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HERRSCHAFT/1713: Die Moral der Habenichtse ... (SB)



Je vehementer die Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen in der Bundesrepublik geführt wird, desto konsequenter werden die Fluchtursachen ausgeblendet. Als suchten diese Menschen Zuflucht in einer vermeintlich heilen deutschen Welt, die in keiner Weise für ihre Misere verantwortlich ist, erscheinen die anschwellenden Wanderungsbewegungen aus den Ländern des globalen Südens wie eine Naturkatastrophe. Dabei wurden die entscheidenden Weichenstellungen, die in den Herkunftsländern der Flüchtlinge Armut und Hunger wie Gewalt und Krieg entfacht haben, vor allem in den Staaten Westeuropas und Nordamerikas vollzogen. Die im letzten Vierteljahrhundert auf dem Balkan und in den Anrainerstaaten des Mittelmeers entfesselten Kriege haben Millionen Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat getrieben, und der von den Industriestaaten am meisten zu verantwortende Klimawandel wie die Handelsstrategien der EU tun ein übriges, ganzen Bevölkerungen die Lebensgrundlage zu entziehen.

Auf den ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran, der mit Unterstützung Saddam Husseins durch die USA gegen die mit Washington verfeindete Islamische Republik geführt wurde und die elementare Schwächung beider Kriegsparteien bewirkte, folgte der zweite Golfkrieg 1991, bei dem es keineswegs nur um die sogenannte Befreiung Kuwaits ging. Nach der systematischen Zerstörung der zivilen Infrastruktur des Iraks durch die Golfkriegsalliierten wurde das Land mit einem Wirtschaftsembargo belegt, das weiteren hunderttausenden Menschen den vorzeitigen Tod brachte und die säkulare und moderne Gesellschaft des Landes um mehrere Jahrzehnte zurückwarf. Von der Eroberung des Landes durch die US-geführte Koalition der Willigen 2003 hat sich der Irak bis heute nicht erholt. Der IS entstand in direkter Folge der Zerschlagung des Iraks zu einer heterogenen, niemals vollständig befriedeten Konfliktregion, die starke Tendenzen zum weiteren Zerfall aufweist, und ist wesentlich für Migrationsströme in Richtung Europa aus dem Norden des Landes verantwortlich.

Die gegen die syrische Regierung unter Bashir al-Assad protestierende Demokratiebewegung wurde von westlichen Staaten vereinnahmt, die zuvor kein Problem damit hatten, im Rahmen der Terrorismusbekämpfung auf das repressive Gewaltpotential des syrischen Staates zu setzen. Der bis heute andauernde Bürgerkrieg ist nur bedingt als solcher zu bezeichnen, sind dort doch bewaffnete Kräfte aktiv, die sich materieller und politischer Unterstützung aus den NATO-Staaten erfreuen. Die syrische Regierung wird vor allem deshalb politisch und mit dem Mittel der Sanktionspolitik isoliert, weil ihr Bündnis mit dem Iran den Hegemonialanspruch der NATO-Staaten im Nahen und Mittleren Osten in Frage stellt.

Auch im Krieg gegen Libyen bediente man sich einer Demokratiebewegung, deren Eigenständigkeit durch ihre äußere Instrumentalisierung aufgehoben und in eine geostrategische Waffe verwandelt wurde. Wie Syrien und der Irak fällt Libyen heute unter die Kategorie gescheiterter Staatlichkeit, so der politikwissenschaftliche Begriff für den Versuch, von den machtpolitischen Beweggründen zu abstrahieren, andere Gesellschaften systematisch zum eigenen Nutzen zu zersetzen. Es ging der US-Regierung 2003 erklärtermaßen um die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens, und die kann eben auch die Form der permanenten Schwächung potentieller Gegner annehmen. Saddam Hussein, Muamar al-Gadafi, Bashir al-Assad - wie autokratisch der Regierungsstil dieser Despoten auch immer war und ist, die von außen initiierte Politik des Regimewechsels hat in allen drei Fällen schlimmeres als deren Herrschaft für die davon betroffenen Bevölkerungen hervorgebracht.

Auch der Afghanistankrieg der NATO hat unter erheblichem Einsatz militärischer Mittel ein gesellschaftliches Trümmerfeld hinterlassen, das die Menschen in alle Welt fliehen läßt, weil sie ihres Lebens nicht mehr sicher sind. Zwei Jahre zuvor hat die NATO den verbliebenen Rest Jugoslawiens zerschlagen und mit dem Kosovo eine völkerrechtswidrige Gebietsabspaltung herbeigeführt. Heute befindet sich dort ein aus sich selbst heraus nicht lebensfähiger Staat, dessen hauptsächliches ökonomisches Potential in diversen Formen organisierter Kriminalität besteht. Die jugoslawischen Sezessionskriege, die die Bildung diverser ebenfalls in ihrer Unabhängigkeit stark eingeschränkter Kleinstaaten zur Folge hatten, wären bei angemessener Unterstützung des sozialistischen Staates zu vermeiden gewesen. Doch die zu neuer Stärke erwachte Berliner Republik richtete ihre Spaltungsstrategien insbesondere gegen das verbliebene Zentrum des jugoslawischen Gedankens, die Bevölkerungen des westlichen Balkans in einer föderativen Republik zusammenzuführen.

