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HEGEMONIE/1839: Grenzkonflikt der Großmächte in Europa mit Zigtausenden Toten ... (SB)



Ein Plasmaball, heißer als die Sonne - alles innerhalb eines Radius von zwei Kilometern verdampft im Bruchteil einer Sekunde. Die bei der Explosion der Bombe freigesetzte Hitze entzündet brennbares Material im Umkreis von 13 Kilometern, also einer Fläche von 500 Quadratkilometern. Die hochgradig erhitzte und verdichtete Luft dehnt sich mit Überschallgeschwindigkeit explosionsartig aus. Diese Druckwelle reißt alles nieder bis auf massive Stahlstrukturen. Auf einer Fläche von ungefähr 175 Quadratkilometern bleibt kein Gebäude stehen, Menschen werden unter ihnen begraben oder wie Staubkörner im Sturm davon geweht. Noch in 21 Kilometern Entfernung vom Explosionsort kann es geschehen, dass das Anschauen des unglaublichen Geschehens tödliche Folgen hat, weil die nun auch dort eintreffende Druckwelle Fenster bersten lässt und einen Blizzard von Glassplittern erzeugt.

Ein aus Staub, Asche und strahlenden Partikeln gebildeter Atompilz steigt in den nächsten Minuten kilometerweit in den Himmel. Der dabei entstehende Unterdruck zieht schlagartig frischen Sauerstoff an, der das Zerstörungswerk in Gegenrichtung vollendet und die Brände weiter anfacht. Nun sinken die radioaktiven Partikel der Explosionswolke wieder zu Boden und verurteilen viele, die sie einatmen, innerhalb weniger Tage zu einem quälenden Strahlentod. Dieser Effekt wird möglicherweise verstärkt durch radioaktiv verseuchten Regen, der die in der Atmosphäre verteilte Asche aufnimmt und alle kontaminiert, die mit ihm in Berührung kommen.

Je nach Dichte der Besiedlung sind Hunderttausende oder gar Millionen der den Atomangriff überlebenden Menschen verletzt und sterben in den nächsten Tagen aufgrund der vollständig zusammengebrochenen medizinischen Infrastruktur. Viele sind zumindest temporär erblindet, weil sie im Moment der Explosion hingeschaut haben, oder durch die Druckwelle taub geworden, und irren desorientiert umher. Auf einen atomaren Angriff, dessen Folgen schlimmer sind als mehrere gleichzeitig eintretende Naturkatastrophen, gibt es keine humanitäre Antwort - die Bombe schafft eine Todeszone, in der die Menschen tage- und wochenlang auf sich selbst gestellt sind, also auch an sekundären Folgen wie Wassermangel und Unterversorgung sterben.

Dieses modellhafte Szenario, entnommen einer Visualisierung des öffentlich-rechtlichen Jugendsenders funk [1], geht von den Auswirkungen der größten US-amerikanischen Atombombe, einer B 83 mit 1,3 Megatonnen TNT Sprengwirkung, aus, die im oder über dem Zentrum einer Großstadt gezündet wird. In einem Atomkrieg ist jedoch hoch wahrscheinlich, dass es nicht bei einer einzigen nuklearen Detonation bleibt, sondern es zu Dutzenden Atomangriffen auf die Städte und urbanen Großräume der Konfliktparteien kommt. Das wiederum hätte nicht nur den Tod von vielen Millionen Menschen zur Folge, sondern längerfristige Auswirkungen auf das Weltklima, das stark abkühlte und einen schwerwiegenden Einbruch in der globalen Lebensmittelversorgung bewirkte.

Wir wurden geboren
Geboren in den Fünfzigern (...)

Meine Mutter weinte
Als Präsident Kennedy starb
Sie sagte es waren die Kommunisten
Aber ich wusste es besser.

Würden sie die Bombe auf uns abwerfen
Während wir uns am Strand liebten?
Wir waren die Klasse, die sie nicht unterrichten konnten,
Weil wir es besser wussten

The Police - Born In The 50's (1978) [2]


Vom Fulda Gap nach Ramstein

In den 60er und 70er Jahren im Schatten stets möglicher atomarer Massenvernichtung aufgewachsen war die ultimative Katastrophe permanent präsent und dadurch abwesend - die Gefahr war so normal wie die tägliche Mahlzeit. Westeuropa sollte Aufmarschfeld sein, die Fulda-Gap der Punkt des strategischen Durchbruchs einer Roten Armee, deren Soldaten begierig darauf warteten, die vom Marschieren erschöpften Füße im Atlantik erfrischen zu können. Osthessen war ein atomares Schlachtfeld im Wartestand, plante die NATO doch, einen sowjetischen Angriff mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen zu beantworten. Der Weg zur Rhein-Main Air Base in Frankfurt, dem logistischen Zentrum der US-Truppen in der BRD, war kurz, und es ist kein Zufall, dass das Treffen der mehr als 40 Kriegsminister zur Unterstützung der Ukraine am 26. April auf der Ramstein Air Base nahe Kaiserslautern stattfand.

Wo nach der Schließung der Rhein-Main Air Base 2005 das Hauptquartier der United States Air Forces in Europe und Air Forces Africa sowie das Allied Air Command der NATO - also das logistische Zentrum eines Atomkrieges in Europa - angesiedelt wurde, hatte Verteidigungsminister Lloyd Austin öffentlich erklärt, dass es den USA darum gehe, Russland wegen seiner "ungerechten" Invasion - um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass Aggressionen der NATO "gerecht" sind - nachhaltig zu schwächen. Da Austin auch beim angekündigten Ziel, diesen Krieg siegreich zu beenden, in der ersten Person sprach, war offiziell ausgesprochen, dass die USA und damit die NATO Kriegspartei sind.

Siegen ohne Rücksicht auf Verluste an Menschenleben war schon vor 50 Jahren ein Thema für die NATO. Die Rote Armee hatte mit ihren Landstreitkräften im Vorstoß nach Westen den deutschen Faschismus besiegt und galt im Bereich konventioneller Streitkräfte als hocheffizient, so dass zumindest der Eindruck erweckt wurde, Bundeswehr, US-Armee und NATO-Verbündete hätten einem von der Grenze der DDR aus vorgetragenen sowjetischen Angriff wenig entgegenzusetzen. Ein solcher Fall hätte die in der Fulda Gap lebenden Menschen pulverisiert und die idyllischen Landschaften Osthessens mit ihren alten Fachwerkhäusern, Obststreuwiesen und bewaldeten Höhen in ein nukleares Inferno verwandelt. Das Sperrfeuer taktischer Atomwaffen, die innerhalb von 90 Minuten 114 Zielpunkte in der Fulda Gap praktisch flächendeckend vernichten sollten, hätte eine verstrahlte Wüste hinterlassen.

Den jungen Wehrpflichtigen der US Army, die in den Parks der hessischen Städte die Pfeifen kreisen ließen und sich stets über Gesellschaft deutscher Jugendlicher freuten, war dieses Schreckensszenario kaum weniger verhasst als jener Minderheit der potentiell davon betroffenen Bevölkerung, die sich nicht von der Stahlhelm-Fraktion des hessischen Ministerpräsidenten Alfred Dregger vertreten fühlte. Kontakte mit jungen GIs, die schon im Alter von 17 Jahren ihre erste Tour of Duty im Vietnamkrieg hinter sich hatten, gaben ihren deutschen AltersgenossInnen Einblicke in eine Realität, die nur entschiedenen Widerstand gegen Militarismus und Krieg erzeugen konnte. "Unsere amerikanischen Freunde" waren ansonsten bei der einheimischen Bevölkerung so wenig wohl gelitten, dass zumindest den Mannschaftsdienstgraden, unter denen sich auch viele schwarze GIs befanden, vor manchen Discos und Restaurants das ablehnende Schild "Off Limits" entgegen prangte.

Die Fulda Gap hatte Hessen zu einem wichtigen Aktionsfeld der Antikriegsbewegung in der BRD gemacht, wie eine Aktion 1983 zeigte, als AktivistInnen rund 200 Sprengkammern auf Straßen und Brücken im Osten des Bundeslandes durch ihr Auffüllen mit Beton unbrauchbar machten. Sie sollten im Ernstfall neben konventionellen Sprengkörpern mit sogenannten Atomminen befüllt werden, von denen mindestens 300 Stück zum schnellen Einsatz vorrätig gehalten wurden. In den frühen 1980er Jahren gingen Millionen Menschen gegen den NATO-Doppelbeschluss, der die Vorwarnzeit für die Sowjetunion bei einem Angriff atomar bewaffneter US-amerikanischer Mittelstreckenraketen Pershing II und Cruise Missiles auf ein gefährliches Minimum reduziert hätte, in der BRD auf die Straße. In Hessen wurden Militärdepots der US-Streitkräfte durch NachrüstungsgegnerInnen blockiert, und noch 1986 protestierten 200.000 Menschen gegen die Stationierung von Marschflugkörpern mit Atomsprengköpfen im Hunsrück.

Der 1983 präsentierte Plan des US-Präsidenten Ronald Reagan, das Territorium seines Landes im Rahmen der Strategic Defense Initiative (SDI) für Atomangriffe unangreifbar zu machen, konnte zwar nicht realisiert werden, aber aus damaliger Sicht spitzte sich alles auf einen Atomkrieg in Mitteleuropa zu. An das Ausmaß der Mobilisierung der Friedensbewegung vor vier Jahrzehnten, an der auch ein Olaf Scholz teil hatte, konnte seitdem keine pazifistische oder antimilitaristische Bewegung mehr anknüpfen. Ganz im Gegenteil, die zu einem Gutteil aus der Friedensbewegung dieser Jahre entstandene Partei der Grünen gehört heute zur Speerspitze deutschen Großmachtstrebens, nicht etwa im Gewand eines NS-gesättigten Revanchismus, sondern eines Werteuniversalismus, der der selektiven Moral derjenigen unterliegt, die die Kommandohöhe eines neuen, als durchaus wohlwollend präsentierten Imperialismus besetzt haben.

Sieg oder Niederlage? So heißt die Losung des herrschenden Militarismus in jedem der kriegführenden Länder, und so haben sie, wie ein Echo, die sozialdemokratischen Führer übernommen. Um Sieg oder Niederlage auf dem Schlachtfelde soll es sich jetzt nur noch auch für die Proletarier Deutschlands wie Frankreichs, Englands wie Rußlands handeln, genau so wie für die herrschenden Klassen dieser Länder. Sobald die Kanonen donnern, soll jedes Proletariat am Siege des eigenen, also an der Niederlage der anderen Länder interessiert sein.
Rosa Luxemburg - Die Krise der Sozialdemokratie VIII (1916) [3]


Es darf wieder gesiegt werden

Wenn Außenministerin Annalena Baerbock erklärt, ihre Partei stehe "auf den Schultern Joschka Fischers", dann meint sie damit die von ihm angestoßene Militarisierung deutscher Schuld im Kampf gegen neue Autokraten zum angeblichen Zwecke der Verhinderung eines neuen Auschwitz. Ob Jugoslawien 1999 oder Ukraine 2022, Deutschland steht auf der Seite des gerechten Krieges und rehabilitiert sich dabei höchst wirksam von historischen Vergehen, die im Angesicht russischer Aggression auf das Format einer lässlichen, durchaus verzeihlichen Sünde zu schrumpfen scheinen. Mit dem Verbot des Zeigens sowjetischer Fahnen zum Tag der Befreiung vom Faschismus bei den Gedenkfeierlichkeiten am 8. Mai in Berlin werden die Sowjetunion und Russland in eins gesetzt, womit die Brücke zur Exkulpation des NS-Regimes in seinen genozidalen Ambitionen beim Griff nach der eurasischen Landmasse geschlagen wird.

Die Russische Föderation ist jedoch nicht mit der Sowjetunion gleichzusetzen, auch wenn sie als größte staatliche Entität nach deren Auflösung 1991 so erscheinen mag. Völkerrechtlich gilt die RF aufgrund der von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken übernommenen Anerkennung der mit ihr geschlossenen Verträge als Fortsetzerstaat der UdSSR. Von den 15 aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten verfügt die RF über das mit Abstand größte Territorium und weist neben 80 Prozent als RussInnen definierter BürgerInnen rund 100 weitere Ethnien mit entsprechender Sprachvielfalt auf. Verwaltungstechnisch verfügt die RF über 85 Föderationssubjekte von ganz unterschiedlicher Größe und verschiedenem administrativen Status.

