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HERRSCHAFT/1696: Wertegemeinschaft und Mangelverwaltung - Fallbeispiel Griechenland (SB)




Zwar hat die verletzende Polemik über "Pleitegriechen" nachgelassen, doch das heißt nicht, daß in der Bundesrepublik ein anderes Bild vermittelt würde als das mit dieser Herabsetzung bezweckte. Die soziale Krise im Land ist wesentlich Folge selbstverschuldeten Mißmanagements, deshalb zahlen "wir" nicht für "ihre" Krise. Diese Behauptung hat den doppelten Vorteil, die materiell schlechter gestellte BRD-Bevölkerung in den Konsens der Krisengewinner einbinden zu können und sie mit Hilfe massenmedial induzierter Entsolidarisierung in der Gewißheit zu wiegen, vor einer derart eklatanten Verarmung und Verelendung, wie sie die griechische Bevölkerung erleidet, verschont zu bleiben. Das bewährte Rezept des Teilens und Herrschens suggeriert, daß der eigene Schutz vor dem Absturz ins Nichts desto größer ist, als der andere kompromißlos seinem Schicksal überlassen wird.

Im direkten Vergleich zwischen dem Lebensstandard der deutschen und griechischen Bevölkerung wird nicht etwa der Ruf nach Angleichung auf europäischer Ebene laut. Das Gefälle zwischen westeuropäischem Zentrum und südeuropäischer Peripherie wird ganz im Gegenteil als Katalysator einer Renationalisierung der europäischen Integration verwendet, die zwar nicht den Staatenbund in Frage stellt, seinen Nutzen aber in der neoliberalen und klassengesellschaftlichen Konstitution nationalökonomischen Vorteilsstrebens verortet.

Seit die Parole, daß der Hauptfeind im eigenen Land steht, der antikommunistischen Inquisition zum Opfer gefallen ist, feiert die Zustimmung der abhängig Beschäftigten und auf Sozialtransfers angewiesenen Menschen zu ihrer eigenen Unterwerfung neue Triumphe gesellschaftlicher Befriedung. So führt das sozialdarwinistische Fluchtschema verläßlich in die Atomisierung der Menschen in Monaden eigenen Überlebensinteresses und verhindert, daß der virulente Verdacht, eine absichtsvoll und sehenden Auges erzeugte soziale Krise könne in einem vereinten Europa auf Dauer kaum das exklusive Schicksal der davon betroffenen Bevölkerung bleiben, keine politische Wirkung entfaltet. Die Rationalisierung der Arbeitsgesellschaft durch das Regime des "Förderns und Forderns" verhilft dem marktwirtschaftlichen Konkurrenzprinzip auch dort zur Wirkung, wo es ökonomisch kaum etwas zu gewinnen, aber politisch sehr viel zu verlieren gibt, nämlich die Kraft der Menschen, eigene Angst und fremden Zwang zu überwinden.

Die Bevölkerung Griechenlands hat sich mit zahlreichen Großdemonstrationen und Generalstreiks gegen die Austeritätspolitik der Troika aufgelehnt, so daß deren Sachwalter allen Grund haben, das Programm gesamtgesellschaftlicher Rationalisierung zur unumkehrbaren Befriedung dieses Widerstands einzusetzen. So treffen die Spardiktate, die Griechenland im Gegenzug zur Refinanzierung der Staatsschuld verordnet werden, die ohnehin ärmsten und verletzlichsten Teile der Bevölkerung nicht nur im Sinne eines bloßen "Kollateralschadens". Sie sind Bestandteil eines sozialstrategischen Umbaus der Gesellschaft, die das Maximum an Anpassungs- und Leistungsbereitschaft gerade dort hervorbringen soll, wo diese vermeintlichen Tugenden am wenigsten gewährleistet sind. Um Innovationsdynamik und Wettbewerbsfähigkeit zu erzeugen, muß der als "Humankapital" deklarierte Mensch nicht minder als natürliche Ressource und öffentliches Eigentum auf funktionsadäquate und widerstandsarme Weise in die jeweiligen Produktionsverhältnisse und Wertschöpfungsketten eingespeist werden.

Die EU soll die ökonomische und politische Schlagkraft ihrer Mitgliedstaaten mit dem Ziel bündeln, das handels- und währungspolitische Gewicht ihrer führenden Staaten im kapitalistischen Weltsystem zu vergrößern. Die dazu erforderliche Inwertsetzung von produktiver Arbeit kann unter den Bedingungen einer Sozialstaatlichkeit, die den Mangel aus humanistischen Erwägungen lindert, nicht gelingen. Wie im System der Agenda 2010 vorgesehen, wird den Menschen klargemacht, daß die Mindestvoraussetzung zur Gewährleistung eines notdürftigen Existenzminimums darin besteht, sich als produktives Mitlied der Wettbewerbsgesellschaft zu bewähren oder zumindest alles dafür zu tun, daß die Disposition dazu aktiviert bleibt. Weil es in Griechenland bei weitem nicht genug bezahlbare Arbeit gibt, die der vergeblichen Mühe, einen Job mit angemessener Bezahlung zu erhalten, auch nur den Sinn verliehe, es zumindest versucht zu haben, und weil die von der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) angewendete Austeritätspolitik die Voraussetzungen für eine gesamtgesellschaftliche ökonomische Erholung nicht verbessert, sondern lediglich die private Aneignung brachliegender Produktivpotentiale begünstigt und absehbar bloße Insellösungen produktiver Kapitalverwertung schafft, wirkt sie wie eine verfehlte Rezeptur sozialer Grausamkeit.

