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HEGEMONIE/1694: Die Zukunft Tunesiens ... ein Labor für gelenkte Demokratie? (SB)



Zwei Fragen bewegen die europäischen Beobachter der Rebellion in Tunesien. Welche oppositionellen Kräfte waren so wenig in das System des gestürzten Präsidenten Ben Ali eingebunden, daß sie einem glaubwürdigen Neuanfang Gesicht und Stimme geben könnten? Wird der Funke der Revolution auf die Bevölkerungen anderer despotisch regierter arabischer Staaten überspringen? Beide Fragen werden keineswegs in vorbehaltloser Freude über die nun anstehende Demokratisierung Tunesiens gestellt, vielmehr schwingt unüberhörbar die Sorge darüber mit, daß den EU-Regierungen die Kontrolle über Teile des Nahen und Mittleren Ostens entgleitet. Gerade weil der Bevölkerung des Landes etwas gelungen ist, was ihr viele westliche Sicherheitsexperten nicht zugetraut hätten, wird sie um so mißtrauischer hinsichtlich weiterer vielleicht noch zu erwartender Überraschungen beäugt.

Ein Paradebeispiel für die Ambivalenz, mit der die Entwicklung im Maghreb hierzulande beobachtet wird, lieferte der CDU-Politiker Joachim Hörster, Vorstandsmitglied der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft, im Deutschlandfunk ab. Auf die Frage des Moderators, ob Islamisten von der Öffnung des Landes profitieren könnten, antwortete er:

"Die könnten davon profitieren, weswegen ich auch zu einer gewissen Vorsicht rate bei der Beurteilung der Frage, gibt es alsbald Demokratie in Tunesien, oder gibt es das nicht. Natürlich ist Demokratie wünschenswert und das Ganze ist ja auch in dem Verhandlungskomplex Barcelona-Prozess zwischen der Europäischen Union und Tunesien angelegt, Demokratie ist die Zielsetzung, aber wir müssen auch achten, dass Demokratie auch so praktiziert wird, dass sie nicht nur der Einstieg ist für politische Kräfte, die dann wieder, wenn sie an der Macht sind, Demokratie abschaffen wollen, und dieses Risiko besteht in vielen arabischen Ländern übrigens." [1]

Nicht nur die gemäßigten Islamisten der En-Nahda-Bewegung, auch die Mitglieder der Kommunistischen Arbeiterpartei und der panarabischen Nasseristischen Bewegung wurden vom Regime Ben Alis massiv unterdrückt. Sie kommen mit ihren vielen politischen Gefangenen, die die Knäste des Landes bevölkern, am ehesten in die engere Wahl glaubwürdiger Oppositionskräfte. Die offiziell unter dem Titel der Opposition geführten Parteien und Gewerkschaften hingegen sind weitgehend diskreditiert, und daß nicht zuletzt aufgrund der Unterstützung des neoliberalen Strukturwandels, der die soziale Konfrontation in Tunesien verschärft hat. Als ernstzunehmende Kandidaten gegen den marktwirtschaftlichen Kurs einer neuen Administration kommen letztlich nur linke Kräfte in Frage, so daß es kein Zufall ist, daß man die Kommunistische Partei nicht zur Bildung einer Interimsregierung hinzugezogen hat.

Wollten die Tunesier ihre Situation entscheidend verbessern, dann können sie sich nicht damit zufrieden geben, eine künftige Regierung nur mit Parteien zu bilden, die den Demokratietest der EU, laut dem das Bekenntnis zur Marktwirtschaft Voraussetzung für ihre Anerkennung durch die europäischen Regierungen ist, besteht. Politisch unzuverlässig ist nicht, wer angeblich die Demokratie abschafft, sondern wer sich nicht den Maßgaben einer EU unterwirft, die deren Exponenten mit einer Demokratie gleichsetzen, die die bestehenden Verwertungsverhältnisse fortschreiben soll. Deren destruktives Potential zeigt nicht nur der Blick in den Irak und Afghanistan oder auf die von ökonomischer und ökologischer Verwüstung gezeichneten Auslagerungszonen kostengünstiger Ressourcensicherung und Arbeitsproduktivität westlicher Endverbraucher. Wenn der Politologe Guido Steinberg von der Forschungsgruppe Naher Osten und Afrika der regierungsnahen Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik zwar anerkennt, daß Tunesien "ein brutaler Polizeistaat" war, "wir" das jedoch "nicht so sehr wahrgenommen haben, weil es eben ein enger Verbündeter des Westens war" [2], dann ist das eine frappante Verharmlosung ganz normaler Macht- und Hegemonialpolitik. Bei dieser geht es nicht zuletzt, wie am Beispiel Ägyptens, Jordaniens und Marokkos besonders deutlich wird, um die Sicherung der Vormachtstellung Israels, das als geostrategischer Faktor westlicher Hegemonie für unentbehrlich gehalten wird.

Zu vergessen, daß EU und USA ausschließlich eigene Interessen verfolgten, als sie das gestürzte Regime weitreichend, unter anderem durch enge Zusammenarbeit mit seinem Repressionsapparat, unterstützten, bedeutete, die Rebellion nicht zum Ende zumindest im Sinne staatlicher Souveränität selbstbestimmter Verhältnisse zu führen. Darüberhinaus eine Verbesserung der sozialen Lage aller Bürger zu erreichen ist das eigentliche Anliegen der arabischen Bevölkerungen, von denen nun befürchtet wird, daß sie sich das Vorbild der Tunesier zu eigen machen. Aus Sicht der EU und USA steht daher die Verwirklichung einer gelenkten Demokratie in Tunesien auf dem Programm. Was als sozialtechnokratische, repressive und massenmediale Befriedungspraktiken in den westlichen Metropolengesellschaften nicht nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung, sondern zusehends auch gegen die konstitutionellen Grundlagen der repräsentativen Demokratie erprobt und perfektioniert wird, soll Pate stehen bei einer von außen kontrollierten Transformation, die den neokolonialistischen Status der europäischen Peripherie sichert.

Als Labor dieses Prozesses ist Tunesien aufgrund seiner sozialökonomischen und gesellschaftlichen Nähe zur westlichen Gesellschaftsentwicklung besonders geeignet. Wenn es gelingt, die für die Agenturen EU-europäischer Sicherheit offensichtlich überraschende Rebellion in die Bahnen einer Befriedung nach eigenem Vorbild zu lenken, dann lassen sich daraus im herrschaftstechnischen Sinne produktive Auswirkungen auf die anderen despotisch regierten Staaten der Region ableiten. Um so entschiedener sollte daher dem Versuch entgegengetreten werden, die Vasallen einer neokolonialistischen Ordnung des Mittelmeerraums an die Spitze der Bewegung zu stellen und den eben erst in Frage gestellten Frieden der Paläste zu restaurieren.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1366462/

[2] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1366830/

18. Januar 2011