Die Russischen Streitkräfte sind nicht die Rote Armee, erst recht dann nicht, wenn sie Krieg führen gegen eine frühere Republik der Sowjetunion. Der Angriff auf die Ukraine ist ein völkerrechtswidriger Krieg, daran ändert auch der Verweis auf den seit 2014 im Donbass zwischen der Ukraine und den beiden sezessionistischen "Volksrepubliken" Lugansk und Donezk geführten Krieg nichts. Wäre es um deren Verteidigung gegen Übergriffe der ukrainischen Streitkräfte gegangen, dann hätte die Besetzung ihrer Gebiete durch die russischen Streitkräfte und den gegnerischen Angriffen adäquate militärische Reaktionen diesen Zweck erfüllt. Statt dessen jedoch wurde die Ukraine von mehreren Seiten aus angegriffen, und das mit ganz unterschiedlichen Begründungen, die von der Negation des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Föderationssubjekte der UdSSR über die "Denazifizierung" der Ukraine bis zur offensiven Verteidigung der regionalen Hegemonie Russlands gegen die expansive Strategie der NATO reichen.

Diese genauer zu untersuchen ist zum einen für das Einschätzen der Möglichkeit einer atomaren Eskalation des Krieges relevant, die mit der zunehmenden Intervention der NATO in den Konflikt nicht weniger wahrscheinlich wird. Was in deren Mitgliedstaaten gerne heruntergespielt wird, um das fortwährende Austesten roter Linien des Kreml legitimieren zu können, ist für viele Menschen Anlass zu großer Sorge. Die seitens der russischen Führung in Anschlag gebrachten Kriegsgründe vermitteln einen Eindruck davon, dass die atomare Bedrohung vielleicht größer als vermutet ist, weisen diese doch ihrerseits ein Ausmaß an nationaler Kränkung auf, die die rational kaum mehr aufzuklärende Grauzone potentieller Handlungsoptionen noch mehr verdunkelt.

Im Vorfeld dieses Krieges hat die NATO viel dafür getan, dass sich in Russland ein nationaler Revanchismus aufbauen konnte, der mit der Instrumentalisierung des Versailler Vertrags zum Schüren nationalchauvinistischer Ressentiments in der Zwischenkriegszeit in Deutschland durch Nationalkonservative und Nationalsozialisten zwar nicht gleichzusetzen ist, aber ähnliche Züge aus Vergeltungsabsicht schöpfender Mobilisierung aufweist. Dieser historischen Signatur hat sich der Bundeskanzler in seiner Rede am 13. Mai bedient, als er erklärte, keinen "Diktatfrieden" für die Ukraine zu akzeptieren. Indem er einen wohlbekannten Terminus aus dem Arsenal des deutschen Revanchismus und des damit von Hitler legitimierten Zweiten Weltkriegs gegen das heutige Russland in Stellung bringt, signalisiert er, dass ein Kriegsende zu Bedingungen Russlands den Widerstand in der Ukraine verlängerte, also die bestehende Konstellation inklusive eines Kriegseintritts der NATO unverändert ließe.

Tatsächlich gilt gerade auch in diesem Krieg, dass seine Beendigung ohne Eskalation bis zur Kapitulation allen Seiten abverlangte, Abstriche von ihren Kriegszielen zu machen. Da die NATO einen Sieg der Ukraine zu ihrem Ziel erklärt hat, müssten ihre Regierungen Abstand von den bisher bezogenen Positionen nehmen. Danach sieht es nicht aus, wenn der Eindruck stimmt, dass zumindest einige Regierungen in der NATO den Zeitpunkt für gekommen halten, Russland entscheidend zu schwächen und als Hindernis bei der viel bedeutsameren Konfrontation mit China zu beseitigen.

Der Premierminister Großbritanniens, dessen Regierung sich als aggressivster Akteur auf Seiten der NATO zu erkennen gegeben hat, könnte dafür verantwortlich sein, dass die zuvor einer Einigung mit dem Angreifer nicht abgeneigte Ukraine nach seinem Überraschungsbesuch in Kiew am 9. April eine deutlich weniger kompromissbereite Haltung eingenommen hat. Die Times hatte schon am 4. April einen Berater Johnsons zitiert, der sich Sorgen um ein allzu schnelles Ende der Kämpfe machte. Dies solle erst geschehen, wenn die Ukraine "in der stärkstmöglichen Position" sei - sprich den strategischen Gewinn der NATO eingefahren habe, schreibt Jörg Kronauer in der jungen Welt.

Zum andern bietet der Blick auf die am häufigsten genannten Kriegsgründe Anhaltspunkte dafür, ob die Bewertung zutrifft, dass Russland Ziel einer westlichen Offensive sei, in der sich die Grundlinien der Blockkonfrontation reproduzierten. Dass eine monokausale Deutung des Konflikts, der als Folge einer geopolitischen Konfrontation zwischen Staaten quasi systemtheoretisch zu regulieren sei, auf der Ebene "internationaler Politik" und damit eines Herrschaftsdiskurses verbleibt, entspricht dem kritiklosen Umgang mit dem Begriff der Diplomatie. Miteinander zu reden ist besser als aufeinander zu schießen, doch ein Ausgleich staatlicher Interessen auf dem Feld einer imperialen Aufteilung der Welt kann lediglich eine Notlösung vor dem Hintergrund dessen sein, die materiellen und sozialen Voraussetzungen des Staatenkrieges aufzuheben.

Demgegenüber wird die Bedeutung sozialer Kämpfe und linker Befreiungsbewegungen für den Widerstand gegen Kapitalismus und Kolonialismus, Patriarchat und Militarisierung, gegen den Ausbau menschenfeindlicher Grenzen und die existenzbedrohende Zerstörung natürlicher Lebensvoraussetzungen gezielt ausblendet. Die Fragmentierung einer Restlinken, die bereits in den Auseinandersetzungen um die Frage, wie weitgehend staatliche Intervention zur Pandemiebekämpfung akzeptabel sei, arg dezimiert wurde, negiert mit der jeweiligen Parteinahme für NATO oder Russland den Kampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten, so dass von sozialrevolutionären Aufbrüchen in diesen Zusammenhängen keine Rede mehr sein kann.

Der Imperialismus mit all seiner brutalen Gewaltpolitik und Kette unaufhörlicher sozialer Katastrophen, die er provoziert, ist freilich für die herrschenden Klassen der heutigen kapitalistischen Welt eine historische Notwendigkeit. Nichts wäre verhängnisvoller, als wenn sich das Proletariat selbst aus dem jetzigen Weltkriege die geringste Illusion und Hoffnung auf die Möglichkeit einer idyllischen und friedlichen Weiterentwicklung des Kapitalismus retten würde. Aber der Schluß, der aus der geschichtlichen Notwendigkeit des Imperialismus für die proletarische Politik folgt, ist nicht, daß sie vor dem Imperialismus kapitulieren muß, um sich fortab in seinem Schatten vom Gnadenknochen seiner Siege zu nähren.
Rosa Luxemburg - Die Krise der Sozialdemokratie VIII (1916) [4]


Kriegsmotiv Geopolitik

Die expansive Strategie der NATO ist ein einleuchtendes Motiv für die Offensive, in die der Kreml mit dem Angriff auf die Ukraine zu kommen versuchte, auch wenn es den völkerrechtswidrigen Charakter dieses Krieges nicht aus der Welt schafft. Die ihrerseits illegalen Angriffskriege von NATO-Staaten wie insbesondere der USA zur Blaupause russischer Kriegsstrategie zu machen ist ein bestenfalls legalistisches Manöver - den einen Rechtsbruch mit dem anderen zu rechtfertigen führt weiter in den Abgrund entfesselter militärischer Gewalt, weshalb revanchistische Kriege aus internationalistischer Sicht stets abgelehnt wurden.

Zwar haben der historische Internationalismus und die Blockfreienbewegung bei der Verhinderung imperialistischer Kriege nur begrenzten Erfolg gehabt, ansonsten wäre es kaum zu einer Neuauflage der Frontlinie des Kalten Krieges gekommen, die vor dem Horizont angestrebter sozialer Befreiung nur als Scheitern aller damit verbundener Kämpfe und Mühen zu verstehen ist. In den Trümmern verwehter Hoffnungen die Position einzunehmen, dass der Feind meines Freundes mein Feind sei, und sich dabei auf einer Seite der Gleichung imperialer Ambitionen einzufinden, fordert zur Unterwerfung unter ideologische Staatsapparate auf, die nicht über sich hinausweisen können, weil sie die kapitalistische Wertabstraktion als prinzipiellen Modus der Reproduktion akzeptiert haben.

Der russische Versuch, den Angriffskrieg als antikolonialistisches oder antifaschistisches Projekt zu verkaufen, scheitert unter anderem daran, dass die Russische Föderation kein sozialistischer Staat ist, dessen Existenz von der NATO im Kampf gegen seine revolutionären Energien negiert wird, und dass sie kein kolonisiertes Gebiet ist, auf dem ein Befreiungskrieg gegen Okkupatoren geführt wird. Ganz im Gegenteil, zumindest im Fall Tschetscheniens hat die russische Führung zwei Kolonialkriege gegen eine nationale Entität der Sowjetunion geführt.

Die geopolitische Herausforderung der RF besteht vor allem darin, dass die strategische Parität zwischen den NATO-Staaten und der Sowjetunion im Kalten Krieg spätestens seit deren Ende 1991 systematisch zugunsten ersterer revidiert wurde. Unter US-Präsident Bill Clinton wurden die Aufgaben der U.S. Arms Control and Disarmament Agency (ACDA) in andere Regierungsbehörden integriert, was mit einer Schwächung ihrer zentralen Aufgabe der Rüstungskontrolle auch bei Atomwaffen einherging. Sein Nachfolger George W. Bush kündigte 2001 einseitig den 1972 zwischen den USA und der Sowjetunion abgeschlossenen Anti Ballistic Missile Treaty auf, ein zentraler Pfeiler gegenseitiger Rüstungskontrolle, der das atomare Eskalationsrisiko erheblich gesenkt hatte, angeblich um sich gegen Interkontinentalraketen von Drittstaaten schützen zu können. Russlands Präsident Wladimir Putin, damals noch um Integration in westliche Bündnissysteme bemüht, gestand zu, dass russische Sicherheitsinteressen davon nicht berührt seien.

US-Präsident Barack Obama betrieb die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen in Polen und Rumänien, was die im Kalten Krieg gültige Doktrin gegenseitiger Abschreckung (Mutual Assured Destruction) weiter schwächte, weil damit die Gefahr eines Erstschlags gegen russische Atomwaffen wuchs, da die Zweitschlagkapazität Russlands zumindest geschwächt worden wäre. Da die operative Logik von Atomwaffen vom maximalen strategischen Gewinn, ihrem erfolgreichen Einsatz zur Ausschaltung adäquater Gegenmaßnahmen, geleitet wird, ist jede Maßnahme, die das Potential eines solchen "Enthauptungsschlages" vergrößert, als besonders brisante Form der Eskalation zu betrachten.

All das ging mit der Osterweiterung der NATO an die Grenzen der Russischen Föderation und weiterer Offensivmaßnahmen wie der Formulierung einer Präventivkriegsdoktrin und der Aufrüstung der Atomdoktrin durch die US-Regierung, der Avancen der NATO in Richtung Ukraine und Georgien als auch der Unterstützung von Umsturzbewegungen in ehemaligen Sowjetrepubliken durch den Westen einher. Schon zuvor war die Anpassung des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag), die nach der Auflösung des Warschauer Paktes erforderlich geworden war, an der Weigerung der NATO, das Rüstungskontrollabkommen zu ratifizieren, gescheitert.

US-Präsident Donald Trump schließlich kündigte 2019 den zwischen den USA und der Sowjetunion 1987 unterzeichneten INF-Vertrag, der die Vernichtung aller landgestützten Flugkörper mit mittlerer und kürzerer Reichweite vorsah und deshalb besonders für die Verhinderung eines Atomkriegs in Europa wichtig war, einseitig auf. Zwar waren dem Vorwürfe vorausgegangen, Russland habe den Vertrag durch die Produktion eines neuen Marschflugkörpers verletzt, aber derartige Differenzen waren in der Geschichte der Rüstungskontrollabkommen des Kalten Krieges aufgrund der Strategie beider Seiten, jede nur mögliche Vertragslücke auszunutzen, die Regel gegenseitiger Herausforderung. Zudem wurden auf Schiffen der US Navy in Rumänien und Polen atomwaffentaugliche Raketensysteme stationiert, die ebenfalls von Ramstein aus eingesetzt werden.

