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HERRSCHAFT/1587: Palästinensischem Führungszirkel steht das Wasser bis zum Hals (SB)



Die Veröffentlichung der Palestine Papers durch den panarabischen Nachrichtensender Al-Dschasira und die britische Tageszeitung The Guardian hatten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) einen schweren Schlag versetzt. Wie aus den Dokumenten hervorging, war deren Führung um Mahmud Abbas offenbar entgegen allen öffentlichen Darstellungen zu weitreichenden Zugeständnissen in den Friedensverhandlungen mit Israel bereit. Nach den jüngsten Umwälzungen in der arabischen Welt und insbesondere in Ägypten steht dem Führungszirkel der PA das Wasser bis zum Hals, muß er doch fürchten, für seine Kollaboration mit Israel und den USA, seinen illegitimen Führungsanspruch und nicht zuletzt die Korruption in seinen Reihen von den palästinensischen Landsleuten zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Wie jede politische Führung in schwerer Bedrängnis versucht auch die palästinensische im Westjordanland, Köpfe von Sündenböcken rollen zu lassen, einen Neubeginn vorzutäuschen und mit der Proklamation von Perspektiven die grundlegenden Widersprüche vergessen zu machen. Erstes und prominentestes Opfer der simulierten Säuberung war Chefunterhändler Sajeb Erekat, der von seinem Amt zurückgetreten ist. Mit diesem Schritt übernehme er die Verantwortung für den Diebstahl von Dokumenten zum Friedensprozeß aus seinem Büro, die durch den Fernsehsender Al-Dschasira veröffentlicht worden waren. Erekat betonte zugleich, daß die fraglichen Dokumente vorsätzlich "verfälscht" worden seien. Sajeb Erekat, der ein langjähriger Vertrauter des unter ungeklärten Umständen verstorbenen Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat und seit Anfang der 1990er Jahre an nahezu allen Verhandlungen mit Israel beteiligt gewesen war, galt bislang als Schlüsselfigur der palästinensischen Politik. [1]

Um ihren fragwürdigen und kaum noch haltbaren Status zu verschleiern, ist die Palästinenserregierung im Westjordanland zurückgetreten - nicht jedoch, um einen durch weitreichende Mitsprache der Bevölkerung legitimierten Prozeß politischer Neuausrichtung in Gang zu setzen. Vielmehr hat Planungsminister Ali Dscharbawi gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters verlauten lassen, daß Ministerpräsident Salam Fajjad von Präsident Mahmud Abbas den Auftrag erhalten habe, eine neue Regierung zusammenzustellen: "Es wird so bald wie möglich ein neues Kabinett gebildet." [2]

Da die Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die Vetternwirtschaft auf Regierungsebene gärt, dringt Fajjad schon geraume Zeit auf eine Kabinettsumbildung. Entsprechende Forderungen wurden aber auch in der Fatah-Partei laut, die ein Ventil für den wachsenden Druck sucht und ohnehin unzufrieden mit der Zusammensetzung der Regierung war. Die Fatah sah sich im Kabinett nicht ausreichend repräsentiert, da die Schlüsselressorts in der Regierung von sogenannten unabhängigen Fachleuten besetzt wurden. Ohnehin waren im scheidenden Kabinett nur 16 von 24 möglichen Posten vergeben: Zwei Minister waren zurückgetreten und sechs sitzen im Gazastreifen fest.

Die Hamas lehnte die geplante Umbildung der Regierung umgehend als "illegale Maßnahme" ab. Wie Hamas-Sprecher Sami Abu Suhri hervorhob, müsse die Regierung das Vertrauen des Parlaments gewinnen. Der geplante Schritt solle offensichtlich "die Skandale verschleiern, die Al-Dschasira letzten Monat aufgedeckt hat". [3]

Das Exekutivkomitee der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) kündigte zudem an, daß die seit langem überfälligen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in den Palästinensergebieten bis September abgehalten werden sollen. Indessen reicht der Einfluß der Palästinenserregierung kaum über die Grenze des Westjordanlandes hinaus. Im Gazastreifen herrscht die nicht in der PLO vertretene Hamas, in Ostjerusalem untersagen die israelischen Behörden den Palästinensern jede Form der politischen Aktivität. Hamas-Sprecher Fawzi Barhoum kündigte einen Wahlboykott an und erklärte, man werde auch die Wahlergebnisse nicht anerkennen.

