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HERRSCHAFT/1759: Grüne am Abgrund - Eine Partei macht sich überflüssig (SB)



Den Grünen steht das Wasser bis zum Hals. Ihr historischer Höhenflug, als sie im Schulterschluß mit den Sozialdemokraten das Ausbeutungsregime Agenda 2010 und Hartz IV wie auch den Angriffskrieg der Bundeswehr salonfähig machten, ist Schnee von gestern. Ihr Zukunftsentwurf eines grünen Kapitalismus, der die ökonomische und ökologische Krise auf einen Streich bändigen und die herrschenden Verhältnisse zu retten verspricht, bleibt vorerst ein Ladenhüter. Schwarz-grüne Träume, wie sie Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg vorexerziert, nehmen mit Blick auf die Bundespolitik zusehends den Charakter einer Fata Morgana an. Was ist passiert?

Beim Marsch durch die Institutionen haben sich die Grünen selbst überflüssig gemacht und ihren Profilverlust mit dem Absturz auf ihre rückläufige Stammklientel bezahlt. Das zeichnet sich nicht erst seit gestern ab. Seit ihrem Gang in die Opposition im Jahr 2005 trauern sie dem Verlust ihres Einflusses nach, die deutsche Führerschaft in Europa von der Regierungsbank aus mitzugestalten. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima lagen die Grünen 2011 in Umfragen noch einmal jenseits der 20-Prozent-Marke und sahen sich bereits als grüne Volkspartei. Bei der Bundestagswahl 2013 folgte dann ein böses Erwachen, als die Partei auf 8,4 Prozent abstürzte. Die Fehleranalyse kreiste opportunistisch um eine verunglückte Positionierung im Wahlkampf und lief unter dem Strich auf die Devise hinaus, künftig keine Angriffsfläche mehr zu bieten und möglichst viel offenzulassen.

Als sich bei der Urwahl der Parteibasis Cem Özdemir mit einem hauchdünnen Vorsprung gegen Robert Habeck durchgesetzt hatte und seither gemeinsam mit Katrin Göring-Eckardt die Grünen in den Bundestagswahlkampf führt, waren die Weichen endgültig auf Realo gestellt. Das hätte auch für den unverhohlenen Kretschmann-Verehrer Habeck gegolten, der freilich im Unterschied zu dem altgedienten Führungsgespann zumindest ein frisches Gesicht abgegeben und der Partei womöglich eine Art Schulz-Effekt fiktiver Erneuerung verpaßt hätte. Wie Özdemir nach seiner Wahl verkündet hatte, komme es nun darauf an, die Partei so stark zu machen, daß sie nach der Bundestagswahl im Herbst für eine Regierungsbildung gefragt sei. Er wolle die Grünen zu einem deutlich zweistelligen Wahlergebnis führen. Das wird wohl nicht klappen.

Im Saarland scheiterte die Partei mit vier Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde, bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein schnitten die Grünen mit 12,9 Prozent 0,3 Prozentpunkte schlechter als 2012 ab, hielten aber dank Habeck immerhin die Stellung. Beim desaströsen Absturz in NRW kamen sie nur auf 6,4 Prozent - 4,9 Prozentpunkte weniger als noch 2012. Nun sehen die Prognosen für die Bundestagswahl nachgerade düster aus. Im aktuellen Insa-Meinungstrend für die "Bild"-Zeitung kommen die Grünen mit nur noch 6 Prozent der Fünf-Prozent-Hürde gefährlich nahe und stehen am Abgrund. [1]

Kathrin Göring-Eckardt, die Bundesvorsitzende und Spitzenkandidatin der Grünen, sprach von einem deprimierenden Ergebnis und einem Schlag in die Magengrube. Sie fordert Nachbesserungen bei den sicherheitspolitischen Zielen ihrer Partei. "Wenn die Leute das Gefühl haben, dass man beim Thema innere Sicherheit nicht an uns denkt, dann sollte uns das zu denken geben", sagte auch Cem Özdemir im Deutschlandfunk. Folgt man der NRW-Wahlanalyse im ZDF, liegt bei den Grünen weit mehr als die Sicherheitspolitik im argen. So gestehen nur vier Prozent der Wähler den Grünen Kompetenzen in der Bildungspolitik zu. In der Flüchtlingspolitik sind es sechs Prozent, bei sozialer Gerechtigkeit fünf Prozent und bei der Kriminalitätsbekämpfung sowie der Arbeitsplatzsicherung jeweils ein Prozent. Am besten liegen sie in der Verkehrspolitik mit elf Prozent, wo die CDU jedoch auf 30 Prozent kommt. [2] Der Profilverlust hat augenscheinlich dramatische Züge angenommen.

Jetzt ist guter Rat teuer. Daß in nur vier Monaten bis zur Bundestagswahl eine Trendwende zu schaffen sei, hält zumindest der Meinungsforscher Manfred Güllner von Forsa für so gut wie ausgeschlossen: "Das ist jetzt zu kurzfristig, als dass da noch viel passieren könnte. Es sei denn, es gibt ein Tschernobyl oder ein Fukushima", wie er zynisch hinzufügt. Die Grünen seien wieder auf ihre Stammwählerschaft geschrumpft: "Damit ist das Maximum definiert, das sie erreichen können bei der Bundestagswahl." Als der sogenannte Parteilinke und Bundestagsfraktionsvorsitzende Anton Hofreiter forderte, man müsse jetzt auf Bundesebene "mit klaren inhaltlichen Botschaften rüberkommen", hätte er vielleicht näher ausführen sollen, worin diese seines Erachtens bestehen. Göring-Eckardt macht die Rechnung auf, in Schleswig-Holstein habe man klarmachen können, daß Ökologie und Ökonomie kein Gegensatz seien, was in NRW nicht gelungen sei.