Erst vor wenigen Monaten wurde in Wiesbaden das 56. Artillerie-Kommando reaktiviert, dem die gesamte US-Artillerie in Europa und Afrika unterstellt ist. Es war aufgrund des INF-Vertrags außer Kraft gesetzt worden und kommandiert nun auch atomwaffenfähige Trägersysteme. Im Fall einer atomaren Eskalation wären alle Standorte in Deutschland mit strategischen Waffen vorrangige Ziele russischer Angriffe, also auch die im Rahmen der nuklearen Teilhabe eingesetzten Flugzeuge und Fliegerhorste der Bundeswehr. Auch heute wäre die Bundesrepublik ein primäres Schlachtfeld eines atomaren Schagabtausches.

Im Rückblick ist es angemessen zu behaupten, dass die Sowjetunion respektive die Erbin ihrer Atomwaffen, die Russische Föderation, insgesamt eher defensiv agiert hat, während NATO und USA eine auf vielen strategischen Ebenen expansive und aggressive Hegemonialpolitik betrieben. Der geostrategische Einfluss Russlands wurde nach Kräften unterminiert, was durch einzelne Offensiven wie im Georgienkrieg 2008 nicht wirklich gekontert werden konnte. Ausgetragen wurde die Auseinandersetzung um Einflusssphären auch im Mittleren Osten, insbesondere bei der Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran durch die Trump-Regierung und das Eingreifen Russlands in den Syrienkrieg.

Selbst ein Kalter Krieger wie Henry Kissinger, der Wladimir Putin über 20 Mal auf sicherheitspolitischen Veranstaltungen begegnet ist, attestiert dem russischen Präsidenten im Gespräch mit der Financial Times am 9. Mai, aufgrund der Absorption des mittelosteuropäischen Raums nach dem Ende der Sowjetunion durch das westliche Militärbündnis zutiefst herausgefordert zu sein. Damit wolle Kissinger nicht den russischen Angriff auf ein als souverän anerkanntes Land rechtfertigen, aber die Bedrohung Russlands durch die NATO ist für diesen erfahrenen Geostrategen allemal gegeben. Derart fast schon trivial zu nennende Einsichten in die veränderten geopolitischen Konstellationen nach 1991 werden in deutschen Medien nicht selten als Verschwörungsnarrativ gebrandmarkt. Wer es besser weiß, wenn solche Behauptungen verbreitet werden, wird auch an anderer Stelle nicht mehr ohne weiteres für bare Münze nehmen, was auf den Bildschirmen oder Zeitungsseiten steht, so dass die Agenturen vorherrschender Konsensproduktion nicht über Legitimationsverluste wie etwa niedrige Wahlbeteiligungen oder die inflationäre Verbreitung sogenannter Fake News erstaunt sein können.

Allein die andauernde Existenz der NATO nach dem erklärten Ende der Blockkonfrontation und der Auflösung der Sowjetunion kann als Herausforderung an die Adresse der geschwächten Gegenseite verstanden werden. Die Möglichkeit der Etablierung einer europäischen Sicherheitsarchitektur, von Russland unter anderem 2008 als Vorschlag unterbreitet, hätte jedoch zu einer Kooperation insbesondere zwischen der Bundesrepublik und der RF führen können, die den globalen Führungsanspruch der USA in Frage gestellt hätte. Deren Sicherheitsdoktrin, jegliches Streben eines Staates oder Staatenbündnisses, zur hegemonialen und militärischen Stärke der USA aufzuwachsen, zu verhindern, ist maßgeblich für das Torpedieren jeder Entwicklung in diese Richtung verantwortlich.

Auch wenn die theoretische Möglichkeit eines Ausgleichs zwischen Russland und der EU wünschenswert ist, so sorgt das Konfliktpotential imperialistischer Konkurrenz zuverlässig dafür, dass ein dauerhafter Frieden nicht der Paläste, sondern der Hütten unter kapitalistischem Vorzeichen ausgeschlossen bleibt. Warum wurde der ukrainische Präsident Janukowitsch dazu genötigt, sich zwischen einem EU-Assoziierungsabkommen und einem Zollabkommen mit Russland zu entscheiden, anstatt eine Lösung zu finden, in der die Ukraine eine produktive Brückenfunktion zwischen beiden Einflusssphären hätte einnehmen können? "Weil der Kapitalismus den Krieg in sich trägt wie die Wolke den Regen", wie der französische Sozialist Jean Jaurès schon vor dem Ersten Weltkrieg zu warnen wusste.

Der Verweis auf das Interesse Russlands, sich vor allem mit den Führungsmächten der EU zu arrangieren, so noch im Dezember 2021 in einem Verhandlungsangebot des Kreml über eine gegenseitige Sicherheitsarchitektur vorgeschlagen, ist so berechtigt wie folgenlos unter den Bedingungen einer Staatspraxis, die hegemoniale Kontrolle über Rohstofflieferungen, Handelsbeziehungen, Finanzmärkte und Bevölkerungen anstrebt und so jeden Versuch, den globalen Flächenbrand zu löschen, sabotiert.

Für bürgerlich-liberale Ökonomen und Politiker sind Eisenbahnen, schwedische Zündhölzer, Straßenkanalisation und Kaufhäuser Fortschritt und Kultur. An sich sind jene Werke, auf die primitiven Zustände gepfropft, weder Kultur noch Fortschritt, denn sie werden mit einem jähen wirtschaftlichen und kulturellen Ruin der Völker erkauft, die den ganzen Jammer und alle Schrecken zweier Zeitalter: der traditionellen naturalwirtschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und der modernsten raffiniertesten kapitalistischen Ausbeutung, auf einmal auszukosten haben.
Rosa Luxemburg - Die Krise der Sozialdemokratie VIII (1916) [5]


Patriotische Mobilisierung statt sozialer Widerstand

Zur Politik des Kreml gegenüber den sezessionistischen Republiken Donezk und Lugansk erklärt der marxistische Ökonom Boris Kagarlitzky, Koordinator des Transnational Institute Global Crisis Projects und Direktor des Moskauer Institute of Globalization and Social Movements (IGSO) im Interview mit der US-Journalistin Rhania Khalek [6], dass Russland sich seit der Abspaltung dieser ukrainischen Territorien von der Zentraladministration in Kiew wenig Mühe gegeben habe, die Unabhängigkeitsbestrebungen der sogenannten Volksrepubliken zu unterstützen. Russlands Präsident Putin habe 2014 sogar verhindert, die damals verteidigungslose Hafenstadt Mariupol in die sezessionistischen Territorien zu integrieren, um zu verhindern, dass diese über einen von Russland unabhängigen Hafen verfügten.

Kagarlitzky hält den Interventionsgrund eines Schutzes der Bevölkerung der Donbass-Republiken für vorgeschoben und sieht die wesentlichen Gründe für das Umschalten des Kreml auf Kriegsmodus in den innenpolitischen Zerrüttungen und sozialen Widersprüchen, unter denen Russland leide. Er bestätigt die geopolitische Herausforderung der RF durch die NATO, macht jedoch das Scheitern des neoliberalen Akkumulationsregimes in Russland und die dauerhafte Armut vieler Menschen hauptsächlich verantwortlich für den Entschluss der Regierung, diesen Krieg zu beginnen. Wirtschaftlich befinde sich das Land in der Zange zwischen technologischer Rückständigkeit und ökonomischer Abhängigkeit von Drittstaaten, was sogar die Überlegenheit der Russischen Streitkräfte in der Ukraine in Frage stelle. Seiner Ansicht nach stehe die russische Führung nach dem Scheitern der ersten Angriffswelle vor der Wahl, den Krieg durch Verhandlungen beizulegen oder die atomare Apokalypse zu riskieren, so Kagarlitzky in seinem vermutlich jüngsten Artikel [7].

Die Unbeliebtheit der Regierung und ihrer Bürokratie wie aller Oligarchen habe so sehr zugenommen, dass die Wahlen zur Staatsduma im September letzten Jahres womöglich die letzten gewesen seien, die ohne den Ausbruch aufstandsartiger Unruhen durchgeführt werden konnten, berichtet Kagarlitzky im Interview mit Rhania Khalek. Es habe zahlreiche Fälle von Wahlfälschungen gegeben, was den Unmut in der Bevölkerung weiter angefacht habe. Der sozialistische Aktivist wurde im September 2021 aufgrund von ihm initiierter Proteste gegen die Wahlfälschungen zu 10 Tagen Haft verurteilt. Anfang Mai 2022 wurde er auf die Liste der "ausländischen Agenten" gesetzt.

Das dazugehörige Gesetz wurde 2012 verabschiedet, um Nichtregierungsorganisationen, die aus dem Ausland finanziert werden, intensiver staatlicher Kontrolle zu unterwerfen. Im Dezember 2019 wurde es auf Einzelpersonen erweitert. Für alle davon Betroffenen gilt, dass jegliche Veröffentlichung auch in sozialen Medien mit einem Haftungsausschluss versehen werden muss, der diesen, in der Sowjetunion auf DissidentInnen angewandten Status dokumentiert. Zudem sind "ausländische Agenten" verpflichtet, halbjährliche Berichte zu ihren finanziellen wie zivilgesellschaftlichen Aktivitäten bei den Behörden einzureichen. Vor allem jedoch haftet dem Begriffspaar das Stigma unpatriotischer und subversiver Gesinnung an, so fand es in der Sowjetunion Verwendung.

Auch die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die bei den Duma-Wahlen mit fast 19 Prozent der ausgezählten Stimmen auf Platz 2 kam, beklagte sich über Wahlbetrug. Sie war bei der vorläufigen Auszählung mit fast 25 Prozent gehandelt worden, doch ihrer Ansicht nach wurde das Ergebnis über Nacht künstlich unter die Schwelle von 20 Prozent gedrückt, was KPRF-AktivistInnen mit Protesten quittierten, bei denen es zu Festnahmen kam. Der Versuch der Partei, nach dem Einreichen einer Klage wegen Wahlbetrugs weitere juristische Schritte zu veranlassen, wurde von der Polizei verhindert, was sie allerdings nicht daran hindert, einem Burgfrieden zuzustimmen und den Kriegskurs der Regierung zu unterstützen.

Das ist offensichtlich eine pragmatische Entscheidung der KPRF-Führung, die laut Boris Kagarlitzky stets zu reformistischer Politik neigt, während die Basis sich zusehends radikalisiere. Überall dort, wo die KPRF in den Regionen radikalere Forderungen erhebe, sei sie für 25 bis 30 Prozent der Stimmen gut, was ihr in einigen Gebieten der RF die Mehrheit gegenüber der Regierungspartei Einiges Russland einbrachte. Vor einem Jahr hatte Kagarlitzky im Gespräch [8] mit der indischen Politikwissenschaftlerin und Präsidentin der Society for Socialist Studies, Radhika Desai, angekündigt, am Schmieden eines großen landesweiten Bündnisses der außerparlamentarischen Linken beteiligt zu sein, an dessen Formierung sich auch dissidente KPRF-AktivistInnen, GewerkschafterInnen und andere linksradikale Kräfte beteiligten. Dabei gehe es weniger um Wahlen als darum, Basisbewegungen des Protestes und der Selbstorganisation zum Erreichen langfristiger Ziele zu formieren, was unter Kriegsbedingungen kaum noch möglich sein dürfte.

Hass und Krieg
Sind alles was wir heute haben
Und wenn ich die Augen schließe
Verschwindet es nicht
Du musst damit umgehen
Es ist die Währung
Hass, Hass, Hass, der Hass einer Nation
Eine Million Meilen weit weg von zuhause

The Clash - Hate & War (1977) [9]


Kriegsmotiv "Denazifizierung"

Der erklärte Angriffsgrund der "Denazifizierung" der Ukraine ist in besonderer Weise dazu geeignet, die vom Kreml beanspruchte Legitimität seiner Kriegsgründe zu erschüttern. Indem nicht allgemein gegen den Faschismus zu Felde gezogen wird, sondern Nazis die politischen Bedingungen in der Ukraine diktieren sollen, verwendet die russische Regierung einen spezifisch für den deutschen Nationalsozialismus stehenden Begriff. Naheliegenderweise soll damit die Analogie zum Verteidigungskrieg gegen den Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion gezogen werden, was strukturelle Berührungspunkte zwischen der eigenen Staatsdoktrin und den Unterdrückungsmaßnahmen des NS-Regimes eigentlich ausschließen müsste.

