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HERRSCHAFT/1419: EU-Bevölkerungen unter Aufstandsverdacht (SB)



Mit der Weltwirtschaftskrise bestätigt sich, daß der im Rahmen des Terrorkriegs vollzogene Ausbau sicherheitsstaatlicher Handlungsgewalt stets der Unterdrückung sozialer Widersprüche gewidmet war. Während es für die Bedrohlichkeit der von Politikern und Experten im Munde geführten Terrorgefahr fast keine Anhaltspunkte gibt und die inflationäre Verwendung des Begriffs "Terrorist" in den Bürgerkriegen der Neuen Weltordnung unschwer als rhetorischer Legitimationsakt zu durchschauen ist, wird das widerständige Element in der eigenen Bevölkerung mißtrauisch beäugt.

Die in der Europäischen Union in jüngster Zeit aufgeflammten Unruhen werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten "intensiv" beobachtet, teilte das Nachrichtenportal EUobserver am 22. Januar mit. Nachdem es in Island, Griechenland, Lettland, Litauen und Bulgarien in den letzten Wochen zu Protesten und Straßenschlachten gekommen ist, die mit den drastisch verschlechterten sozialökonomischen Verhältnissen in diesen Staaten zu tun haben, ist man in Brüssel in Alarmbereitschaft. Man sammle alle verfügbaren Informationen über ähnliche Vorkommnisse in anderen Mitgliedstaaten und tausche sich mit den Regierungen Frankreichs, Deutschlands und der Baltischen Staaten aus, so ein litauischer Diplomat gegenüber EUobserver. Dort erinnert man daran, daß IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgeht, daß es in den kommenden Monaten weitere Unruhen in Ländern wie Ungarn, der Ukraine und Belarus, aber auch in Frankreich oder Britannien geben könnte.

Dieses Krisenszenario betrifft die verwundbarste Stelle des kapitalistischen Weltsystems. Wenn die Menschen die fortgesetzte Verschlechterung ihrer Lebenslage nicht mehr stumm hinnehmen oder der Hunger sie zur Selbsthilfe treibt, dann ist die Grundlage des herrschenden Verwertungsinteresses in Frage gestellt. Wenn die extreme Ungleichheit zwischen arm und reich nicht mehr stumm hingenommen wird, weil die Hoffnung, der Misere entkommen zu können, nicht mehr glaubhaft ist, dann bekommen es die Menschen mit dem harten Kern der politischen Systeme zu tun, denen sie ihre Zustimmung entziehen. Die plötzliche Einsicht, daß man von ihnen nicht einmal diese verlangt, sondern nur daran interessiert ist, daß sie ihre Arbeit verrichten und sich ruhig verhalten, könnte das Faß erst recht zum Überlaufen bringen.

Daher wird, bevor die Regierungen zu extremen Mitteln greifen und das soziale Aufbegehren gewaltsam niederschlagen, versucht werden, an die Bereitschaft der Bevölkerungen zu appellieren, gemeinsam an einem Strang zur Bewältigung der Krise zu ziehen. Das glaubhaft zu vermitteln ist nach den bisherigen Maßnahmen der Krisenbewältigung, die fast ausschließlich mit der Rettung der Kapitaleigner befaßt sind, nicht leicht. Zu rechnen ist daher mit einer großangelegten Strategie des Teilens und Herrschens: während die operativen Kerne antikapitalistischer Proteste hart angefaßt werden, wird man versuchen, das Gros der Bevölkerung durch Ausgrenzungskampagnen gegen streitbare Protestler auf die Seite der Herrschenden zu ziehen. Dies wird nicht nur im nationalen Rahmen erfolgen, sondern auch über den Nord-Süd-Antagonismus versucht werden. Der virulente Terrorverdacht, bewährt im Umgang mit Menschen anderer Hautfarbe und Gesinnung, wird sich einmal mehr als wertvolles Mobilisierungsinstrument erweisen.

29. Januar 2009