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HERRSCHAFT/1683: Ausgerissene Wurzeln (SB)




Die SPD beruft sich auf 150 Jahre Parteigeschichte, will sich jedoch keinesfalls an deren historischen Ausgangsbedingungen messen lassen. So beantwortet der ehemalige Parteichef Franz Müntefering die im Deutschlandfunk [1] an ihn gestellte Frage, was von ihrer Verankerung in der "einstigen Arbeiterbewegung" noch übrig sei, mit der Erklärung, daß "die Zeiten anders sind" und die Partei dementsprechend "ganz und gar anders geworden" sei. Man habe viel erreicht und es gebe noch viel zu tun, seien doch die Welt und der Kapitalismus nicht mehr so wie vor 150 Jahren. Um angesichts des Eingeständnisses, daß die Partei sich den gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen hat, anstatt die Bedingungen kapitalistischer Herrschaft zu bestreiten, so etwas wie einen Wertekern der SPD beanspruchen zu können, ohne den die Feier der Tradition jeder inhaltlichen Kontinuität beraubt wäre, bemühen führende Sozialdemokraten Vokabeln wie "Freiheit" und "Gerechtigkeit". Man macht geltend, 1933 nicht dem Ermächtigungsgesetz der Nazis zugestimmt und sich auch ansonsten stets für Demokratie und Bürgerrechte stark gemacht zu haben, um einen Ruf zu retten, der im Spiegel der Geschichte von unten kaum ruinierter sein könnte.

Die SPD kündigte schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs ihren internationalistischen Anspruch auf, setzte an dessen Ende die Etablierung der bürgerlichen Republik gegen den revolutionären Sieg der von ihr beanspruchten Klassenmacht durch, nahm diese auch nicht in Anspruch, um die Herrschaft des Faschismus mit allen Mitteln zu verhindern, zog in der BRD keine Konsequenz aus dem Bündnis von Nazis und Kapital, sondern machte sich als Sachwalterin des Klassenkompromisses für die antikommunistische Hegemonie der NATO-Staaten unverzichtbar. Willy Brandts am heutigen Tag vielzitierte Forderung "Mehr Demokratie wagen" bahnte dem Radikalenerlaß und weiteren Verschärfungen autoritärer Staatlichkeit den Weg, dem Anschluß der DDR an die BRD wurde tatkräftig zugearbeitet, anstatt der selbstbestimmten und demokratischen Entwicklung einer gesellschaftlichen Alternative in einem anderen Deutschland Raum zu geben. Gerhard Schröder schließlich führte die Bundesrepublik in den Angriffskrieg gegen Jugoslawien, er forcierte in Tateinheit mit dem britischen New Labour-Chef Tony Blair die Durchsetzung der neoliberalen Marktwirtschaft und zementierte mit der Agenda 2010 die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit.

Es gibt also viel zu feiern, und zwar die längst vollendete Karriere der SPD zu einer Partei der Klientel- und Standortpolitik. Die Unentbehrlichkeit dieser Volkspartei gründet darauf, das Prinzip des Teilens und Herrschens ganz im Sinne der Antworten, die die jeweilige Zeit verlangt, stets so zu qualifizieren, daß der drängenden gesellschaftlichen Widerspruchslagen entspringende soziale Widerstand in den Instanzen der Stellvertreterpolitik, der Sachzwanglogik und der Repressionsdrohung verebbt. Dabei brauchen Sozialdemokraten keinesfalls den Anspruch aufzugeben, Arbeiterinteressen zu vertreten, werden diese doch an einen - 2006 in Münteferings Aussage "Nur wer arbeitet, soll auch essen" exemplarisch bestimmten - Ethos der Arbeitsgesellschaft adressiert, der von jedem Zwang zur Kapitalverwertung und jeder Fremdbestimmung absieht, um die Unterwerfung unter das Prinzip mehrwertproduzierender Lohnarbeit zur Bedingung gesellschaftlicher Teilhabe zu machen.

Die Meriten, die sich die deutsche Sozialdemokratie redlich verdient hat, liegen in der Auflösung jedes Begriffs von Klasse zugunsten einer sozialen Atomisierung, in der die verschiedenen Formen gesellschaftlicher Überlebenssicherung - Sozialhilfeempfänger, Langzeitarbeitslose, Pensionäre, Leiharbeiter, Festbeschäftigte, Selbständige, Staatsbedienstete, Kapitalrentiers - gegeneinander positioniert und sozialpartnerschaftlich befriedet werden. Wenn die von SPD-Mitgliedern dominierten DGB-Gewerkschaften Arbeitsplatzsicherung in der Rüstungsindustrie oder Standortpolitik gegen die Beschäftigten in anderen europäischen Ländern betreiben, wenn SPD-Politiker wie Thilo Sarrazin den Volkszorn gegen Migranten und Erwerbslose schüren und sozialdemokratische Regierungspolitiker Hartz IV-Abhängige als arbeitsscheu diffamieren, dann ist das Ausdruck der Konstitution einer Herrschaft, die behauptet, keine Beherrschten zu kennen, sondern nur Staatsbürger oder Staatsfeinde.

Letzteren werden diejenigen Menschen zugeschlagen, die noch unbescheiden genug sind, sich nicht mit den Brosamen zufrieden zu geben, die vom Tisch der Satten fallen, um anstelle dessen die System- und die Eigentumsfrage zu stellen. Wo sozialer Widerstand an den Grundfesten der herrschenden Ordnung rüttelt, als deren Sachwalterin sich die Sozialdemokratie gefällt, da schließt sich der Kreis zu einer revolutionären Tradition, auf die sich die SPD nicht mehr berufen will, weil sie längst auf der anderen Seite steht. Daß dieser Widerstand heute anderer Gestalt ist, weil er die ökologische Zukunft aller Lebewesen in Gefahr sieht, weil er fundamentale Kritik am ökonomischen Wachstumsprimat, an der betrieblichen Rationalisierungsdoktrin und der technisch-wissenschaftlichen Produktivkraftentwicklung übt, weil er solidarisch zu den Kämpfen aller Unterdrückten und Ausgebeuteten steht, anstatt einer territorial umgrenzten Entwicklungslogik zu frönen, die Erfolg und Stärke von Staat und Nation verherrlicht, macht ihn untauglich für eine gesellschaftliche Teilhaberschaft, die im Ergebnis unumkehrbarer Beherrschbarkeit ihr zentrales Ziel sieht.

Fußnote:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2116968/

23. Mai 2013