Da der Anspruch auf "Denazifizierung" an die Entnazifizierungspolitik der BRD erinnert, die bekanntlich krachend gescheitert ist, ist die Fallhöhe dieses Projektes hoch. Schon ein Blick auf die in Russland vorherrschenden Geschlechterpolitiken zeigt, dass dort sehr viel nachzubessern wäre, um nicht die gleichen Fehler zu begehen, die auf diesem Feld in der Bundesrepublik darin bestanden, die patriarchale und homophobe Politik des NS-Regimes im strafrechtlichen Bereich weitgehend unverändert fortzusetzen. Nicht nur auf diesem Feld hatte die DDR sehr viel entschlossener den Bruch mit der deutschen Vergangenheit vollzogen.

Für die Verfolgung schwuler Männer, aber auch die Diskriminierung lesbischer Frauen wurde im NS-Staat institutionell Vorsorge betrieben. Zum einen strafrechtlich durch die Verschärfung des Paragraphen 175 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB), demzufolge seit 1935 schon begehrliche Blicke unter Männern strafbar waren. Dies führte zur Inhaftierung von mindestens 10.000 als homosexuell stigmatisierter Männer in Konzentrationslagern, wo ihre sexuelle Orientierung mit einem rosa Winkel kenntlich gemacht wurde. Sie waren zum Teil in Massenaktionen verhaftet worden, und über die Hälfte der inhaftierten Schwulen überlebte das Lager nicht. 1936 wurde die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung eingerichtet. Diese vor allem von Heinrich Himmler vorangetriebene Politik mündete 1941 in einen "Erlaß des Führers zur Reinhaltung von SS und Polizei", der die Todesstrafe für schwule Aktivitäten der Angehörigen dieser Gewaltorgane vorsah.

Ein wesentlicher Wegbereiter für die Schwulenverfolgung im NS-Staat war der sogenannte Röhm-Putsch am 1. Juli 1934, als bis zu 200 Mitglieder der SA-Führung in einem Machtkampf handstreichartig ermordet wurden. Der hauptsächlich dafür verantwortliche Reichsführer-SS Himmler begründete dies unter anderem mit dem zersetzenden Einfluss der Homosexualität auf den Staat, der den Nazis als Domäne des Mannes galt.

In Russland wurde die gesellschaftlich weithin verbreitete Homophobie 2013 mit dem Gesetz gegen "Propaganda von Homosexualität" institutionalisiert. Es verbietet Informations- und Aufklärungsarbeit zu gleichgeschlechtlicher Sexualität unter Minderjährigen und setzt alle von heterosexueller Binarität abweichenden Orientierungen mit Pädophilie gleich. In Folge dieses Gesetzes sind öffentliche Veranstaltungen und Meinungsäußerungen wie CSD-Demos nur noch unter großen Schwierigkeiten abzuhalten. Homo-, trans- und interphobe Gewalt ist weitverbreitet, und die Betroffenen haben bei der Polizei schlechte Karten, auf eine unvoreingenommene Behandlung ihrer Rechtsansprüche zu hoffen.

Vor allem jedoch wurde der Kampf gegen die Rechte von LGBTI-Menschen schon vor dem Angriff auf die Ukraine auf das Niveau eines Kulturkrieges gehoben, handle es sich bei der Liberalisierung des sexuellen Strafrechtes doch um eine Waffe des Westens, mit der die eigene Gesellschaft zersetzt werden soll. Eine zentrale Rolle dabei spielt die Russisch-Orthdoxe Kirche und ihr Patriarch Kyrill I. Er hat den Angriff auf die Ukraine quasi zu einem metaphysischen Krieg gegen die Sünde und das Böse erklärt, womit er lediglich bekräftigt, was er zum Thema nicht heterosexueller Beziehungen seit jeher zu sagen hat, so etwa, dass die Ehe für alle zur Apokalypse führe.

Witali Milonow, Duma-Abgeordneter der Regierungspartei Einiges Russland, ist Co-Moderator einer landesweit ausgestrahlten TV-Show namens "Ich bin nicht schwul". Schon sein Einmarsch, in dem er sich wie ein Boxer auf einen Fight vorzubereiten scheint, gefolgt von mehreren Frauen in Bikinis, auf einer Schulter schwingt ein Baseball-Schläger, teilt mit, dass hier jemand zum Schwulenklatschen aufbricht. Im Gegenschnitt ein sportlich-attraktiver Mann in Badehose, der unter den bewundernden Blicken anderer Männer einen Strand entlanggeht. Im Mittelpunkt der Show steht ein Eliminationstest, bei dem die männlichen Kandidaten mit leichtbekleideten Frauen und Männern konfrontiert werden, um anhand ihrer Reaktionen herauszufinden, wer schwul ist und wer nicht.

Die Show macht zudem klar, dass Frauen zu nichts anderem dienen als Männern zu Gefallen zu sein. Homophobie und Antifeminismus gehen Hand in Hand, was die Würdigung russischer Frauen am 8. Mai vor allem auf ihre klassische Rolle als Hausfrau und Mutter reduziert. Da Wladimir Putin behauptet, dass Transsexualität einem "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" nahekomme, stellt er sich umstandslos hinter die homophobe Politik seiner Regierung. Seine in diesem Zusammenhang getätigte Äußerung, der Westen wolle "aggressiv" die eigene Geschichte auslöschen, indem er eine Politik der "Diskriminierung gegen die Mehrheit im Interesse von Minderheiten" betreibe, negiert denn auch jegliche Antidiskriminierungspolitik, die stets dem Schutz von Minderheiten galt, bevor sie mit dem rechtspopulistischen Argument einer dadurch diskriminierten Mehrheit und Männlichkeit gekontert wurde.

Die auch von einigen sich links verortenden, vor allem aber populistisch zu Werke gehenden PolitikerInnen in Deutschland erhobene Klage, die Stärkung diskriminierter Minderheiten schade den einfachen Lohnabhängigen und damit der Linken überhaupt, betrifft auch Gruppen wie Behinderte oder anderweitig benachteiligte Menschen. Dieser reaktionären Rhetorik liegt der neoliberale Primat der Eigenverantwortung und eine biologistisch verankerte Leistungsdoktrin zugrunde, wie sie sich auch im affirmativen Umgang mit dem Begriff der "Chancengerechtigkeit" spiegelt [10].

Die Instrumentalisierung von Antidiskriminierungspolitik als Ausweis fortschrittlicher Gesinnung zwecks Legitimation kapitalistischer Klassenherrschaft wird im Diskurs um sogenannte Identitätspolitik häufig mit den dabei vertretenen Gleichheitsrechten in einen Topf geworfen, als habe das eine mit dem andern ursächlich etwas zu tun. Wer gegen den Regenbogenkapitalismus kämpft und für queere Befreiung eintritt, gerät damit kaum anders als LGBTI-AktivistInnen in Russland unter die Räder eines puritanischen Ideologiediktates, das keiner Differenzierung mehr offen steht, weil die Welt in Schwarz und Weiß am leichtesten zu ordnen ist. Im Endeffekt arbeiten solche Verallgemeinerungen einer biologistischen Weltsicht zu, bei der die angebliche Natürlichkeit heterosexueller Reproduktion und die "Ehrlichkeit" des echten Arbeiters und Mannes Hand in Hand gehen.

In Russland wurden schon vor Kriegsbeginn am 24. Februar immer mehr Organisationen und AktivistInnen der LGBTI-Bewegung zu "ausländischen Agenten" erklärt. Seit Beginn der Angriffe jedoch hat deren Verfolgung eine neue Qualität harter Repression angenommen, so dass etwa alle MitarbeiterInnen der LGBTI-Organisation Wychod das Land verlassen und sich an einem unbekannten Ort niedergelassen haben, von wo aus sie ihre Arbeit fortsetzen wollen.

Zu den vor dem NS-Regime aus Deutschland fliehenden Menschen haben auch Schwule und Lesben gehört. Sie mussten sich unter fremden Bedingungen zurechtfinden, wenn sie überhaupt ein Gastland fanden, das sie aufnahm, und waren auch dort häufig von Diskriminierung betroffen. Strukturelle und administrative Homo-, Trans- und Interphobie wie in Russland gibt es in vielen Ländern der Welt, doch dort wird nicht unbedingt behauptet, auf Basis dieser Ausgrenzungspraxis einen antifaschistischen Kampf zu führen. Auch wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Ukraine für nicht heterosexuelle Minderheiten nur wenig besser als in Russland sind, was etwa die Schwierigkeiten von Transfrauen betrifft, das Land zu verlassen, hätten diese doch nichts von einer "Denazifizierung", mit der ihre Ausgrenzung und Unterdrückung fortgeschrieben würde.


Gesinnungsstreit auf nach unten offener Bezichtigungsskala

Der gegen die Ukraine erhobene Vorwurf, unter dem Einfluss rechtsradikaler Kräfte zu stehen, wird von den einen mit dem Argument entkräftet, dass die Präsenz rechtsradikaler Parteien im Parlament marginal sei und ein jüdischer Präsident mit einer vom Widerstand gegen die Okkupation des Landes durch Hitlerdeutschland geprägten Familiengeschichte einem solchen Urteil widerspreche. Andere führen die Präsenz rechtsradikaler Milizen und ihre Integration in die ukrainischen Streitkräfte als Beleg für die Stichhaltigkeit des Vorwurfes an und verweisen auf die auch staatsoffiziell unterstützte Heroisierung des Faschisten Stepan Bandera, der an der Ermordung Tausender sowjetischer Juden mitschuldig war.

Die dabei auch ins Feld geführte Behauptung, in der Ukraine habe es besonders viel Kollaboration mit den NS-Besatzern gegeben, trifft zwar auf diejenigen 250.000 Ukrainer zu, die für Zwecke der deutschen Eroberer für Polizei und Wehrmacht rekrutiert wurden, ignoriert aber jene 4,5 Millionen UkrainerInnen, die in der Roten Armee kämpften und dort rund 40 Prozent des gesamten Truppenbestands stellten. Den ukrainischen RotarmistInnen wurde unter den Republiken der Sowjetunion ein überdurchschnittlich hoher Blutzoll bei der Verteidigung des Landes gegen die deutsche Aggression abverlangt. Analog zum Vorwurf einer spezifischen Nazi-Vergangenheit der Ukraine könnte behauptet werden, dass die rund 100.000 Soldaten umfassende Russische Befreiungsarmee ROA, die unter dem Kommando des 1942 von den Deutschen gefangen genommenen Generalleutnants der Roten Armee Andrei Andrejewitsch Wlassow stand und auf der Seite der Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpfte, eine NS-Vergangenheit Russlands konstituiere.

Zum Stand nationalistischer bis rechtsradikaler Mobilisierung in der Ukraine erklärte der Soziologe Wolodymyr Ischtschenko, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, noch am 17. Februar 2022 kurz vor Kriegsbeginn auf die Frage des Jacobin-Magazins nach dem Einfluss rechtsextremer Kräfte auf die Politik des Landes:

Die radikalen Nationalisten spielen in der ukrainischen Politik eine bedeutende Rolle. Einerseits üben sie direkten Druck auf die Regierung aus, andererseits verbreiten sie ihre Narrative. Wenn man sich die politischen Maßnahmen der Post-Maidan-Regierung ansieht, tragen sie die Handschrift der radikal-nationalistischen Parteien insbesondere, was die Dekommunisierung angeht, also unter anderem das Verbot der Kommunistischen Partei der Ukraine, und die Ukrainisierung, also die Verdrängung der russischen Sprache aus dem öffentlichen Raum. Vieles, wofür die Rechtsextremen vor dem Maidan gekämpft haben, wurde anschließend von nominell nicht rechtsextremen Parteien umgesetzt.

Nationalistische Radikalisierung eignet sich gut, um zu kompensieren, dass wirklich revolutionäre Veränderungen nach dem Maidan ausgeblieben sind. Durch ideologische Umwälzungen wenn man zum Beispiel Straßen umbenennt, alle sowjetischen Symbole entfernt, die Lenin-Statuen abbaut, die in vielen ukrainischen Städten standen, erzeugt man den Anschein eines Wandels, ohne dass sich tatsächlich etwas zugunsten der Bevölkerung verändert.

Die meisten relevanten Parteien sind in Wirklichkeit Wahlkampfmaschinen für bestimmte patronistisch-klientelistische Netzwerke. Ideologien sind dabei weitestgehend irrelevant. Viele Politikerinnen und Politiker sind im Laufe ihrer Karriere mehrmals zwischen entgegengesetzten Lagern hin und her gewechselt.

