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HEGEMONIE/1709: NATO-Kriegführung provoziert Flächenbrand im Mittelmeerraum (SB)



Alles das tun wir nur, um das Leben von Zivilisten zu schützen. Wie ein beschwörendes Bannritual gegen den Verdacht, in Libyen um weniger hehre Ziele Krieg zu führen, wird jede militärische Maßnahme der NATO mit der Behauptung legitimiert, es ginge doch um den Schutz wehrloser Menschen. Ob Militärberater zur taktischen und strategischen Optimierung des Vorgehens der Aufständischen entsandt werden, ob die zivile Infrastruktur zerstört wird, ob Angriffe auf Stellungen der libyschen Regierungstruppen in der Nähe von Zivilisten geflogen werden, ob die Führung des Landes direkt attackiert wird, stets ist die gleiche sinnentleerte Rhetorik des humanitären Interventionismus zu vernehmen.

Dessen immanente Logik besagt nichts geringeres, als daß zur Durchsetzung jener universalen Werte, die die NATO-Staaten für sich reklamieren, praktisch jedes Mittel recht ist. Die angestrebte Ermordung Mummar al-Gaddafis setzt, wenn sie denn kein Akt politischer Willkür sein soll, zu der sich die Wertegemeinschaft der NATO qua ihrer vertraglichen Grundlage nicht bekennen kann, neues Recht aus dem Handstreich heraus. Die Logik der Tat diktiert das Gesetz und nicht umgekehrt, was der NATO eine eminente Macht über die konstitutionellen Grundlagen staatlichen Handelns verleiht. Wie immer diese in ihrem Wortlaut verfaßt sein mögen, entscheidend ist die praktische Anwendung, die sich über den Nordatlantikvertrag, der die Handlungsfähigkeit der Militärallianz im Grundsatz verfügt, hinaus in diesem Fall auf die Mandatierung des UN-Sicherheitsrats und die R2P-Doktrin der UN-Generalversammlung beruft.

Jüngsten Informationen der New York Times zufolge sollen die Luftangriffe auf die administrativen Zentralen des libyschen Staates sogar noch verstärkt werden. Die erklärte Absicht der NATO, in Tripolis einen Regimewechsel herbeizuführen, um, wie zu erwähnen überflüssig sein sollte, Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden, wird nicht mehr nur über die Unterstützung der Aufständischen versucht. Für diese Partei zu ergreifen hat bei aller Bemittelung militärischer, logistischer und finanzieller Art nicht das erwartete Ergebnis eines schnellen Sieges erbracht. Schon zu Anfang der NATO-Intervention befanden sich die Regierungstruppen im Vormarsch gegen die Rebellen, so daß ein baldiges Ende des Bürgerkrieges möglich gewesen wäre. Nachdem die ostlibyschen Regierungsgegner dank der NATO-Unterstützung einige Erfolge erzielten, ist der von ihnen gemachte Gebietsgewinn nun wieder in Frage gestellt. Die Ankündigung der NATO, vermehrt Regierungsgebäude und Kommandostellen anzugreifen, der Einsatz von bewaffneten Drohnen nach dem Vorbild der US-Kriegführung in Pakistan, wo die CIA Mordanschläge auf angebliche Taliban begeht, und die Debatte um die Entsendung von Bodentruppen ist Ausdruck des Dilemmas einer Schützenhilfe, die allein aus der Luft vollzogen werden sollte.

Um sich nicht anlasten zu lassen, den Krieg in die Länge gezogen und der Zivilbevölkerung letztendlich sehr viel mehr geschadet zu haben, als es bei einem schnellen Sieg der libyschen Regierungstruppen der Fall gewesen wäre, steht die NATO unter verstärktem Erfolgsdruck. Zum einen verfällt die Gültigkeit des von ihren Regierungen ad hoc gesetzten Kriegsrechts bis zu dem zumindest theoretisch möglichen Punkt, daß die Bevölkerungen der NATO-Staaten aufwachen und gegen den Herrschaftsanspruch dieser virtuellen Militärdiktatur vorgehen. Zum andern muß die NATO ein negatives Urteil über ihre militärische Leistungsfähigkeit fürchten. Da sie kein Verteidigungsbündnis mehr ist, sondern den Anspruch auf kollektive Selbstverteidigung über die Entgrenzung des Konzepts präventiver Sicherheit zum realpolitischen Angriffspotential ausgebaut hat, ist es mit dem Vorhalten von Abschreckungspotentialen nicht mehr getan. Die "Vorwärtsverteidigung der Freiheit", so das Orwellsche Begriffskonstrukt George W. Bushs, das den Widerspruch zwischen vertraglichem Auftrag und machtpolitischem Handeln ideologisch brückt, bedarf des Beweises, daß sie die erklärten strategischen Ziele auch erreicht werden können. Ohne dies scheitert jedes Benchmarking, mit dem die NATO-Bürokratie der betriebswirtschaftlichen Logik ihres Selbstverständnisses als Gewaltdienstleister entspricht, an Underperformance.

