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HERRSCHAFT/1453: Liberale Leitdoktrin und Verfassungswirklichkeit (SB)



Ein "Leuchtfeuer der Freiheit" soll das Grundgesetz sein, wie Bundespräsident Horst Köhler beim Staatsakt zum 60jährigen Bestehen der Bundesrepublik in Berlin erklärte. Nur blieb er die Antwort auf die Frage schuldig, wieso die Freiheit, die in den Augen der Regierungsparteien und Kapitaleigner gemeint ist, mit sozialer Gleichheit partout unvereinbar sein soll. Ein Wundpflaster wie Köhlers Ruf, "wir wollen eine Gesellschaft sein, die nicht wegschaut, wenn Menschen in Not sind, und die keinen zurücklässt", kann die inneren Verletzungen der tiefen sozialen Malaise nicht lindern, geschweige denn heilen. Gute Wünsche zu festlichen Anlässen zu artikulieren gehört zu den Pflichten eines Staatsoberhaupts, das die Einheit eines Landes symbolisieren soll, das schon vom Konkurrenzcharakter seiner marktwirtschaftlichen Grundlegung her als Klassengesellschaft konzipiert war.

Diesen Sachverhalt zu hintertreiben ist wesentlicher Bestandteil einer Beschwichtigungsrhetorik, die immer wieder das angebliche Negativbeispiel der DDR heranzitieren muß, um den Eindruck einer positiven Entwicklung der BRD erwecken zu können. Aufschlußreicher als der breite Konsens, mit dem Grundgesetz und Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte gefeiert werden, ist die apologetische Schärfe, mit der gegen den Platzhalter des noch nicht formierten Subjekts des sozialen Widerstands zu Felde gezogen wird. Ohne die Reanimation eines vor 20 Jahren im Kampf der Systeme besiegten Feinds kann das Gelingen gesellschaftlicher Kohäsion nicht einmal im Ansatz postuliert werden, wie Köhler mit der Forderung beweist, die "Teilung unseres Landes" dürfe nicht "in der Arbeitslosenstatistik" fortbestehen. Die von ihm beklagte Spaltung des Landes in Ost und West ist ein nur schwaches Surrogat für die soziale Polarisierung, die für die Armen und Schwachen mit dem fortschreitenden Abbau minimaler Versorgungsgarantien allmählich die Gestalt einer Frage um Leben und Tod annimmt.

Der zentrale Angriffspunkt der Kritik aller Menschen, die sich von den politischen Repräsentanten ebenso wenig vertreten, wie sie sich sich von den Reichen übervorteilt fühlen, sollte im liberalistischen Kern der bundesrepublikanischen Leitdoktrin bestehen. Die Freiheitsideologie, mit der sich die Spitzen in Staat und Gesellschaft legitimieren, ist nur in dem Sinn als unterstellter Naturzustand zu verstehen, als damit das evolutionstheoretische Prinzip des sich gegenüber dem Schwachen durchsetzenden Starken gemeint ist. Die Egalität grundrechtlicher Werte läßt nicht nur bei ihrer rechtsimmanenten Verwirklichung stark zu wünschen übrig, wie die zunehmende Einschränkung bürgerlicher Freiheiten durch einen sich immer autoritärer gebärdenden Sicherheitsstaat belegt. Sie tritt vor allem als ideelles Konstrukt in Erscheinung, das durch die Ungleichheit materieller Realität aufs Schärfste kontrastiert wird. Wenn sich schon der bürgerliche Humanismus gegenüber den Autokraten des globalen Terrorkriegs in der Defensive befindet, wie ist es dann um Menschen bestellt, die die vielbeschworene "offene Gesellschaft" nicht als statisches Endprodukt liberaler Geschichtsphilosophie verstehen, sondern als prinzipiell ergebnisoffenen Entwicklungsschritt auf dem Weg in eine tatsächlich andere Welt?

Die herrschende Freiheit ist die des Kapitals, und wer sie sich anmaßen will, ohne zum Kreis der gesellschaftlichen "Leistungsträger", sprich Kapitaleigner, zu gehören, gerät schnell in abseitige Gefilde, in denen ihm die ungenügende Bemittelung zum Fallstrick wird. Die Freiheit, nach Maßgabe marktwirtschaftlicher und ordnungspolitischer Prinzipien zu verwerten, erlebt er als Spielball fremder Interessen, was im Resultat auf ein Leben unter ausgesprochen unfreien Bedingungen hinausläuft. Kapital und Staat treten bei der gesellschaftlichen Durchsetzung des ideologisch hegemonialen Liberalismus vorzugsweise als Kartell auf, unterliegt die demokratische Gesellschaftsgestaltung doch wesentlich institutionellen und medialen Instrumenten, die von Kapitalinteressen dominiert die Inhalte der Politik diktieren.

Allein die den Banken und Investoren zugutekommende Krisenregulation beweist auf eklatante Weise, daß der auch von vielen Linken heranzitierte Antagonismus zwischen Staat und Kapital oberflächlicher Art ist. Wo die konstitutionelle Reichweite des Volkssouveräns nicht genügt, um Kapitalmacht in ihrem legitimatorischen Zentrum, dem Eigentumsanspruch, in Frage zu stellen, bleibt ihre Vormachtstellung unangetastet. Obwohl die jahrelang gepredigten wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konzepte der je nach Saison sich neoliberal oder sozial larvierenden Marktwirtschaft auf frappante Weise in der unterstellten Zielsetzung einer Besserung der Lebenslage aller Menschen grandios gescheitert sind, wird ihre Gültigkeit mit quasi naturförmiger Trägheit fortgeschrieben.

So wird die dabei in den Ruch eines großangelegten Täuschungsmanövers geratene Freiheitsdoktrin um so aggressiver verteidigt, als ihre Kritiker auf der Linken versuchen, Vorteil aus der Schwäche des herrschenden Gesellschaftsmodells zu ziehen. Es ist an ihnen, das "Leuchtfeuer der Freiheit" nicht nur aus der Ferne kritisch zu würdigen, sondern bis auf den Grund seines Freiheitsanspruchs auszuloten, um den zur Reorganisation des angeschlagenen Verwertungssystems schreitenden Eliten Paroli zu bieten. Nur wenn sich auf breiter Ebene zeigt, daß die gewährten Möglichkeiten demokratischer Partizipation nicht dazu ausreichen, reale Machtverhältnisse zu überwinden, kann die Einsicht in die Notwendigkeit grundlegenderer Mittel und Wege der Veränderung wachsen. Den demokratischen Verfassungsanspruch in seiner liberalen Auslegung zu bestreiten und Grundrechte in ihrem sozialen und ökonomischen Gehalt zu stärken wäre ein Schritt in diese Richtung.

22. Mai 2009