Die radikal-nationalistischen Parteien hingegen haben eine Ideologie, sie haben motivierte Aktivistinnen und Aktivisten und sind im Moment wahrscheinlich die einzigen Parteien im eigentlichen Sinne. Sie bilden den am besten organisierten, am stärksten mobilisierten Teil der Zivilgesellschaft und haben die größte Straßenpräsenz. Und nach 2014 haben sie auch Mittel zur Gewaltanwendung bekommen: Sie hatten nun die Möglichkeit, bewaffnete Einheiten und ein Netzwerk von Ausbildungszentren, Sommercamps, Cafés und Zeitschriften aufzubauen.

Eine solche rechte Infrastruktur gibt es vielleicht in keinem anderen europäischen Land. Sie erinnert mehr an den Rechtsextremismus der 1930er Jahre als an die heutige rechtsextreme Politik in Europa, die sich nicht so sehr auf paramilitärische Gewalt stützt, sondern sich eher darauf konzentriert, einen recht breiten Teil der Wählerschaft zu gewinnen. [11]

Wo der starke Zulauf militanter Rechtsradikaler aus ganz Europa seit 2014 in die Ukraine die Bürgerkriegsgefahr in ihren Herkunftsländern ähnlich wie die rechtsradikalen Milizen in den USA steigert, ist das Problem ohnehin nicht auf dieses Land zu begrenzen, sondern offenkundig auch eines der EU-Staaten. Wieso aber gibt sich ein so erfahrener Diplomat wie der russische Außenminister Sergej Lawrow die Blöße, begründetermaßen des Antisemitismus bezichtigt zu werden? Er hatte im Interview mit einem italienischen Sender auf die Frage, wie Russland eine Ukraine entnazifizieren wolle, dessen Präsident Wolodymyr Selenskyj selber Jude sei, geantwortet, dass er darin keinen Widerspruch sehe. Anstatt darauf zu verweisen, dass der ethnisch-religiöse Hintergrund eines Staatschefs keinen Aufschluss über die Gesinnung vieler Millionen StaatsbürgerInnen geben müsse, griff Lawrow ins Arsenal einer "Rassenlehre", die dieses soziale Konstrukt mit Vererbungsargumenten naturalisiert.

Seine Mutmaßung, er könne sich zwar irren, aber Hitler habe auch jüdisches Blut gehabt, ist allein aufgrund des Aufrufens einer qua Genetik vererbten Zugehörigkeit zu einer ethnisch-religiösen Gruppe, die damit biologistisch separiert und kollektiv anhand spezifischer Merkmale identifizierbar gemacht wird, was ihrer Stigmatisierung Tür und Tor öffnet, schlichtweg rassistisch. 2010 hatte der Rechtspopulist Thilo Sarrazin mit dem Phantasma eines genetisch identifizierbaren Judentums Furore gemacht und war dementsprechend scharf auch von der bürgerlichen Presse kritisiert worden, obwohl er damit eine biologistisch begründete Höherwertigkeit unterstellte. Indem Lawrow zudem geltend machte, es sei eine von Juden selbst vertretene Behauptung, "dass die eifrigsten Antisemiten in der Regel Juden sind", griff er auf den antisemitischen Mythos zurück, die Judenverfolgung sei selbst ein Produkt jüdischer oder zionistischer Propaganda etwa zu dem Zweck, sich in eine politisch vorteilhafte Opferrolle zu begeben. So haltlos und kontraproduktiv war diese Äußerung, dass sich Präsident Putin zu einer Entschuldigung bei Israels Ministerpräsident Naftali Bennett genötigt sah, um weiteren Schaden von den Beziehungen zu seinem Land abzuwenden.

Der Verdacht, auf diese Weise habe Lawrow versucht, Punkte bei Rechtsradikalen in aller Welt zu machen, erscheint von daher begründet, als diese besonders kampfstarke Klientel unter den AnhängerInnen faschistischer Ermächtigung nicht nur auf der Seite ukrainischer Milizen kämpfen, sondern Sympathien für alle ideologischen Staatsapparate hegen, die autoritäre Formen des Regierens, weiße Suprematie, völkische Integration, patriarchale Herrschaft und eine apologetische Form des Christentums zur Durchsetzung europäischer Kulturmacht favorisieren. Mehreren Berichten zufolge soll der Angriff Russlands auf die Ukraine unter den rechtsradikalen AktivistInnen in Westeuropa Zweifel darüber gesät haben, ob die etwa unter den "Freien Sachsen" bislang dominierende Orientierung auf die rechten Inhalte und Akteure russischer Politik weiterhin Sinn mache. Auf jeden Fall scheint die extrem rechte Gruppe "Dritter Weg" mit der Parteinahme für die Ukraine und der Entsendung von Kämpfern zur Unterstützung des Asow-Regiments einen Trend zu setzen, der erklären könnte, wieso Lawrow das Platzieren einer solchen Provokation für notwendig befunden haben mag.

Kurz gesagt, Rechtsradikale gibt es in Russland wie der Ukraine, und die Frage, inwiefern sie den Kurs der jeweiligen Regierung beeinflussen, ist letztlich situativ und strategisch bestimmt. So ist nicht klar, inwieweit ein Präsident Selenskyj dafür verantwortlich zu machen ist, dass sein Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, sich positiv über das rechtsradikale Asow-Regiment äußert, indem er auf Twitter bittet, diese "mutigen Kämpfer" nicht weiter "zu dämonisieren". Als der ukrainische Generalkonsul in Hamburg, Wassil Maruschinetz, 2015 einen Post auf Facebook veröffentlichte, in dem er die Parole "Ruhm der Ukraine! Tod den Antifaschisten!" ausgab, war Melnyk bereits Botschafter der Ukraine in Deutschland. 2013 hatte der Konsul gepostet, dass die Juden Deutschland 1934 den Krieg erklärt hätten. 2018 wurde der Faschist, von dem auch Bilder mit Hitlergruß im Netz kursieren, vom Dienst suspendiert, gehörte also trotz dieser Stellungnahmen jahrelang in der Bundesrepublik dem diplomatischen Corps an.

Deshalb muß der Internationalismus seitens der unterdrückenden oder sogenannten "großen" Nation (...) darin bestehen, nicht nur die formale Gleichheit der Nationen zu beachten, sondern auch solch eine Ungleichheit anzuerkennen, die seitens der unterdrückenden Nation, der großen Nation, jene Ungleichheit aufwiegt, die sich faktisch im Leben ergibt.
W. I. Lenin - Zur Frage der Nationalitäten oder der "Autonomisierung" (1922) [12]


Geschichtspolitik und Kollektivschuld

All das kann keinen Krieg rechtfertigen, und eben das tut die russische Führung mit der Behauptung, die Ukraine "denazifizieren" zu wollen. Was mit diesem Begriff gemeint ist, wurde am 4. April in einem Text des Politikberaters Timofei Sergeitsev spezifiziert. Der Artikel wurde auf der Seite der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti publiziert und wird aufgrund dessen, dass dort auch die offiziellen Verlautbarungen des Kreml veröffentlicht werden, wie des professionellen Status seines Verfassers - er arbeitete unter anderem für die ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma und Viktor Janukowitsch - als halboffizielle Stellungnahme gehandelt. Der deutschen Übersetzung lag die englische Version des Textes vor, die wiederum aus dem Russischen übersetzt wurde.

Selbst wenn bei der Diktion des Textes Abstriche aufgrund der parteilichen, zur Zerstörung Russlands aufrufenden Übersetzerin gemacht werden könnte, ist der Inhalt so schwerwiegend, dass eine offizielle Bestätigung von Regierungen der NATO-Staaten, dort seien die genuinen Absichten der russischen Führung ausgewiesen, nichts als eine weitere Eskalation der Feindseligkeiten zwischen NATO und Russland zur Folge haben könnte. Wünschenswert wäre eine Distanzierung des Kreml von diesem Text, zu der es bislang nicht gekommen zu sein scheint. An dieser Stelle sollen nur einige der angekündigten exekutiven Maßnahmen referenziert werden, weil diese Wasser auf die Mühlen all derjenigen sind, die das Ergreifen drastischer Maßnahmen wie eines offiziellen Eintritts der NATO in diesen Krieg befürworten.

Die Nazis, die zu den Waffen griffen, sollten auf dem Schlachtfeld so weit wie möglich vernichtet werden. Zwischen den Streitkräften der Ukraine und den so genannten nationalen Bataillonen sowie der Territorialverteidigung, die sich diesen beiden Arten von militärischen Formationen angeschlossen haben, sollte kein wesentlicher Unterschied gemacht werden. Sie alle sind gleichermaßen an extremer Grausamkeit gegen die Zivilbevölkerung beteiligt, gleichermaßen schuldig am Völkermord am russischen Volk und halten sich nicht an die Gesetze und Regeln des Krieges. Kriegsverbrecher und aktive Nazis sollten exemplarisch und drastisch bestraft werden. Es muss eine totale Säuberung geben. Alle Organisationen, die sich mit der Ausübung des Nazitums verbunden haben, sind zu liquidieren und zu verbieten. Zusätzlich zu den oben genannten Personen ist jedoch auch ein großer Teil der Massen, die passiven Nazis, Komplizen des Nationalsozialismus, schuldig. Sie haben die Nazi-Regierung unterstützt und geduldet. Die gerechte Bestrafung dieses Teils der Bevölkerung ist nur möglich, wenn er die unvermeidlichen Härten eines gerechten Krieges gegen das Nazisystem erträgt, der so vorsichtig und umsichtig wie möglich gegenüber der Zivilbevölkerung geführt wird. (...)

Der kollektive Westen selbst ist der Entwickler, die Quelle und der Sponsor des ukrainischen Nationalsozialismus, während die westlichen Bandera-Kader und ihr historisches Gedächtnis nur eines der Werkzeuge für die Nazifizierung der Ukraine sind. Der Ukronazismus stellt keine geringere, sondern eine größere Bedrohung für die Welt und Russland dar als der deutsche Nationalsozialismus in der Hitler-Version. (...)

Der Ukrainismus ist eine künstliche antirussische Konstruktion, die keinen eigenen zivilisatorischen Inhalt hat, ein untergeordnetes Element einer fremden und fremdartigen Zivilisation. Debanderisierung allein wird für die Entnazifizierung nicht ausreichen das Bandera-Element ist nur ein Instrument und eine Verkleidung für das europäische Projekt der Nazi-Ukraine, daher ist die Entnazifizierung der Ukraine auch ihre unvermeidliche Ent-Europäisierung.

Die Bandera-Eliten müssen beseitigt werden, ihre Umerziehung ist unmöglich. Der gesellschaftliche Schlamm, der ihn aktiv und passiv durch Handeln und Nichthandeln unterstützte, muss die Härten des Krieges überleben und sich diese Erfahrung als historische Lektion und Sühne für seine Schuld verinnerlichen. [13]

Im Unterschied zum Beginn des Krieges am 24. Februar, als ein Einlenken Russlands durch das Angebot umfassender Sicherheitsgarantien und einer Neutralität der Ukraine wahrscheinlich noch möglich, auf jeden Fall aber einen Versuch wert gewesen wäre, finden diejenigen, die heute das sofortige Niederlegen der Waffen durch die Ukraine zur Verhinderung eines langen, weiter eskalierenden Krieges vorschlagen, immer weniger Gehör. Ihnen wird angelastet, nicht wissen zu können, ob "Putin" nicht immer neue Kriegsziele ins Auge fasst, was angesichts des Versuchs, über den Donbass hinaus den ganzen Süden der Ukraine zu erobern, nicht einfach zu widerlegen ist.

Der Preis eines Verhandlungsfriedens scheint auf beiden Seiten stetig zu steigen, dementsprechend geht der Vorwurf genozidaler Absichten immer leichter von der Zunge. Seit die UN-Genozidkonvention 1951 in Kraft getreten ist, hat diese Bezichtigung, die so lange eine solche bleibt, als sie nicht beweiskräftig untermauert ist, eine Wertsteigerung erfahren, deren Kampfkraft in Divisionen bemessen werden kann. Dem antagonistischen Wesen jedes Staatenkrieges entsprechend wird der Vorwurf des Genozids von derjenigen Seite, an die er adressiert ist, verneint, was, wie im vorliegenden Fall, dazu führen kann, dass er von beiden Seiten erhoben wird. Auch wenn es im Endeffekt eine Frage der größeren Feuerkraft sein mag, die Anklage mit legalistischer Vollzugsgewalt zu untermauern, verengt sich der Manövrierraum aller Konfliktparteien, die sie erheben, zusehends.