Nachdem die NATO ihre durch das Ende der Sowjetunion vorübergehend in Frage gestellte Daseinsberechtigung mit Kriegseinsätzen auf dem westlichen Balkan erneuerte und dort aus eigener Kraft kaum lebensfähige, von organisierter Kriminalität und Korruption durchzogene Staatspartikel hinterließ, hat der durch sie erfolgende "Stabilitätsexport" nach Afghanistan ebenfalls dazu geführt, daß die auszuliefernde Ware einer neuen staatlichen Ordnung sich als Trümmerprodukt erwies. Das großspurige Projekt des Nation Building treibt die sozialökonomischen Widersprüche, die die Gesellschaften der NATO-Staaten selbst erschüttern, auf die Spitze der imperialistischen Hybris, anderen Bevölkerungen zu diktieren, woran sie zu genesen respektive zu vergehen haben.

Der nun in Nordafrika geführte Krieg unterscheidet sich von diesen Feldzügen insofern, als daß seine Vorbereitung in sehr viel kürzerer Zeit erfolgte. Getrieben durch den Kontrollverlust, den die politische Transformation der Region nach Jahrzehnten der Herrschaft westlicher Vasallenregimes erzeugt, und die Anmaßung der libyschen Regierung, mit der den westlichen Industriegesellschaften zustehenden Energieressource nach ihrem Gutdünken zu verfahren, ergriff man die Gelegenheit beim Schopf und schlug sich auf die Seite einer Erhebung, die den Vorbildern der Revolten in Tunesien und Ägypten desto weniger glich, als die Rebellen Anspruch auf die Ölrente anmeldeten, Waffen in die Hand nahmen und finanzielle Unterstützung von so demokratiebeflissenen Regimes wie dem Kuwaits, das ihnen 123 Millionen Euro spendete, erhielten.

Hier von einem Stellvertreterkrieg zu sprechen, in dem es im Kern um die Durchsetzung der EU-europäischen und US-amerikanischen Hegemonie geht, wird desto plausibler, als die Freiheit-und-Demokratie-Rhetorik der NATO-Regierungen von besorgten Stimmen gekontert wird, die befürchten, mit der Unterstützung der Rebellen eine ähnliche Entwicklung einzuleiten wie im Afghanistankrieg der 1980er Jahre. Dort hatten die USA Regierungsgegner finanziell und militärisch aufmunitioniert, die zwar erbitterte Feinde der sowjetischen Bündnispartner Kabuls waren, denen jedoch das westliche Gegenstück zum Sowjetkommunismus nicht weniger bekämpfenswert war.

So zweckdienlich und vordergründig die Dämonisierung Mummar al-Gaddafis durch westliche Politiker und Journalisten erscheint, so wenig ist der zerstörerische Charakter dieser Propaganda zu unterschätzen. Schon wird danach gefragt, warum die NATO es dem syrischen Autokraten Bashar al-Assad nicht in gleicher Münze wie seinem libyschen Pendant heimzahle. Zwar gibt es gewichtige Gründe dafür, Syrien nicht anzugreifen, - die Unterstützung seiner Regierung durch den NATO-Staat Türkei und durch Rußland, die engere Bindung Syriens an den Iran im Falle eines sich verzögernden Regimewechsels, die weitere Destabilisierung der Region durch eine islamistische Nachfolgeregierung in Damaskus -, doch wie im Falle Libyens vorgeführt, unterliegt die Eskalationsdynamik kriegerischer Konfliktentwicklung nicht immer dem planerischen Kalkül rationaler Strategen.

Wenn das so lange überfällige soziale Aufbegehren der Bevölkerungen des Nahen und Mittleren Ostens nicht in eine den NATO-Staaten genehme Neuordnung der Region mündet, was in Anbetracht der gewaltsamen Durchsetzung westlicher Hegemonialinteressen in ihr wahrscheinlich ist, dann bietet sich der Griff zur starken Medizin der "kreativen Zerstörung" an. Die Gefahr, daß die Verhältnisse in dem als geostrategische Peripherie der EU beanspruchten Mittelmeerraum durch einen zerstörerischen Flächenbrand reguliert werden könnten, wächst von Tag zu Tag. Die schonungslose Analyse und Kritik der EU-europäischen Beteiligung an diesem Zerstörungswerk, das in Form ökonomischer Ausbeutung und sozialer Verelendung längst im Gange ist, wäre mit dementsprechender Dringlichkeit zu leisten.

27. April 2011