Baumans Hauptwerk Moderne und Ambivalenz - und das mit guten Gründen. Denn darin wird das moderne «Ziel der Gewißheit» als «ununterscheidbar vom Geist des Kreuzzugs und dem Projekt der Herrschaft» (Bauman 1995:283) geschildert, weil die Bemühungen für eine «bessere Ordnung» immer auch die Legitimation für terroristische Maßnahmen mitgeliefert hätten. All diese, von Bauman als typisch modern beschriebenen und kritisierten Versuche, gesellschaftliche Ordnung zu errichten, gründen auf dem Ansinnen, Ambivalenz abzuschaffen. Und sie sind in ihren Konsequenzen asymmetrisch, d.h. Ordnung produziert über Dichotomien immer auch Ungleichheit. «Ordnung zu schaffen und zu bewahren, bedeutet Freunde zu erwerben und Feinde zu bekämpfen. Zuerst und vor allem bedeutet es, sich von der Ambivalenz zu befreien. Im politischen Bereich bedeutet die Beseitigung der Ambivalenz, Fremde auszugrenzen und zu verbannen).)» (Bauman 1995:40). Angstabwehr gegen die Fremden/Barbaren war einer der Motoren des Modernisierungsprozesses und dessen, was Bauman als die Moderne beschreibt und kritisiert.


Literatur:

Bauman, Zygmunt 1995: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a. M. (Fischer Verlag).

Bauman, Zygmunt 1999: Freiheit und Sicherheit. Die unvollendete Geschichte einer stürmischen Beziehung; in: Anselm, Elisabeth, Aurelius Freytag, Walter Marschitz und Boris Marte (HgInnen.): Die neue Ordnung des Politischen. Die Herausforderungen der Demokratie am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./New York (Campus Verlag), S. 23-34.

Bauman, Zygmunt 2000: Die Krise der Politik. Fluch und Chance einer neuen Öffentlichkeit, Hamburg (Hamburger Edition).

Cantzen, Rolf 1995: Weniger Staat - Mehr Gesellschaft. Freiheit, Ökologie, Anarchismus, 2. Aufl., Grafenau (Trotzdem Verlag).

Boltanski, Luc und Ève Chiapello 2003: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz (UVK Verlag).

Foucault, Michel 1978: Mikrophysik der Macht, Berlin (Merve Verlag).

Foucault, Michel 2000a: Die «Gouvernementalität», in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (HgInnen.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag), S. 41-67.

Foucault, Michel 2000b: Staatsphobie, in: Bröckling, Ulrich, Susanne Krasmann und Lemke, Thomas (HgInnen.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag), S. 68-71.

Foucault, Michel 2004: Geschichte der Gouvernementalität 1. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag).

Kastner, Jens 2007: Existenzgeld statt Unsicherheit? Zygmunt Bauman und die Krise der Politik angesichts der neoliberalen Globalisierung, in: Junge, Matthias und Thomas Kron (Hg.): Zygmunt Bauman. Soziologie zwischen Postmoderne, Ethik und Gegenwartsdiagnose, Wiesbaden (Verlag für Sozialwissenschaften), 2. erw. Aufl., S. 201-227.

Lemke, Thomas 1997: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin/ Hamburg (Argument Verlag).

Sauer, Birgit 2005: Gewaltige Reformen - Neoliberalismus und Gewalt gegen Frauen, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Nr. 263, Berlin, 47. Jg., Heft 5/6 2005, S. 199-208.


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Quelle:
Archipel - Monatszeitung des Europäischen Bürgerforums
Nr. 169, März 2009, S. 2-5
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2009