Das gilt auch für den an die jeweilige Führung gerichteten Vorwurf des Verübens von Kriegsverbrechen - je mehr die Feindseligkeiten mit Rechtsimperativen armiert werden, desto schwieriger wird es allen Beteiligten fallen, auf schnellem Weg zu einer schadensmindernden Beilegung der Kampfhandlungen zu gelangen. Wie bei einem Gewinde, dessen Schraube beim Anziehen einrastet, um sich nicht von selbst zu lösen, führt die anwachsende Bezichtigung des anderen in eine tödliche Umklammerung, die beide Kriegsakteure zu ersticken droht.

Für die Mehrzahl der unter kapitalistischem Joch lebenden Menschen war das "Risiko" immer schon ein Armuts- und Elendsrisiko. Und schon immer sorgte die gewaltsame "Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln" dafür, dass als letzte Instanz periodisch das unmittelbare Todesrisiko in Erscheinung trat.
Robert Kurz - Weltordnungskrieg (2003) [14]


Das Risikomanagement des neoliberalen Krieges

Viele ExpertInnen der Internationalen Sicherheitspolitik gehen davon aus, dass die Gefahr eines Atomkrieges seit des Beginns der Existenz von Atomwaffen nie so groß wie heute war. Fast alle diese Gefahr eindämmenden Mechanismen wie Rüstungskontrollverträge wurden von den USA aufgekündigt, und obwohl noch eine direkte Kommunikation zwischen den Konfliktparteien besteht, hat die Bereitschaft, Atomwaffen einzusetzen, schon vor dem Angriff Russlands stetig zugenommen.

Stand die Atomkriegsgefahr anfangs noch unter dem Zeichen einer gegenseitigen Steigerung bis zum Einsatz aller verfügbaren Mittel, hat die Idee eines ohne vollständige Zerstörung der Territorien der Konfliktparteien möglichen Einsatzes von Atomwaffen durch die Konstruktion sogenannter taktischer Atomwaffen zusehends an Akzeptanz unter MilitärstrategInnen und PolitikerInnen gewonnen. Die Frage, ob der Übergang zwischen dem Zünden einer kleinen Atombombe etwa zur Unterbrechung des militärischen Nachschubs in der Ukraine, und dem strategischen Einsatz von Atombomben, die ganze Städte zerstören können, überhaupt kontrollierbar ist, weist so viele Unbekannte auf, dass sie am besten unbeantwortet bleibt. Der führbare Atomkrieg ist ein höchst reales Phantasma, erträumt in den Think Tanks und Strategieschmieden von Atommächten, deren ExpertInnen so determinierbar in ihrer Urteilskraft sind, wie aufgrund der entfremdenden Wirkung jeder Form von Lohnarbeit und Anerkennungskultur nicht anders zu erwarten ist.

Der volle Einsatz nuklearer Stärke hätte den Kulminationspunkt der Nützlichkeit so vollkommen überschritten, daß im Ergebnis eine vollständige Umkehrung stattgefunden hätte. Aus der Perspektive des jeweiligen Angreifer-Opfers wären die verheerendsten Angriffe gar keine Angriffe gewesen. Wären tatsächlich große Bevölkerungszentren zerstört worden, hätte keine Seite irgendeinen Nutzen aus der Katastrophe ziehen können, die der anderen parallel ebenfalls zugefügt worden wäre. [15]

In der Verabsolutierung des Kosten-Nutzen-Kalküls liegt die Crux militärischer Strategiekonzepte, gehen sie doch von rationalen AkteurInnen aus, die Vorteil und Nachteil stets mit kühlem Kopf abwägen. In den Wirtschaftswissenschaften hatte die neoklassische Theorie, laut der ökonomische Entscheidungen auf den Kalkulationen rationaler Akteure beruhen, ihren Zenit längst hinter sich. Sie wird vor allem von verhaltensökonomischen Konzepten beerbt, die die Suggestibilität menschlicher Willensbildung methodisch einer eher psychologisch ausgerichteten Wirtschaftstheorie zugänglich macht. Sind Akteure, die mit zerstörerischer Unumkehrbarkeit handeln, tatsächlich rationaler als Geschäftsleute, die versuchen, ökonomische Wechselfälle kontrollierbar zu machen? Um das im Falle atomarer Kriegführung herauszufinden, kann niemand vom Ende her denken, weil es praktisch vor dem Anfang schon feststeht.

Nun, da die Position der NATO-Staaten gegenüber Russland sich im Anstreben eines "Siegfriedens" zusammenfassen lässt, was als begriffliche Variation des "Diktatfriedens" als nicht minder eindeutige Mitteilung an die Adresse des Kreml zu verstehen ist, sind nicht wenige Menschen von der Aussicht beunruhigt, dass auf diesem Weg die Schwelle zum Atomkrieg zwischen NATO und Russland überschritten werden könnte. Ob die britische Außenministerin Elizabeth Truss, ihre deutsche Kollegin Annalena Baerbock, US-Verteidigungsminister Lloyd Austin oder EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, diese und viele weitere PolitikerInnen der NATO-Staaten haben zum Ausdruck gebracht, dass es zum bedingungslosen Rückzug Russlands und damit zum Sieg der Ukraine keine Alternative mehr gibt.

Nicht nur bei den ExponentInnen politischer Macht, sondern auch in Teilen der Bevölkerungen des Westens scheint der Jagdinstinkt erwacht zu sein. Der Krieg läuft für Russland nicht wie geplant, die Umgruppierung in den Süden war ein Manöver der Schadensbegrenzung, in den aktuellen Kämpfen gewinnt der Aggressor nur langsam Land, ökonomisch angeschlagen ist er durch die schwersten in einem Krieg jemals gegen ein ganzes Land erwirkten Sanktionen ohnehin, und immer mehr seiner gut ausgebildeten BürgerInnen verlassen Russland, um politischer Verfolgung und wirtschaftlichem Niedergang zu entgehen. Der sich ankündigende Schaden für Staat und Gesellschaft in Russland rückt das unveränderte Ziel der NATO, den geopolitischen Konkurrenten im Osten auszuschalten und damit Kontrolle über die im Mangelszenario des mehrdimensionalen Krisenzyklus immer wertvoller werdende Landmasse Eurasiens wie den strategischen Vorposten im künftigen Krieg gegen China zu erhalten, in Reichweite.

Um dieser Offensivposition Nahrung zu geben, wird das Bild vom wankenden, den Todesstoß erwartenden Bären konterkariert von der angeblichen Absicht des Kreml, den Krieg auf Transnistrien und Moldawien auszudehnen, Finnland anzugreifen, bevor es der NATO beitritt, ja einen Krieg mit der westlichen Militärallianz selbst zu riskieren. Verwiesen wird auf Devisenreserven, die Russland einen langen Atem verschaffen, und mögliche Nachschublieferungen auch militärischer Art aus Drittstaaten wie China.

Beides, einladende Schwäche und abschreckende Stärke, bekräftigt im Ergebnis diejenigen, die immer potentere Waffen in die Ukraine liefern wollen. Halt gemacht wird eben dort, wo die hochemotionale Mobilisierung ihre Konsequenz finden müsste. Warum die UkrainerInnen alleine kämpfen lassen, wenn die NATO eine derartige Überlegenheit aufs Schlachtfeld bringen kann, dass der Krieg in Kürze zu Lasten des Aggressors beendet wäre? Warum dem Gestalt gewordenen Bösen einen Freibrief geben, in der Ukraine nach Belieben morden zu können, anstatt ihm in den Arm zu fallen? Ist die NATO mit der Ankündigung, keinesfalls Kriegspartei werden zu wollen, nicht in erheblichem Ausmaß mitverantwortlich für die Grausamkeiten, die ihre JournalistInnen täglich - mit dem Finger auf "Putin" zeigend - beklagen?

An dieser Schwelle scheiden sich nicht nur die Geister, der ganze Kriegsdiskurs erhält eine anomische Schlagseite. Das Feuer von außen anheizen, ukrainische Soldaten in Deutschland ausbilden, aber so tun, als sei die BRD keine Kriegspartei, als sorge sie nicht in erheblichem Maße für Bereitstellungen im Rückraum der kämpfenden Truppe. Verfügte Russland nicht über die ultimative Waffe, dann wäre der Kriegseintritt der NATO längst erfolgt. Ihn zu vermeiden mit dem Argument atomarer Eskalation, zugleich jedoch die Belastbarkeit Russlands mit jedem Tag ein Stückchen weiter auszutesten ist nicht nur ein Spiel mit dem Feuer, es ist das Risikomanagement der neoliberalen Epoche angewendet auf die Strategien kriegsökonomischer Ermächtigung. So oder so wird der Atomkrieg provoziert in der Hoffnung darauf, dass er sich bei unterstellter Nichtbeteiligung der NATO ganz zu deren Vorteil erweist.

Während die ukrainischen FußsoldatInnen für NATO, EU und USA sterben, wird mit dem Szenario des sogenannten Kalten Krieges beschwichtigt. "Et hätt noch emmer joot jejange" - so wird in Köln mit der Gewissheit derjenigen Entwarnung gegeben, dass es sie nicht treffen könne, weil es bisher ja immer andere getroffen hat. Der vermeintliche Frieden wurde durch eine strategische Parität der Großmächte erkauft, die zwischen 1948 und 1991 144 Kriege im Globalen Süden entfachte. Im Unterschied zu damals befindet sich heute eine Seite dieser Konstellation zum Stillhalten verpflichtender Vernichtungsandrohung im Krieg gegen eine weitere ehemalige Republik der Sowjetunion, sprich der angerichtete Schaden wird ganz auf der Seite des ehemaligen Systemfeindes angerichtet.

Um diese vorteilhafte Position der NATO in der imperialen Konkurrenz zu Russland einnehmen zu können, muss die russische Bedrohung zugleich überzeichnet wie untertrieben werden. Ersteres, um nicht in den Krieg eintreten zu müssen, letzteres, um die mit zunehmender Dauer des Krieges und anwachsender Schwierigkeit Russlands, ihn erfolgreich zu führen, gesteigerte Gefahr eines Atomkrieges ignorieren zu können. Der Warnung des russischen Außenministers Lawrow kurz vor dem Treffen der westlichen Verteidigungsminister in Ramstein am 26. Februar vor der Gefahr eines Atomkrieges hielt Gesine Dornblüth im Deutschlandfunk die Kalkulation von US-Militärexperten entgegen, laut der die Chance für einen tatsächlichen Einsatz von Atomwaffen bei eins zu hundert liege.

Ein solches Todesrisiko, das weit höher ist als zu jeder Zeit der Covid-Pandemie, führte im Fall einer vergleichbaren Verbreitung eines Infektionserregers zweifellos zu schärfsten Isolationsmaßnahmen. Wenn ein aus mehreren Gründen für NATO, EU und USA vorteilhafter Waffengang ansteht, scheint das Risikokalkül von ganz anderen Schwellen des Ausschlusses eines maximalen Schadensfalls auszugehen. So dokumentiert das Errechnen von Wahrscheinlichkeiten unter dem Horizont vollständiger Vernichtung nichts weniger als die Bereitschaft, davor nicht zurückzuschrecken. Anstatt die Atomkriegsgefahr durch konsequente Nichteinmischung in diesen Krieg, das Herbeiführen seines schnellen Endes durch umfassende Sicherheitsgarantien und die Zusicherung, dass die Ukraine nicht in die Militärallianz aufgenommen wird, stark zu minimieren, um im weiteren Verlauf die Auflösung der NATO zu betreiben, an deren Stelle regionale Abrüstungsinitiativen und Sicherheitsbündnisse zu treten hätten, geschieht das im Kapitalismus Übliche - ein wertproduzierendes Risikomanagement, das über Leichen geht, so lange es nicht die eigene ist.


An der Front der Konsensproduktion

In Kriegszeiten ist Beschwichtigung zur Sicherung sozialer Kohärenz noch vor der Feindbildproduktion oberstes Gebot in Medien und Politik. In einer Diskussion des Deutschlandfunks zum Ukrainekrieg am 11. Mai [16], um nur ein Beispiel von zahllosen zu geben, stellt Lydia Wachs von der dem Berliner Außenamt nahestehenden Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) fest, das Russland trotz einer "sehr verstörenden" Rhetorik, bei der von einem "existenziellen Konflikt mit der NATO gesprochen" werde, bei aller Brutalität des Vorgehens "eine gewisse Zurückhaltung" walten lasse. Russland habe "nicht so stark, wie es eigentlich könnte, Infrastruktur angegriffen, um den Zustrom westlicher Waffen an die Frontlinie zu stoppen, es hat auch dem Westen noch nicht größeren Schaden zugefügt". Sie sei sich sicher, dass "Russland an einer Ausweitung des Konflikts auf die NATO nicht interessiert" sei, da könne es nur verlieren. Daher warnt die Sicherheitsexpertin davor, "diese Eskalationsszenarien zu groß an die Wand zu malen".