Auch wenn die Bundesrepublik sich bei den Kriegen im Nahen und Mittleren Osten bis auf Afghanistan militärischer Zurückhaltung befleißigte, hat sie es doch vermieden, dazu in Opposition zu gehen und kriegswichtige Leistungen logistischer und politischer Art zu verweigern. Der seit 1990 wieder das Haupt erhebende deutsche Imperialismus bedient sich eher wirtschafts-, handels- und ordnungspolitischer Mittel, um seine Ziele zu erreichen, was in Anbetracht der großen Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik naheliegt. Wie das seit dem Jugoslawienkrieg unter Beteiligung der Bundeswehr immer lauter werdende Drängen auf die Übernahme militärischer "Verantwortung" durch die Bundesrepublik belegt, müssen deren wirtschaftliche und politische Erfolge auf längere Sicht durch Waffengewalt abgesichert werden, um nicht doch noch ins Hintertreffen vor allem US-amerikanischer Hegemonialpolitik zu geraten.

Daß die Bundesregierung zudem den Konflikt mit Moskau wagt, indem sie die enge Verbindung der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine zur Russischen Föderation durch die Östliche Partnerschaft der EU zu lösen versucht, macht vollends klar, daß sie Expansionspolitik unter hohem Einsatz betreibt. Die akute Not, in der sich Menschen in Situationen kriegerischer Gewalt befinden, wird durch den ökonomischen Mangel eines kapitalistischen Weltsystems verschärft, das nationale und regionale Produktivitätsunterschiede der neoliberalen Freihandelsdoktrin gemäß zu einem wesentlichen Element seines Geschäftsmodells erklärt hat. Wo immer in der Welt zu Hungerlöhnen für europäische Auftraggeber produziert wird oder andere Formen der Lohnsklaverei die Rendite europäischer Investoren mehren, wo hochsubventionierte Agrarexporte aus der EU oder die Flächenstillegungen europäischer Klimapolitik die Erwerbsgrundlage von Kleinbauern zerstören, wo die Privatisierung essentieller Ressourcen wie Wasser und Land die Menschen ins Elend urbaner Proletarisierung stürzt, all dies und vieles mehr trägt seit Jahrzehnten dazu bei, daß man sich hierzulande eines Verbrauchsniveaus auf höchstem Stand erfreut.

Wenn nun die Menschen draußen bleiben sollen, weil die Überwindung europäischer Grenzen auch das dadurch gesicherte Produktivitätsgefälle gefährdet, dann könnte jedem klarwerden, was ihre Not mit der eigenen Zufriedenheit zu tun hat. Das unheilige Bündnis zwischen den xenophoben Stichwortgebern in Bundes- und Landespolitik bis zur offen rassistischen Rechten vor den Flüchtlingsheimen bedient sich dieses blinden Fleckes ganz gezielt, ist man sich doch einig darin, daß es auf dieser Welt mehr oder minder privilegierte Menschen, sprich Herren und Sklaven, geben muß, um das eigene Überleben in Zeiten der Krise zu sichern. Was sich in der Bilanz des globalen Klimawandels als geldwerter Vorteil der Industriestaaten abbildet und in der Geschichte kolonialistischer wie imperialistischer Politik als Herrschaft vor allem weißer Männer in Erscheinung tritt, soll nicht so grundlegend in Frage gestellt werden, daß sich ganz andere Fronten auftun könnten als die durch Nation, Religion, Kultur und Ethnie markierten Trennlinien.

In der Bundesrepublik gehen heute Menschen auf die Straße, die Angst davor haben, daß die Flüchtlinge ihnen das Essen in den Armenküchen streitig machen. Hier tobt ein Stellvertreterkrieg zwischen Menschen, die nichts als ihr vermeintlich jeweils größeres Elend ins Feld zu führen haben. Was könnte dem aus naheliegendem Grund nicht allzulaut lachenden Dritten besseres geschehen, als daß sich die Habenichtse so aneinander aufreiben, daß sie im Endeffekt mit jedem Almosen abzuspeisen sind, das noch von ihrem Tische fällt? Die internationale Klassenfrage wird nicht gestellt, weil die nationale Antwort Sicherheit zum Preis der Unterwerfung unter sie verspricht, was im Endeffekt nichts anderes bedeutet, als neues Kanonenfutter zu schaffen.

Sich mit dem Argument gegen Flüchtlinge zu wenden, ihnen käme die Möglichkeit, am Wohlstand der Bundesrepublik teilzuhaben, unverdientermaßen zugute, heißt eine Moral in Anspruch zu nehmen, die sich mit nicht minder legalistischer Gewalt gegen die Urheber dieser Feindseligkeit richten läßt. So besiegelt der Flüchtlingen gegenüber herausgeschrieene Haß die Zukunft eigener Ausgeliefertheit. Jede Moral setzt auf die Macht ihrer Durchsetzung und begründet damit die Unterwerfung unter ein Prinzip der Stärke, das der Schwäche sozialer Ohnmacht noch nie gut bekommen ist. Die Rettung im bloßen Wechsel der Positionen zu suchen heißt, die Kette um den eigenen Hals nur noch enger zu ziehen.

24. August 2015


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