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HEGEMONIE/1807: Sozialunion für Herrenmenschen (SB)



Wolfgang Schäuble versteht sich auf den Trick, eine Win-Win-Situation ganz für sich alleine zu schaffen. Als habe die Bundeskanzlerin nicht genug tätige Reue in Form verschärfter Flüchtlingsabwehr für den Zustrom Geflüchteter 2015 abgelegt und die Festung Deutschland so zugleich zum Bollwerk gegen die aufstrebende AfD aufgebaut, bekannte der Bundesfinanzminister dieser Tage erneut, Fehler in der Flüchtlingspolitik gemacht zu haben. Was nicht wenige Menschen als humanitären Akt mit Vorzeigecharakter lobten, war für den CDU-Politiker etwas, das schlicht "aus dem Ruder gelaufen ist" [1]. Wenn man schon Fehler mache, dann wolle man wenigstens daraus lernen, gelobte er im Büßergewand und präsentierte sogleich das Ergebnis der Selbstkasteiung.

Eine Angleichung der Sozialstandards in der EU wäre nicht schlecht, überlegte Schäuble im Gespräch mit der Welt am Sonntag laut, nicht zuletzt, um die Flüchtlinge besser auf die verschiedenen EU-Staaten verteilen zu können. Daß Krieg und Not entronnene Menschen vor allem deshalb in die Bundesrepublik wollen, weil dort ein hoher Standard an sozialen Leistungen herrsche, wie Schäuble mutmaßt, ist, selbst wenn es in den meisten Fällen so wäre, nur zu verständlich. Was allen, die schon einmal existentiellen Mangel und Angst vor physischer Gewalt hatten, als ganz selbstverständlicher menschlicher Reflex einleuchtet, ist Schäuble und seiner Klientel nichts als ein Ärgernis. Warum mit anderen Menschen teilen, wenn man doch selbst schon genug damit zu tun hat, die überflüssigen Pfunde von den Rippen zu bekommen?

Mit der nun von ihm vorgeschlagenen Fehlerkorrektur legt der Minister einmal mehr sein ganzes machiavellistisches Genie an den Tag. Anstatt die Flüchtlinge einem aufwendigen Überprüfungsprozeß zu unterziehen und die nicht Anspruchsberechtigten auf mühsame Weise wieder loszuwerden, wäre es doch viel einfacher, das vermeintliche Ziel ihrer Wünsche, in den Genuß angeblich hoher Sozialleistungen zu kommen, zu beseitigen: "Wenn wir uns das nicht mehr leisten wollen, dann müssen wir gucken, ob wir mit den anderen EU-Ländern auf einen gemeinsamen, einheitlichen Sozialstandard kommen. Bisher ist das in Deutschland ein Tabu."

Schäuble kann den mutigen Tabubrecher allein deshalb mimen, weil er sich einer ganz anders gemeinten, meist von linken Politikerinnen erhobenen Forderung bedient. Die EU nicht nur als Wirtschafts-, sondern auch als Sozialunion zu konzipieren hätte von vornherein verhindert, daß die deutsche Exportmacht die südeuropäischen Mitgliedstaaten zu einer inneren Abwertung durch massive soziale Verelendung nötigen konnte. In einer Sozialunion hätte keine Erpressung überschuldeter, durch den Euro der Möglichkeit einer währungstechnischen Kompensation aufgelaufener Leistungsbilanzdefizite verlustig gegangener Staaten erfolgen können, weil man Sozialausgaben nicht mehr selektiv hätte kürzen können.

Wenn Schäuble als einer der vorrangigen Architekten der zum finanzpolitischen Schuldturm verkommenen EU eine Angleichung der Sozialstandards zum Zwecke optimierter Flüchtlingsabwehr vorschlägt, dann kann er damit nur eine Nivellierung der unterschiedlichen Sozialleistungen auf niedrigster Ebene meinen. Sie ginge nicht nur zu Lasten derjenigen, die die angeblich hohen Sozialstandards der Bundesrepublik genießen, könnten sich die Flüchtlinge doch auch für die die niedrigeren Sozialstandards in Spanien interessieren, so daß diese konsequenterweise nach unten angeglichen werden müßten. Was aus deutscher Binnensicht wie eine ausgemachte soziale Grausamkeit erscheinen muß, wird in der Lesart der Unionsparteien respektive der AfD zu einer sozialstrategischen Maßnahme, die selbst denjenigen ihrer Wähler einleuchtet, die von ihr betroffen wären. Sozialleistungen weiter absenken, um das immer schmaler werdende Brot nicht mit anderen Hungerleidern teilen zu müssen - wie könnte ein sozialdarwinistisches Argument besser in ein Werkzeug der Klassenherrschaft verwandelt werden als unter freiwilliger Unterwerfung derjenigen unter seine Zwangslogik, die sowieso nur bei der Stange fremdnütziger Interessen gehalten werden können, indem ihr Blick strikt auf diejenigen gelenkt wird, denen es noch schlechter geht?

Eine Sozialunion nach Schäubles Rezeptur verallgemeinerte Mangel und Elend in einem Ausmaß, das staatsautoritären Maßnahmen und rechtsradikalen Forderungen vollends Tür und Tor öffnete. Indem sich unter dem Vorwand der Flüchtlingsabwehr Akzeptanz für eine sozialfeindliche Politik erwirtschaften läßt, die ansonsten als Zerstörung eigener Lebensperspektiven und Schutzgarantien wahrgenommen würde, zeigt sich einmal mehr, wie bereitwillig sich die sozial schwache Klientel rechter Demagogen und Volkstribune zur Schlachtbank jener Herren führen läßt, denen sie eben noch aus der Hand gefressen hat.


Fußnote:

[1] http://www.heute.de/wolfgang-schaeuble-gesteht-erneut-fehler-in-der-fluechtlingspolitik-ein-46432304.html

1. Februar 2017


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