Für Ursula Schröder vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg ist die "nukleare Eskalationsdimension dieses aktuellen Konflikts durchaus ein wirklicher Grund zur Sorge, (...) allerdings sehe ich die Chance, dass Putin tatsächlich eine taktische oder auch strategische Nuklearwaffe einsetzt und wir dann eine Eskalationskaskade sehen, die unfassbar erschreckend sein wird, (...) als ausgesprochen minimal an. Es kann aber natürlich immer zu nicht intendierten Eskalationen kommen, es kann zu Unfällen kommen, es kann zu Vorfällen kommen, die falsch interpretiert werden", schränkt die Friedensforscherin unter Verweis auf entsprechende Beinahe-Katastrophen im Kalten Krieg ein, bleibt jedoch bei einer allgemeinen Entwarnung.

Lydia Wachs sekundiert: "Wir sehen zwar viel aggressive Rhetorik von russischer Seite, aber wir sehen keine echte Vorbereitung auf einen Einsatz von Nuklearwaffen", das hätten die Chefs der US-Nachrichtendienste dieser Tage noch einmal bestätigt. Des weiteren macht die SWP-Expertin ein gewisses "Muster" in den Ankündigungen Russlands aus, das zwischen offensiver Drohung und Zurückrudern changiere. Weil es keine "ganz klare Drohung von russischer Seite" gebe und ein Atomwaffeneinsatz für Russland mit enorm hohen Kosten wie einem fragwürdigen militärisch Nutzen verbunden sei, stuft Wachs die Wahrscheinlichkeit für diese Option im Konsens mit Ursula Schröder als "sehr gering" ein.

Allein die noch nicht erfolgte Zerstörung aller Nachschubwege für Rüstungsgüter aus NATO-Staaten in der westlichen Ukraine mit Hilfe von Lenkwaffen, Drohnen oder Kampfbombern lässt erkennen, dass der Kreml noch nicht alle Mittel ausschöpft, die Situation militärisch zu seinem Vorteil zu wenden. Auch der bisher nicht erfolgte Großangriff auf Städte mit Flächenbombardements, was die erfolgte Zerstörung durch Artillerie- und Raketenbeschuss nicht weniger schlimm macht, bestätigt die von Lydia Wachs konstatierte Zurückhaltung. So, wie diese jederzeit in eine Offensive umschlagen könnte, bei dem ein Angriff auf Kiew erfolgte, der etwa der Bombardierung Bagdads durch die US-Luftwaffe entspräche, so gibt es keinerlei Gewähr dafür, dass die russische Führung nicht zu einer schockartigen Eröffnung mit taktischen Atomwaffen in der Ukraine greifen wird.

Mögliche Eskalationsszenarios betreffen auch die geheimdienstliche und aufklärungstechnische Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten, die zur gezielten Tötung russischer Generäle oder der Vernichtung des Kreuzers Moskwa im Schwarzen Meer geführt haben. Die informationstechnische Komponente der Kriegführung wird immer bedeutsamer und ist auf Seiten der Ukraine durch die NATO-Unterstützung auf hohem Niveau gewährleistet, während die russische Rüstungsindustrie auf Nachschub an Mikrochips aus Drittstaaten angewiesen ist, um die Kampfkraft der russischen Streitkräfte zu erhalten, was durch das westliche Handelsembargo zumindest in Frage gestellt ist.

Seit in der Bundesrepublik ukrainische Soldaten an wehrtechnischem Gerät ausgebildet werden, ist die Bundesrepublik wieder ein Stück näher an den offiziellen Status eines Akteurs in diesem Krieg gerückt. Die bislang nur schrittweise erfolgende Reduzierung von Gaslieferungen in die Bundesrepublik lässt ebenfalls erkennen, dass eine vollständige Eskalation des Wirtschaftskrieges auf russischer Seite noch nicht erfolgt, obwohl die westlichen Sanktionen schwerwiegend sind. Die sofortige Aussetzung aller Energieexporte aus Russland in die EU wäre ein sehr wirksames Mittel, deren Gesellschaften stark unter Druck zu setzen.

In den USA wird die Atomkriegsgefahr in der Ukraine und darüber hinaus von einem prototypischen Exponenten der US-Kriegsführung unter anderem in Vietnam, dem 98jährigen Henry Kissinger, durchaus ernst genommen. Im Gespräch mit Henry Luce von der Financial Times warnte er am 9. Mai:

Wir haben es heute mit Technologien zu tun, die in der Geschwindigkeit des Schlagabtauschs und ihrer erfinderischen Subtilität Dimensionen der Katastrophe hervorbringen können, die früher nicht einmal vorstellbar waren. Und der merkwürdige Aspekt der gegenwärtigen Situation ist, dass diese Waffen sich auf beiden Seiten vervielfachen und ihre Wirksamkeit jedes Jahr weiter zunimmt.

Aber es findet international beinahe keine Diskussion darüber statt, was geschehen würde, wenn diese Waffen tatsächlich zum Einsatz kämen. Ganz allgemein empfehle ich allen, auf welcher Seite auch immer, zu verstehen, dass wir heute in einer ganz neuen Ära leben und wir bisher damit davongekommen sind, dies zu ignorieren. Doch da sich die Technologie weltweit fast wie von selbst ausbreitet, ist erforderlich, dass Diplomatie und Kriegführung inhaltlich anders aufgestellt werden, und das wird eine Herausforderung sein. [17]

Der Politikwissenschaftler Stephen M. Walt von der Harvard University fordert die US-Regierung auf, die Atomkriegsgefahr ernst zu nehmen und den eigenen Anteil an ihrer Entstehung, die geplante Integration der Ukraine in die NATO, als strategischen Fehler zu erkennen. "Ich würde mich sehr viel besser fühlen, wenn die Regierungen des Westens die Gefahr eines Atomwaffengebrauchs sehr viel ernster nehmen und das leichtfertige Reden über Kriegsziele einstellen. Sie sollten einer Beendigung des Krieges mehr Aufmerksamkeit schenken, anstatt sich auf das Erringen eines schlecht definierten, aber mutmaßlich folgenreichen Sieges zu konzentrieren. (...) Um diesen Krieg zu beenden ist von allen Seiten, und das beinhaltet die Vereinigten Staaten, zu verlangen, weniger zu erhalten als ursprünglich erwartet wurde." [18]

Weitere Kommentatoren geben zu bedenken, dass Staaten, die an der Schwelle nuklearer Bewaffnung stehen, sich aufgrund des russischen Angriffs Atomwaffen beschaffen könnten, also das Proliferationsrisiko wächst. Was heute, an Russland adressiert, auch in deutschen Pressekommentaren "nukleare Erpressung" genannt wird, entspricht zwar der Abschreckungsdoktrin des Kalten Krieges, impliziert jedoch den Aufruf, sich einer solchen nicht zu beugen. Schon die Begrifflichkeit trägt zur Steigerung des Atomkriegsrisikos bei, gilt hier doch wie bei der Terrorismusdoktrin, dass sich Staaten niemals durch Anschlagsdrohungen oder Geiselnahmen erpressen lassen dürften. Zudem gebietet die Logik der atomaren Abschreckung, im Falle dessen, dass die Gegenseite sich davon nicht beeindrucken lässt, mit dem realen Einsatz von Atomwaffen nachzuziehen, um deren Wert als strategisches Mittel zu erhalten. Wenn ein Thomas L. Friedman als personifizierter Schreibtischkrieger der New York Times davor warnt, einen Sturz des russischen Präsidenten zu provozieren, weil in dem sich daran anschließenden Chaos das Risiko des Einsatzes russischer Atomwaffen weit höher als jetzt sein könnte, dann ist zu ahnen, dass der Kontrollverlust schon jetzt sehr groß ist.

Niemals war der Zweifel wertvoller als jetzt, da NATO und Russland nicht etwa schlafwandlerisch in einen verheerenden Vernichtungskrieg taumeln, sondern sehr absichtsvoll darauf hinzielen, der anderen Seite eine Niederlage beizubringen. Viele ExpertInnen lagen mit der Prognose, dass der Kreml eine Ausweitung des Krieges im Donbass nicht wagen werde, falsch, wie sie heute eingestehen. Nach dem Überschreiten der nuklearen Schwelle gibt es möglicherweise niemanden mehr, der oder die Rechenschaft darüber ablegen müssten, dass sie falsch gelegen hätten.

Souveränität und Selbstbestimmung der Ukraine werden von den lokalen Eliten zusehends so verstanden, an die Eingliederung in die "Festung Europa" und die Schaffung einer "ukrainischen Nation" von "weisser" und "europäischer" Identität geknüpft zu sein. Das Konzept der "Selbstbestimmung", geschaffen von der internationalistischen, antikolonialistischen und antiimperialistischen Linken, wird heute instrumentalisiert. Im Gebrauch westlicher und ukrainischer Eliten wird die Geschichte des lokalen Internationalismus, Kommunismus und Antifaschismus von der "Selbstbestimmung" durch eurozentrische Manöver abgespalten. Ironischerweise ähnelt diese Form begrifflicher Indienstnahme Putins eigenen Attacken auf die Selbstbestimmung der Ukraine, wenn er verächtlich versichert, dass sie auf leninistischen Prinzipien des Antiimperialismus und Antikapitalismus basiere.
Olena Lyubchenko - On the Frontier of Whiteness, Expropriation, War, and Social Reproduction in Ukraine [19]


Das Phantasma der Unabhängigkeit

Für die Bundesregierung wäre es ein leichtes gewesen, jegliche Beteiligung an diesem Krieg unter Verweis auf die eigene Aggression gegen die Sowjetunion abzulehnen. Gerade die Ukraine hat erheblich unter dem deutschen Vernichtungskrieg gelitten, so dass ein schnelles Ende des Waffengangs mit Russland der weiteren Zerstörung allemal vorzuziehen wäre. Das Argument, es gehe darum, die staatliche Souveränität der Ukraine zu verteidigen, krankt nicht nur daran, dass sie längst von westlichen Geldgeberstaaten abhängig ist, so zur Finanzierung der laufenden Kosten, der Aufrüstung und des Wiederaufbaus. Seit den 1990er Jahren wächst der Berg der Schulden Kiews beim IWF stetig an, was der Weltfinanzinstitution weitreichende Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer ökonomischen Strukturanpassungen an die Hand gibt.

Liberalisierung, Freihandel, Aufhebung von Preiskontrollen bei essentiellen Lebensmitteln, Abschaffung sozialpolitischer Leistungen, Privatisierung staatlicher Industrieunternehmen, Entlassung vermeintlich überflüssiger Arbeitskräfte - das ganze Paket neoliberaler Zwangsmaßnahmen zur Erwirtschaftung einer Freiheit, die in der Militarisierung demokratischer Werte ihren zeitgemäßen Ausdruck findet. 2015 war das Land Schlusslicht bei der Reallohnentwicklung in Europa, 2021 stuften sich 67 Prozent der Bevölkerung als arm ein, um so mehr prosperierten die ukrainischen KapitaleignerInnen und die internationalen Gläubiger, für die zuallererst gestorben wird.

Seit dem 24. März sind per präsidialem Dekret in der Ukraine zentrale ArbeiterInnenrechte für die Dauer des Krieges ausgesetzt. Verlängerung der Arbeitszeiten auf bis zu 60 Wochenstunden, Aufhebung des Kündigungsschutzes auch im Krankheitsfall, Einschränkungen bei Lohnansprüchen und Arbeitsschutzbestimmungen sind nur einige der Neuerungen, über die Benjamin Kirchhoff am 27. April in der jungen Welt berichtete. Unternehmen können Tarifverträge einseitig aufkündigen, und die Gewerkschaften sollen auch noch die Einhaltung der Maßnahmen in Form einer "Bürgerkontrolle" überwachen, sind also als Akteur in Arbeitskämpfen praktisch kaltgestellt. Ob diese Verschärfungen der Ausbeutungsbedingungen tatsächlich nach dem Krieg rückgängig gemacht werden, wird von nicht wenigen GewerkschafterInnen bezweifelt.

