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HERRSCHAFT/1544: Demokratieinszenierung tut not ... Präsidentenwahl in der Krise (SB)



Ausgerechnet anhand der Wahl des Bundespräsidenten über die "Kluft zwischen Volk und Politik" zu lamentieren und einen Herrenreiter wie Kurt Biedenkopf als Vorkämpfer für mehr Demokratie nachzulaufen zeugt von systematischer Irreführung. Die um die Kandidatur Joachim Gaucks entstandene Unterstützerbewegung gibt sich basisdemokratisch, weil ihr Held die Vokabel Freiheit so sehr mit herrschaftstragenden Inhalten befrachtet hat, daß eine sich daran emporrankende Demokratiebewegung keine Gefahr liefe, den Herrschenden gefährlich werdende Positionen durchzusetzen.

An keiner Stelle kann Gauck nachgesagt werden, seinem Freiheitspathos durch Herrschaftskritik gerecht zu werden. Obwohl er die Klage über die Staatssicherheit der DDR auch lange nach deren Beseitigung im Munde führt, hat er sich nicht deutlich gegen die monströsen Überwachungstechniken des modernen Sicherheitsstaats verwahrt. Obwohl er soziale Gerechtigkeit predigt, erfreut sich das Armutsregime Hartz IV seiner Gutheißung. Obwohl als Pfarrer dem Frieden verpflichtet, ist der Afghanistankrieg für ihn einer der Notwendigkeit. Gaucks Antikommunismus beschränkt sich nicht auf ein ideologisches Feindbild, er begreift die soziale Emanzipation als aller linken Politik zugrundeliegende Bedrohung.

Wollte man die Frage nach Demokratie in der Bundesrepublik aktualisieren, dann wäre vor allem die Sachzwanglogik zu bestreiten, hinter der sich die politische Funktionselite versteckt. Der mit der Weltwirtschaftskrise zur regelrechten Panzerung herrschender Interessen ausgewachsene Sparzwang ist nicht nur ungerecht, weil er die Ärmsten am härtesten trifft, er ist von grotesker Ignoranz gegenüber dem in der Bundesrepublik akkumulierten Reichtum und seiner Nutzbarmachung für allgemeingesellschaftliche Zwecke.

Die Anhänger Gaucks sind so entzückt von seiner präsidialen Statur, weil der in seiner Person konzentrierte Souveränitätsanspruch den eigentlichen Souverän vergessen macht. Die protokollarisch hochrangige Repräsentation staatlicher Macht durch ein Amt von weitgehender politischer Bedeutungslosigkeit paßt perfekt in den neofeudalen Ständestaat. In ihm wird das Volk auf bewährte Weise mit Brot und Spielen abgefüttert, während die einflußreichen Strippenzieher hinter dem bürokratischen Getriebe, das ihre Ziele auf breiter Ebene verwirklicht, und der angeblich alternativlosen Logik betriebswirtschaftlicher Rentabilität weitgehend unsichtbar werden.

Der so schmachvoll abgedankte Horst Köhler ist nicht umsonst über den Versuch gestolpert, den Krieg als Triebkraft und Konsequenz kapitalistischer Vergesellschaftung zu moderieren. Das war bei aller Ungeschicklichkeit zu realitätstauglich, als daß es ihm nicht als Mißverständnis angelastet werden mußte. Die ungenügende demokratische Willensbildung durch die Bevölkerung hätte, anstatt mit hohlen Freiheitsphrasen übertüncht zu werden, im öffentlichen Streit als solche sichtbar werden können. Wenn sich Risse am Firmament des propagierten Wertekosmos auftun und die Schwäche der erwünschten Konsensbildung offenkundig wird, dann könnten zumindest einige Menschen ins Nachdenken geraten und Fragen artikulieren, auf die die dafür zuständigen Politiker keine befriedigende Antwort fänden.

Anlässe dafür gibt es genügend. Der undemokratische Anschluß der DDR an die BRD hat die Erwerbsexistenz von Millionen zerstört und letzte Hindernisse für die deutsche Kriegführung aus dem Weg geräumt. Die unter den Regierungen ausgemachte Umwandlung der NATO von einem regionalen Verteidigungs- zu einem globalen Interventionsbündnis und das neoliberale Elitenprojekt der europäischen Integration bilden eine postdemokratische Realität ab, die als solche zu verharmlosen eine der wichtigsten Aufgaben des Bundespräsidenten ist. Vor allem jedoch muß das Loch einer sozialen Glaubwürdigkeit gestopft werden, das die Alimentierung des Finanzkapitals zu Lasten der Steuerzahler geschlagen hat. In der Klemme einer überbordenden Staatsschuld, in die sich die Politik durch den Ausverkauf des gesamtgesellschaftlichen Interesses an das Primat der Ökonomisierung hineinmanövriert hat, suchen die etablierten Parteien fast schon verzweifelt nach Inhalten, die die Identifikation der Bürger mit dem Staat gewährleisten.

Die Wahl des Bundespräsidenten zeigt, wie wenig die Institutionen und Prozeduren demokratischer Repräsentanz noch in der Lage sind, gesellschaftliche Kohäsion zu schaffen. Die vielzitierte Unzufriedenheit der Bürger mit der Regierung gilt, wenn sie nur konsequent zuendegedacht wird, dem System kapitalistischer Verwertung. Dafür zu sorgen, daß es dazu nicht kommt, ist das Geheimnis erfolgreicher Regierungspolitik.

30. Juni 2010