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HERRSCHAFT/1563: Angela Merkel proklamiert den sozialen Ausnahmezustand (SB)



Von einer Krise der Volkspartei CDU zu sprechen, weil die Umfragewerte im Keller sind, ist nicht Sache ihrer wiedergewählten Vorsitzenden Angela Merkel. Ihr Geschäft ist große Politik, wie sie auf europäischer Bühne wiederholt bewiesen hat, und zwar eines Landes, das mit seinen Pfunden wuchert. "Gemeinsam. Für ein starkes Deutschland" - der am Rednerpult angebrachte Leitsatz unterstreicht ihre Rede wie eine permanente Bildunterschrift, deren Niveau die Kanzlerin nur zur Strafe des persönlichen Niedergangs unterschreiten könnte. Die Stärke der Nation nach außen erfordert Geschlossenheit nach innen, das hat Merkel mit der Absage an Multikulti, einem ihrer Ansicht nach kontrapoduktiven Nebeneinanderherleben, bereits festgestellt. Was sich horizontal in Wohlgefallen auflösen könnte, soll vertikal um so strikter in die Pflicht einer Klassengesellschaft genommen werden, deren notwendiger Interessenausgleich darüber organisiert wird, daß man die eigenen Probleme ökonomisch wie militärisch in alle Welt exportiert.

Ökonomisch durch eine Politik nach unten offener Lohnniveaus, mit der auch noch den geringsten Insassen dieser Mangelordnung vor Augen geführt werden kann, daß es ihnen in anderen Teilen der Welt bedeutend schlechter ginge, sie also keinen Grund zum Aufbegehren hätten. Militärisch durch die Einbindung Deutschlands in ein Militärbündnis, das die Sicherung europäischer und nordamerikanischer Verwertungsinteressen auf zusehends aggressive Art und Weise garantiert. In einer Reminiszenz an den vorzeitig ausgeschiedenen Bundespräsidenten Horst Köhler straft sie die Opposition dafür ab, daß die Menschen keinen Respekt vor der Politik mehr hätten. Wenn diese "die Grenzen ihres Anstandes verliert", indem explizite Kritik am Staatsoberhaupt für dessen Plädoyer für neue Wirtschaftskriege geübt würde, dann sei das "keine Lappalie, sondern von größter staatspolitischer Bedeutung für die Zukunft unseres Landes".

Diese Zukunft steht und fällt in den Augen der Kanzlerin mit der Integration der Bevölkerung in eine Gesellschaft, die ihre Verkehrs- und Infrastrukturprojekte keinen Naturschützern ausliefern darf, die den Wohlstand behinderten, um Juchtenkäfer und Kammolche zu schützen. Es gebe keinen Rechtsanspruch auf Wohlstand - ungeachtet eines Rechtsanspruchs auf Eigentum, der kleinste Gelegenheitsdiebe an Haken hängt, mit denen Milliarden gemacht werden -, denn die Welt schläft nicht, sondern steht bereit, der Bundesrepublik ihren Produktivitätsvorsprung abzujagen. Merkel entwirft das Bild einer Bedrohung durch andere Bevölkerungen, die es auch so gut wie die Deutschen haben wollen, was man ihnen nicht verdenken könne, wohl aber verwehren kann. Diese Wehrhaftigkeit besteht in einer durchkapitalisierten Welt in der Wahrung ökonomischer Vorteile einer Arbeitsgesellschaft, in der der Begriff der Arbeit von dem durch sie zu produzierenden Wert so wirksam gelöst wird, daß das Mißverhältnis zwischen arm und reich nicht als solches verstanden und bekämpft wird.

Dementiert wird es durch einen auf Notgemeinschaft reduzierten Abglanz menschlicher Solidarität, die mit hehren Worten desto schwülstiger beschworen wird, als ihre offenkundige Abwesenheit zum Himmel stinkt. Jeder werde in unserem Land gebraucht, keine einzige Gruppe dürfe ausgeschlossen werden, so die Kanzlerin in Richtung aller Abweichler, die sich diesem Konsens nicht unterwerfen wollen. Eingefordert wird die Anpassung an eine wirtschaftspolitische Vernunft, die mit Schuldenbremse und Sparpaket die Rentabilität einer Kapitalakkumulation verherrlicht, die dem ihr zugrundeliegenden Mangel entsprechend zunimmt. Merkels Loblied auf das Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik mündet nicht umsonst in den ausdrücklichen Dank an die Polizei, die die Freiheit garantiere, daß man in BRD demonstrieren "darf". Wann immer die Kanzlerin das Wort "Freiheit" in den Mund nimmt, folgt deren autoritäre Durchsetzung auf den Fuß. Sie muß "jeden Tag aufs Neue verteidigt werden", es dürfe "keine rechtsfreien Räume" geben, daher kein Verzicht auf die Vorratsdatenspeicherung und andere Mittel vorsorglicher Überwachung.

Was der eigenen Bevölkerung an Mißtrauen entgegengebracht wird, manifestiert sich nach außen erst recht als eine Stärke, die jedes dagegen gerichtete Argument bedeutungslos macht. Das gilt nicht nur für die innere und äußere Sicherheit, die sich angeblich immer weniger unterscheiden ließen, so daß der Feind im Ergebnis auch aus Regierungssicht ebenso in Afghanistan wie im eigenen Land steht. Wenn das Feld deutscher Interessen in aller Welt mit militärischen Mitteln bestellt wird, dann gehört zu seinem Ertrag auch eine Zuwanderung, die nur die Besten durchläßt, während alle anderen draußen vor der Tür bleiben müssen. Zuwanderung in soziale Systeme dürfe es mit dieser christlichen Partei nicht geben, stellt Merkel fest, als wären Migrantinnen und Migranten, die nicht gewinnträchtig in die große Maschine einzuspeisen sind, von vornherein darauf aus, den Bundesbürgern die Butter vom Brot zu nehmen.

Angela Merkels mit der Vokabel "christlich" inflationär überfrachtete Rede kann als Kampfansage an all diejenigen verstanden werden, die in einem nicht nur christlichen Sinne für den anderen einstehen, weil ihnen Leid und Schmerz unteilbar sind. Wenn die Kanzlerin dazu auffordert, "gemeinsam für ein starkes Deutschland zu arbeiten nach innen wie nach außen", um "Entscheidungen, wie wir sie in diesem Herbst treffen", in ihrer Unabdinglichkeit unter Beweis zu stellen, dann ruft sie kaum verhohlen den sozialen Ausnahmezustand aus. Ihr geht es um nichts geringeres als "um das Ganze. Scheitert der Euro, dann Europa". Mit dem Scheitern dieser Friedensordnung an nichts anderem als der Sicherung ökonomischen Vorteilsstrebens stellt sich die Frage des Krieges erneut, und zwar nicht als schicksalhafte Herausforderung, sondern als in Eigeninteresse herbeigeführtes Verhängnis.

16. November 2010