Diejenigen PolitikerInnen, die hierzulande behaupten, in der Ukraine würden auch "unsere" Werte und Freiheiten verteidigt, wissen genau, wen sie damit zum Sterben in die Wüste zivilisatorischer Ruinen schicken. Es sind nicht die vielzitierten russischen Oligarchen oder ein Kremlbewohner, dem das ganze Befindlichkeitsspektrum zwischen psychopathologischer Verirrung und hochrationaler Durchtriebenheit je nach Zweck und Laune einer hochgradig personalisierten und damit die eigenen Interessen an diesem Krieg ausblendenden Berichterstattung angedichtet wird, die darunter zu leiden haben. Im Globalen Süden insbesondere, aber auch hierzulande bezahlen die Ärmsten am meisten für den Krieg, in Form steigender Lebensmittel- und Energiepreise wie auch anwachsender Repression und Einebnung demokratischer Rechte, was ihren Widerstand gegen Waffenexporte und weitere Aufrüstung eigentlich beflügeln sollte.

Keine der im Bundestag vertretenen Parteien ist grundsätzlich gegen die Beteiligung der NATO eingestellt, von deren Auflösung ganz zu schweigen, selbst in der Linkspartei halten sich viele Abgeordnete bis auf einige Ausnahmen bedeckt. Die AfD, der vor dem Krieg Sympathien für die russische Seite nachgesagt wurden, bestätigt ihren nationalchauvinistischen Kurs durch die Forderung nach massiver Aufrüstung der Bundeswehr und die Umschichtung von Waffenlieferungen in die Ukraine auf andere Staaten, da Deutschland seine Fähigkeit zur Kriegführung nicht weiter schwächen dürfe. Wenn der Burgfrieden den rechten Rand umfasst, ist die Handlungsfähigkeit der Nation vollends gesichert. Eine Linkspartei, für die Rosa Luxemburgs Antiimperialismus Anathema ist, macht sich überflüssig.

All das sind Merkmale eines Transformationsregimes, mit dem die Bundesregierung und die Kapitalverbände die Bevölkerung auf einen Opfergang nach dem anderen zurichten. Unter Covid-Bedingungen vereinzelter denn je, ideologisch zerrissen zwischen den Schwarz-Weiß-Postulaten des professionellen Konsensmanagements, lassen sich die Menschen vom Feindbild des Tages durch die zusehends populistisch bewirtschaftete Arena sozialdarwinistischer Überlebenskämpfe treiben.

Das Auslösen regelrechter Versorgungsschocks durch die Bundesregierung mit dem Ziel der perspektivischen Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen ist ein geradezu klassisches Beispiel voluntaristischer Sozialinnovation zum Zwecke einer Kriegführung, die weit über den aktuellen Anlass hinaus die Mobilmachung der Bevölkerung zu einer permanent abrufbaren Fähigkeit nationalen Hegemonialstrebens machen soll. Dabei war stets offenkundig, dass die nun als unüberlegt beklagte Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen eine enge Bindung an den Lieferanten voraussetzt und der Strategie eines möglichst diversen nationalen Energiemixes widerspricht. Die Gründe für die bisherige Ausrichtung deutscher Energiepolitik liegen unter anderem darin, dass sie auch eine Abhängigkeit auf der anderen Seite der Pipeline erzeugt, die womöglich mehr Handlungsoptionen in Berlin eröffnet als in Moskau.

Hergestellt vom ukrainischen Staat und den liberalen Eliten wie willkommen geheißen im Westen wird der ukrainische Nationalismus als ein Prozess der "Rückkehr nach Europa" inszeniert. Dabei ist er mit historisch ungleichen, gegenderten und rassifizierten Beziehungen des globalen Kapitalismus verwoben, wie aus der Sicht globaler sozialer Reproduktion zu erkennen. Die bereits verarmte, von den Ressourcen des prekären öffentlichen Sektors und Gesundheitswesens abgeschnittene Bevölkerung der Ukraine subventioniert den Krieg mit Hausarbeit - so gehen die Kosten für Krieg und Verteidigung zu Lasten des Lebensunterhalts der Menschen. (...) Mit den strukturellen Problemen der Militarisierung, des Nationalismus und der Austerität vor Augen stellt sich in Hinsicht auf die Nachkriegszeit die Frage, ob der Widerstand gegen den russischen Imperialismus - verwurzelt im zaristischen Russischen Großreich, der widersprüchlichen sowjetischen Nationalitätenpolitik und der Enteignung der Bauernschaft - sich auf das Schaffen von Solidarität mit den antiimperialistischen und antikapitalistischen Kämpfen und Bewegungen im Globalen Süden übersetzen lässt? Dies erforderte die Neukonzipierung einer Ukraine als antirassistisches, pluralistisches, sozialistisches politisches Projekt von unten und - insbesondere - eine Kritik des Eurozentrismus.
Olena Lyubchenko - On the Frontier of Whiteness, Expropriation, War, and Social Reproduction in Ukraine [20]


Im Schatten eurozentrischer Imaginationen

Was gestern als willkommene Steigerung des Wachstums und der Kapitalproduktivität der Unternehmen und Finanzinstitutionen der Bundesrepublik akzeptabel war, soll aus heutiger Sicht falsch gewesen sein? Und das nicht etwa aus Gründen der Klimakatastrophe, sondern zugunsten einer geostrategischen Herausforderung, in deren Folge die NATO zu neuer aggressiver Stärke und die EU zu kriegsgestähltem Nationalbewusstsein aufwachsen? Die Ostpolitik der Brandt-Ära, die der Bundesrepublik beispiellose Vorteile ökonomischer wie hegemonialer Art eingebracht und sie zum Hegemon der EU gemacht hat, soll doch ein Fehler gewesen sein, wie die Unionsparteien stets behaupteten, bevor sie ihren Vorteil in der sogenannten Wiedervereinigung suchten? Und war der deutsche Überfall auf die Sowjetunion vielleicht sogar ein weitsichtiger Vorgriff auf die Machtambitionen Russlands, die Schuld des NS-Staates somit eine relative, wie die Schmähung russischer Kultur und die abträglich gemeinte Ineinssetzung von Sowjetunion und Russland nahelegen?

Das schiere Ausmaß der Revision jahrzehntelang gültiger Staatsdoktrinen und Geschichtspolitiken, exemplarisch vorgeführt am Beispiel der Regierungspartei der Grünen, die die von ihnen hinterlassene Spur linker Trümmer rechts in einem Tempo überholen, als gebe es kein Gestern und Morgen, lässt erkennen, dass die proklamierte "Zeitenwende" einen Innovationszyklus einleitet, in dem die Durchsetzung des grünen Kapitalismus auf kriegerische Füße gestellt werden soll. Um die lauter werdenden und - angesichts der immer tieferen sozialen Verwerfungen zwischen Nord und Süd, aber auch innerhalb der jeweiligen Klassengesellschaften - auf der Hand liegenden Forderungen nach einer ökosozialistischen Gesellschaft als weltweite Entwicklungsdimension zu kontern, werden nationale Staatsakteure mit zusätzlichem Gewaltpotential aufgeladen und gegen die stark unter der Klimakatastrophe leidenden Bevölkerungen des Globalen Südens, aber auch die überflüssig Gemachten in den eigenen Gesellschaften in Stellung gebracht.

Die sozialstrategische Intelligenz des Kapitalismus, an der es der Sowjetunion so sehr mangelte, dass sie nicht nur an imperialistischer Aufrüstungskonkurrenz scheiterte, sondern vor allem an den inneren Widersprüchen kollabierte, die ihr staatskapitalistisches Akkumulationsmodell aufgrund des ausbleibenden Übergangs in kommunistische Gleichheit und Freiheit immer weniger einhegen konnte, tritt nun in die Phase einer Mangelverwaltung ein, die Kriege aller Art notwendigerweise provoziert, weil sie die daraus resultierenden sozialen Brüche nicht mehr durch Konsumismus und Ideologieproduktion kitten kann. Freiheit und Demokratie werden unglaubwürdig, wenn der Teller leer bleibt, so dass der äußere wie innere Feind die Aufgabe übernehmen muss, soziale Kohärenz zu schaffen.

Das um so mehr, als der Globale Süden in diesem Konflikt zwischen als weiß und christlich-europäisch identifizierten Staaten nur sehr bedingt auf die Forderung nach Parteinahme zugunsten des eurozentrischen Westens einsteigt. Franco Bifo Berardi diagnostiziert eine "Geopolitik des Chaos" [21], an der sich die von den westlichen Metropolengesellschaften dominierte Ordnung längs der Bruchlinien von Kolonialismus und Rassismus zerlegt.

Wie der Zerfall der Sowjetunion vor allem von der Peripherie ausging, wo die Spannungen zwischen Moskau, den industriell entwickelten Regionen Russlands und den eher agrarischen Unionsrepubliken stetig zunahmen, wie die chinesischen KommunistInnen ein Bündnis zwischen BäuerInnen und ArbeiterInnen schufen, um den revolutionären Sieg der am wenigsten angesehenen und privilegierten Klassen herbeizuführen, so könnte dieser weiße Krieg die weltumspannenden ökonomischen, kolonialistischen und extraktivistischen Praktiken westlicher Akteure empfindlich schwächen. Das müsse nicht so gut ausgehen, wie es der kommunistische Aufbruch versprach, bevor er dem globalen Kapitalismus unterlag, werden antikoloniale Aufstände doch auch von nationalistischen und revanchistischen Bestrebungen dominiert. Dennoch werde sich der Aufstieg des jahrhundertelang am Boden gehaltenen Globalen Südens nicht vermeiden lassen, und er wird durch diesen Krieg stark befeuert, glaubt Berardi.

Seiner Ansicht nach hätte nur eine kommunistische Internationale ein drohendes planetares Blutbad verhindern können, in dem sich die ArbeiterInnen des industriellen Westens und die vom Kolonialismus Unterdrückten des Globalen Südens zusammengetan hätten. Leider sei der Kommunismus besiegt worden, bedauert der italienische Philosoph und Aktivist, und nun seien wir mit einem Krieg konfrontiert, der alle im Namen von nichts betrifft. Das Scheitern für einen Aufbruch in eine Neue Internationale zu nutzen, für die der Kommunismus noch gar nicht stattgefunden hat, sondern erst zu schaffen wäre, und die sich nicht mehr auf Staaten und Grenzen stützt, sondern die Vielfalt in ihrem Lebens- und Existenzinteresse eingeschränkter und negierter Menschen aus den Unterdecks der Gesellschaften miteinander in Kontakt bringt, könnte daran anknüpfen. Wenn ein hochdynamisches, weil autonom organisiertes Bündnis aus LohnsklavInnen, Erwerbslosen, MigrantInnen, landlosen Indigenen und KleinbäuerInnen, von Rassismus und Patriarchat betroffenen Frauen, queeren, nichtweißen und körperlich eingeschränkten Menschen aus diesem Krieg hervorginge, wäre noch nichts gewonnen, aber viel begonnen.

Fußnoten:
[1] Was passiert, wenn eine Atombombe deine Stadt trifft?

https://www.youtube.com/watch?v=CRgJHTmBGOE

[2] https://www.youtube.com/watch?v=sOdvSClxZyU

[3] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/

[4] a.a.O.

[5] a.a.O.

[6] How Russias War In Ukraine Is Playing Out Inside Russia
https://www.youtube.com/watch?v=CCNriiim3z4

[7] https://www.counterpunch.org/2022/04/15/the-blitzkrieg-failed-whats-next/

[8] https://www.counterpunch.org/2021/04/21/an-accumulation-fo-anger-in-putins-russia-an-interview-with-boris-kagarlitsky/

[9] https://www.youtube.com/watch?v=Y7JYiCNXN_M

[10] https://gegen-kapital-und-nation.org/kurze-kritik-der-forderung-nach-chancengleichheit/

[11] https://jacobin.de/artikel/was-du-uber-die-ukraine-weist-ist-vermutlich-falsch-ukraine-konflikt-russland-maidan-donbass-nato/

[12] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1922/12/autonom.html

[13] https://europa.blog/de/putins-krieg-gegen-die-ukraine-zielt-auf-vernichtung/

[14] Robert Kurz: Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003, S. 54

[15] Edward Luttwak: Strategie. Die Logik von Krieg und Frieden, Lüneburg, 2003, S. 310

[16] https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2022/05/11/wie_weiter_im_ukraine_krieg_ueber_ziele_waffen_und_dlf_20220511_1915_145a06f3.mp3

[17] https://www.ft.com/content/cd88912d-506a-41d4-b38f-0c37cb7f0e2f

[18] https://www.russiamatters.org/news/russia-analytical-report/russia-analytical-report-may-2-9-2022

[19] https://www.transnational-strike.info/2022/05/13/on-the-frontier-of-whiteness-expropriation-war-and-social-reproduction-in-ukraine/

[20] a.a.O.

[21] https://non.copyriot.com/welcome-to-the-geopolitics-of-chaos/



17. Mai 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 174 vom 21. Mai 2022


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