Diesen Wink mit dem Zaunpfahl, der als "links" geltende Landesverband NRW habe die Sache versaut, führt Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister von Tübingen, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk [3] näher aus. Wie er betont, wählten 70 Prozent der Menschen die Grünen wegen ihrer Umwelt- und Energiepolitik, die jedoch im Wahlkampf kein Thema gewesen sei. Er sei ein entscheidendes Manko geblieben, das Thema Innere Sicherheit nicht zu besetzen. Man müsse sich "diesen schmerzhaften Punkten stellen", wenn es in Zukunft besser werden soll. Zum Jahreswechsel habe die Parteivorsitzende Simone Peter die Nafri-Debatte angestoßen, worauf die Umfragewerte in NRW eingebrochen seien. Wenngleich die Leute nicht unbedingt erwarteten, daß die Grünen die Probleme der Inneren Sicherheit lösen, erwarteten sie schon, daß die Grünen der Lösung nicht entgegenstehen. In Nordrhein-Westfalen gebe es die höchste Kriminalitäts- und die geringste Aufklärungsrate. Folglich komme die Polizei einfach mit der Arbeit nicht klar. Kritisiere man die Polizei, statt sie zu unterstützen, fragten sich die Leute, "wenn ich mich im öffentlichen Raum nicht mehr sicher fühlen kann, werden die Grünen dagegen was tun"?

Wie das aussehen soll? Palmer zufolge sollten die Grünen "offensiv die Idee vertreten, dass Sicherheit im öffentlichen Raum ein linkes, ein grünes Konzept ist, dass angstfrei sich bewegen können für Frauen, für Menschen anderer Hautfarbe ein hoher Grundwert ist und dass wir glaubwürdig dafür stehen, dass wir die Polizei so ausrüsten, auch mit Gesetzen, dass sie das herstellen kann. Dann würde ein anderer Eindruck entstehen, als er derzeit über uns vorherrscht."

Was die Flüchtlingsfrage betrifft, weiß sich Palmer im selben Boot mit Winfried Kretschmann: Man hätte es in der Diskussion über die sicheren Herkunftsländer in den Maghreb-Staaten in NRW genauso machen können wie Kretschmann, der mit Blick auf die Balkan-Staaten bereit gewesen sei, diese zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, um den Zuzug zu begrenzen. NRW sei das Land mit dem größten Problem mit Asylbewerbern aus den Maghreb-Staaten, die kriminell seien. Man hätte sich, "statt an dieser Stelle immer dagegen zu halten, auch in einer verantwortlichen Weise hinstellen und sagen können, das entspricht zwar nicht unserem grünen Grundkonzept, aber für das Land NRW ist es besser, wir machen mit".

Der Ministerpräsident Baden-Württembergs war parteiintern in die Kritik geraten, weil er im Bundesrat die Abschiebung bestimmter abgelehnter Asylbewerber erleichtert und von Grenzen der Aufnahmefähigkeit gesprochen hat. Zumindest für Teile der Parteibasis gehört aber die bedingungslose Aufnahme von Hilfesuchenden noch immer zur Grundüberzeugung. Wie der Konflikt zwischen grünem Grundkonzept und Wählergunst aufzulösen sei, schlägt Palmer mit dem angeblichen Dienst am Land vor, dem verantwortungsvolle Politik verpflichtet sei: Im Zweifelsfall für den Erfolg und über Bord mit dem linksgrünen Ballast, wenn man am Wahlabend etwas zu feiern haben will!

Der beliebteste Grünen-Politiker Winfried Kretschmann ist da mit der Entsorgung karrierehemmender grüner Leitmotive schon einen guten Schritt weiter, wo er als Landesvater in einem erzkonservativen Bundesland selbst die Schwarzen in die Rolle des Juniorpartners abgedrängt hat. Sind Kretschmann, Palmer oder Habeck die Zukunft der Partei, sollte diese nicht im September in der Versenkung verschwinden? Wie Boris Palmer erklärt, dürfe und könne man an dem Mitgliederentscheid nichts ändern, aber langfristig brauche natürlich eine Partei auch frische Gesichter, das sei klar. Bis zur Bundestagswahl werde sich kaum etwas Wesentliches ändern, aber danach gebe es sicher einiges zu hinterfragen.

Die Sozialdemokraten haben zeit ihrer Geschichte den Eindruck erweckt, sie verträten die Interessen der Arbeiterklasse, dann zumindest den Sozialstaat oder wagten sogar mehr Demokratie, bis sie nach deren eigenhändiger Demontage nur noch vage behaupteten, gemessen an der Union die weniger schlechte Alternative zu sein. Dann kam Martin Schulz, entfachte sein Strohfeuer "sozialer Gerechtigkeit" bar jeden Inhalts, und als der Rausch ausgeschlafen war, folgte der Kater mit fatalen Folgen. Was werden die Grünen machen? Um ihrer Wählbarkeit und Regierungsfähigkeit willen alles entsorgen, was ihnen noch an Alleinstellungsmerkmalen geblieben ist? Dann würde sich allerdings erst recht die Frage stellen, warum man sie überhaupt noch wählen soll.


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article164605399/FDP-auf-hoechstem-Stand-seit-Juli-2016-Gruene-fast-raus.html

[2] http://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/bundestagswahl/id_81181946/die-gruenen-kaempfen-ums-ueberleben.html

[3] http://www.deutschlandfunk.de/gruenen-politiker-boris-palmer-wir-muessen-uns.694.de.html

16. Mai 2017


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