Um so plausibler erscheint die These, daß der Angriff auf die Lebensverhältnisse der Menschen einer Transformationslogik geschuldet ist, die, wie von Detlef Hartmann in "Krisenlabor Griechenland" 2010 ausführlich beschrieben, die Überwindung des individuellen wie kollektiven Widerstands gegen die umfassende Inwertsetzung menschlicher Subjektivität nach Maßgabe des neoliberalen Prinzips der "schöpferischen Zerstörung" bezweckt:

"Dazu gehört nicht nur die Gegenmacht der ArbeiterInnenklasse in ihrer Auseinandersetzung mit Lohndiktaten, den Strategien ihrer Verflüssigung durch Ausweitung von Leih- und Teilzeitarbeit, den Zwängen zur Selbstinwertsetzung und -mobilisierung im postmodernen Management von Human Ressources. Dazu gehören tradierte Lebensweise und soziale Zusammenhänge, die Grenzen der Selbstbestimmungsrechte, staatsbürgerliche Rechte und Vertrauen auf demokratische Kontrolle und Schutz. Dazu gehören die den tradierten Lebensweisen und -garantien verhafteten Einstellungen und Mentalitäten. Die Schwierigkeiten, denen die Durchbruchstrategien aus den kapitalistischen Kernen begegnen würden, äußerten sich am stärksten in den Peripherien ihrer Zugriffe. In Europa hieß dies: der massive Widerstand aus Griechenland gegen die Mobilisierung der sozialen Verhältnisse unter dem Diktat der Schuldenkrise äußerte in komprimierter Weise die materialistischen Qualitäten dieser Resistenzen und Blockierungen. So wurde die Auseinandersetzung hiermit zum Prüfstein und Labor der kapitalistischen Reorganisationsoffensive in Europa. Diesen Stein, diese Barrieren galt es exemplarisch zu sprengen, um ihren Durchbruch zu ermöglichen. Die Menschen, die diese Resistenzen in Griechenland zum Ausdruck bringen, gilt es in einem tagtäglich unter dem Marktterror betriebenen Umformatierungsprozess exemplarisch zu disziplinieren, um dann etappenweise die weiteren europäischen Resistenzen bis an die hegemonialen Kerne heran zu überwinden." [1]

So stützen die Spardiktate und Privatisierungsauflagen der Troika das in den Defizitkreisläufen zwischen Staatskredit und Finanzspekulation fiktiv gewordene Kapital, indem die unzureichende Wertschöpfung durch Arbeit in der Entwertung der Menschen, die sie nicht mehr verrichten, zu bloßen Kostenfaktoren administrativ verfügt wird. Wie der Widerstand gegen die Zurichtung der ganzen Gesellschaft auf den Primat des Wettbewerbs zeigt, ist die Qualifizierung der Beherrschbarkeit des Menschen zwingende Voraussetzung eines Krisenmanagements, das die Krise nicht nur erleidet oder verwaltet, sondern zur Optimierung der eigenen Herrschaftseffizienz strategisch einsetzt.

So dementiert die Krise des griechischen Gesundheitssystems, in der die Bereitschaft, notleidende Menschen lebensbedrohendem Mangel auszusetzen, besonders drastisch hervortritt [2], den humanistischen Anspruch der Wertegemeinschaft durch die betriebswirtschaftliche Kalkulation des Lebens. Der lohnabhängige Mensch wird für Produktionsverhältnisse rechenschaftspflichtig gemacht, deren scheiternde Rentabilität nicht der Verweigerung seiner Arbeitskraft geschuldet ist, sondern dem Interesse, sie zu Bedingungen in Anspruch zu nehmen, die den Erhalt seines Lebens nicht garantieren können. Dafür gestraft zu werden, einfach nur leben zu wollen, zeigt, daß das komplexe Regelwerk staatlicher Mangelverwaltung in der Rechtlosigkeit seiner Subjekte so gut aufgehoben ist wie der Werteanspruch der EU im "Unwert" der Menschen, die ihm nicht nur an ihren äußeren Grenzen, sondern inmitten ihrer Metropole erliegen.


Fußnoten:

[1] S. 83f, Detlef Hartmann/John Malamatinas: Krisenlabor Griechenland - Finanzmärkte, Kämpfe und die Neuordnung Europas, Berlin/Hamburg 2011
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar565.html

[2] BERICHT/014: Sparfalle Griechenland - Genötigt, vertrieben, ausgeliefert (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0014.html

21. April 2014