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HEGEMONIE/1710: Sippenhaft für Gaddafi-Clan ... extralegaler Werteuniversalismus (SB)



Die hochmoralische Kriegführung der NATO funktioniert im Sinne ihres hegemonialen Interesses. Der Gegner, in diesem Fall der libysche Führer Muammar al-Gaddafi, wird umfassend dämonisiert, so daß seine anschließende Bekämpfung unter Einsatz aller Mittel erfolgen kann. Indem Angriffe nicht nur auf seine Person, sondern seine Familie erfolgen, werden alle Mitglieder seines Clans in Sippenhaft genommen. Das Böse treibt Früchte und rechtfertigt damit nicht nur extralegale Hinrichtung, sondern Ausrottungspraxis. Etwaige Etappen auf dem Weg zum Sieg wie die Rückkehr zu einer diplomatischen Konfliktlösung oder das Aufgreifen von Verhandlungsangeboten des Feindes werden übersprungen, was um so leichter fällt, weil er zur Persona non grata erklärt wurde und damit als Gesprächspartner ausfällt. Es gilt, mit einem Enthauptungsschlag Tatsachen zu schaffen. Angestrebt wird ein Regimewechsel und kein Waffenstillstand, der die Machtverhältnisse in Libyen unnötig verkomplizierte. Darin sind sich Rebellen und NATO-Regierungen einig. Erstere wollen Rache an Gaddafi nehmen, letztere wollen den Mann, mit dem man sich noch vor wenigen Monaten bei offiziellen Anlässen zeigen konnte, einfach nur los werden, um ihnen genehmere Verfügungsverhältnisse in Tripolis zu etablieren.

Dabei ergänzen sich die Ansprüche der Rebellen, einen größeren Teil der nationalen Ölrente auf sich vereinigen zu können, und der Vorwurf der NATO-Staaten, Gaddafi stehe ihren hegemonialen und energiepolitischen Ansprüchen in nicht ausreichendem Maße zu Gebote, auf ideale Weise. Wie in Jugoslawien und im Irak vorgeführt sollen auch in Libyen neue Statthalter an die Macht gebracht werden, die unter demokratischem Vorzeichen das nun erst recht um sich greifende Elend zu verwalten und die Bewirtschaftung der Ressourcen zu gewährleisten haben. Der soziale Absturz könnte gerade in diesem Fall beträchtlich sein, belegen die Sozialindikatoren doch, daß die Bevölkerung des Landes zu den ökonomisch privilegiertesten ganz Afrikas gehört [1].

Die soziale Frage darf jedoch in einem Krieg, dessen Betreiber sich anmaßen, ihn aus humanitären Gründen zu führen, keine Rolle spielen. Man will nicht zeigen, daß zerstört wird, was angeblich erst hergestellt werden soll, nämlich akzeptable Lebensbedingungen. Deren Zustandekommen wird ausschließlich nach Maßgabe des westlichen Demokratismus definiert, dessen neoliberale Konstitution unter der Herrschaft Gaddafis noch nicht so weitgehend durchgesetzt wurde, daß sich zur Despotie materielles Elend größeren Ausmaßes gesellte. Wie auch immer dessen Modell eines Volksstaats von außen beurteilt wird, die Libyer sollen nach diesem Krieg nicht mehr über seine Fortdauer befinden können. Die Transformation soll, wenn sie denn schon herbeigebombt werden muß, so total sein, wie es in Jugoslawien und im Irak der Fall war. Auch dort wurden letzte Reste sozialökonomischer Fortschritte auf dem Altar eines Werteuniversalismus geopfert, der in Folterknästen und bei Mordanschlägen nicht etwa sein wahres Gesicht, sondern sein inhärentes Funktionsprinzip zum Vorschein bringt.

Politische Moral ist Machtinteressen nachgeordnet, sonst bedürfte es ihrer nicht. Wo die Erfüllung grundlegender Erfordernisse und die Freiheit von Gewalt selbstverständlich wären, erwiese sich jede Moral als Versuch, diese Autonomie verfüg- und verwaltbar zu machen, sprich zu zerstören. Erst Teilbarkeit schafft den Ruf nach gerechter Verteilung, die der kapitalistischen Ökonomie nicht eigen ist und gerade deshalb ihre Wirkmächtigkeit ausmacht. Mangel ist der Brennstoff dieser Gesellschaftsordnung und legitimatorische Basis einer Herrschaft, die auf der Atomisierung der Subjekte basiert und Unrecht voraussetzt. In den Idealen politischer Moral scheint all das auf, was ihre Sachwalter nicht bewerkstelligen, sonst täten sie dies und begnügten sich nicht mit schönen Aussichten. Die Leerstelle des im bürgerlichen Werteuniversalismus vermeintlich Vollzogenen bringt die Bezichtigung konkreter Personen, daran Schuld zu sein, folgerichtig hervor.

Wenn eine mächtige Militärallianz mit profundem Eigeninteresse an der Verfügungsgewalt über Energieressourcen, an organisierter Menschenselektion zur Optimierung ihrer Produktivität und an hegemonialer Durchsetzung ihres Verwertungsmodells einen Staat angreift unter der Behauptung, es ginge ihr um das Wohl seiner Bevölkerung, dann bedient sie sich dieser Werte in ihrem projektiven, Herrschaft befestigenden Sinn. Glaubwürdig in Anspruch nehmen könnte sie diese Moral, einmal abgesehen von den vielen anderen Widersprüchen wie den Grausamkeiten, den ihre eigenen Truppen wie die ihrer Verbündeten in anderen Weltregionen begehen, nur in einem abstrakten, von jeglichem Verwertungsinteresse freien Sinne. Davon ist die NATO weit entfernt, doch eben dies beansprucht sie zu tun. Insofern kann man die Debatte, laut der die NATO ein Problem damit habe, moralische Glaubwürdigkeit und machtpolitisches Interesse ins Verhältnis zu setzen, getrost den Kriegsmedien überlassen.

1. Mai 2011