Die Hamas hatte die allgemeinen Wahlen im Westjordanland und Gazastreifen 2006 mit absoluter Mehrheit gewonnen, worauf sie die letzte demokratisch gewählte Regierung der Palästinenser bildete. Diese wurde jedoch weder von Israel, den USA und den Mächten Europas, noch von der Fatah anerkannt. Der von israelischer und US-amerikanischer Seite finanzierte und munitionierte Machtkampf der Fatah gegen die Hamas kulminierte in einem gescheiterten Putschversuch, bei dem die Hamas im Juni 2007 das Blatt wendete und die Fatah nach blutigen Gefechten aus dem 2005 von den Israelis geräumten Gazastreifen vertrieb. Abbas löste daraufhin die Hamas-geführte Einheitsregierung unter Premier Ismail Hanijeh auf und setzte im Westjordanland ein Notstandskabinett unter Fajjad ein.

Im September 2007 verfügte Abbas per Dekret eine Änderung des Wahlgesetzes, um Kandidaten der Hamas faktisch von der Teilnahme an Wahlen auszuschließen. Der Erlaß sah vor, daß alle Kandidaten das politische Programm der PLO und die von ihr geschlossenen internationalen Abkommen anerkennen müssen. Die Hamas lehnt jedoch das PLO-Programm ab, weil Israel darin anerkannt wird, und hat Abbas das Recht abgesprochen, das Wahlgesetz eigenmächtig zu ändern. Die offizielle Amtszeit von Abbas lief im Januar 2009 ab. Parlamentswahlen wären im Januar 2010 fällig gewesen, doch verhinderte der Konflikt zwischen den beiden größten Palästinenserorganisationen Fatah und Hamas bislang Neuwahlen. [4]

Die Hamas vertritt die Auffassung, daß Wahlen erst dann durchgeführt werden sollen, wenn zuvor ein Versöhnungsprozeß zwischen ihr und der Fatah stattgefunden hat. Dieser müsse auch eine Umbildung der PLO zur Wiederaufnahme der Hamas zum Inhalt haben. Hamas-Sprecher Fawzi Barhoum faßte den Rücktritt Erekats als Beweis dafür auf, daß die Verhandlungen und Friedensbemühungen mit Israel gescheitert seien. Die palästinensische Führung solle daher "alle Formen der Koordination mit dem zionistischen Feind" beenden. [5]

Der Rücktritt Sajeb Erekats und die angekündigte Umbildung der Regierung stellen eine Zäsur dar, die deutlich macht, daß es mit Bauernopfern nicht getan ist, will man die Haut eigener Beteiligung an einem System zur Befriedung und Austrocknung fundamentalen Widerstands gegen das Besatzungsregime und darüber hinaus die innerpalästinensischen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse vor dem drohenden Sturm des Aufbegehrens retten. Wie die rasant kulminierenden und in ihrer letztendlichen Stoßrichtung und Tragweite noch längst nicht abzusehenden Umwälzungsprozesse im Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern unterstreichen, ist auch das Gefängnis der Palästinenser trotz aller Waffengewalt, ökonomischen Übermacht und administrativen Zwangswerkzeugen seiner Wächter auf den Sand der Teilhaberschaft gebaut.

Anmerkungen:

[1] Es gärt in der palästinensischen Führung. Verhandlungsführer Erekat zurückgetreten - Neuwahlen angekündigt NZZ Online

[2] Reaktion auf Ägypten. Palästinenserkabinett ist zurückgetreten (14.02.11)
http://www.fr-online.de/politik/spezials/aufruhr-in-arabien/palaestinenserkabinett-ist-zurueckgetreten/-/7151782/7191156/-/view/asFirstTeaser/-/index.html

[3] Konflikte. Abbas beauftragt Fajad mit Regierungsbildung (14.02.11)
http://www.focus.de/politik/ausland/konflikte-abbas-beauftragt-fajad-mit-regierungsbildung_aid_599736.html

[4] Alter, neuer Premier. Palästinenser-Regierung zurückgetreten (14.02.11)
http://derstandard.at/1297216262763/Alter-neuer-Premier-Palaestinenser-Regierung-zurueckgetreten

[5] Palestinian Leaders Suddenly Call for Elections (12.02.11)
New York Times

14. Februar 2011