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HERRSCHAFT/1761: Warum keine linke Fundamentalopposition? (SB)



Wunder gibt es immer wieder, wie es im deutschen Schlager heißt. In der deutschen Politik trifft das eher weniger zu, wenn man einmal von der unverhofften Himmelfahrt des Martin Schulz absieht, der allerdings mangels tragfähiger Substanz der unvermeidliche Absturz ins Bodenlose auf dem Fuße folgte. Das mit unablässigen Meinungsumfragen traktierte Wahlvolk scheint denn doch nicht von allen guten Geistern verlassen zu sein und dem sozialdemokratischen Superhelden das fiktive Versprechen auf soziale Gerechtigkeit nicht ohne Kostprobe abkaufen zu wollen. Der Märchenonkel hat ausgedient, die SPD geht auf Tauchfahrt, die rot-rot-grünen Rechenspiele auf Bundesebene kann man getrost vergessen. Eigentlich könnte die Linkspartei, die sich an diesem Wochenende auf ihrem Parteitag in Hannover für die Bundestagswahl 2017 in Stellung bringen will, ganz gelassen zu Werke gehen, sich auf ihre vielzitierten Alleinstellungsmerkmale besinnen und für die nächsten vier Jahre einen Kurs linker Fundamentalopposition anlegen.

Warum sie das in ihrer Mehrheit nicht tut, liegt auf der Hand. Wie Gregor Gysi es im Vorfeld des Parteitags ausgedrückt hat, will man ja schließlich mitregieren und sollte sich dementsprechend aufstellen. Diese Warnung, sich die potentielle Regierungsbeteiligung nicht selber zu verbauen, kann zu Ende gedacht nur darauf hinauslaufen, sich regierungsfähig zu bürsten. Das wiederum kann doch nur bedeuten, dort mit den obligatorisch vorgehaltenen Bauchschmerzen Kompromisse zu schließen, wo man angeblich nie im Leben welche machen wollte. Die Sozialdemokraten und teils auch die Grünen haben keinen Hehl daraus gemacht, woran die Regierungsfähigkeit der Linkspartei ihres Erachtens scheitert. Nun, da ein solches Bündnis schon eines kaum zu erwartenden Wunders bedürfte, um auch nur rein rechnerisch eine Mehrheit einzufahren, böte sich die Gelegenheit, diese Abfuhr insofern in eigene Stärke zu verwandeln, als man sich nicht länger vom Zustand der SPD und der Grünen abhängig macht.

Wenn das Führungsduo Katja Kipping und Bernd Riexinger bei der Ursachenforschung zuerst auf die SPD und deren Kanzlerkandidaten Martin Schulz stößt, ist Skepsis geboten. Die Linke wirft dem SPD-Vorsitzenden vor, die kurz nach seiner Nominierung zum Merkel-Herausforderer geschürten Hoffnungen enttäuscht zu haben. Es ärgere ihn unsäglich, "dass Schulz die Situation vergeigt hat", sagte Riexinger kürzlich im Gespräch mit Journalisten. [1] Eine erstaunliche Argumentation, die nur zweierlei bedeuten kann: Entweder hat Riexinger dem aus dem Hut gezauberten Hoffnungsträger der SPD tatsächlich den sozialen Pathos abgenommen oder ihn durchschaut, aber gehofft, daß es außer ihm niemandem auffällt. Beides wäre mindestens peinlich für eine linke Partei, die doch eigentlich froh sein könnte, daß der Heißluftballon namens Politikwechsel schon geplatzt ist, bevor man sich ihm zum Regierungsflug anvertraut hat.

Wo immer Schulz seine Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit konkretisiert hat, ist dabei nicht mehr herausgekommen als eine Fortsetzung der eingeschlagenen Richtung mit gewissen Nuancen. Ob Hartz IV oder das dreisäulige Rentenmodell - des SPD-Kaisers neue Kleider können nicht verhüllen, was um so mehr ins Auge sticht. Nach drei verlorenen Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen führen die Sozialdemokraten weniger denn je die Linkspartei im Munde, sondern denken mehr oder minder offen über andere Bündnisse wie etwa eine Ampel-Koalition mit der FDP und den Grünen nach. Die Linke als momentan stärkste Oppositionskraft im Deutschen Bundestag rangiert in aktuellen Umfragen hinter der AfD und der FDP, so daß sie im künftigen Parlament mit wahrscheinlich sechs Fraktionen nur die Nummer fünf sein dürfte, lediglich gefolgt von den Grünen. Kein Wunder also, daß die SPD den aus Rechengründen zeitweise nicht ausgeschlossenen Klotz am Bein lieber heute als morgen loswerden will.

Dem Parteivorstand sei's verziehen, daß er seinen Leitantrag für das dreitägige Delegiertentreffen mit den Worten "Die Zukunft, für die wir kämpfen", gefolgt von "SOZIAL. GERECHT. FÜR ALLE." überschrieben hat. Ohne eine solche verbale Trilogie samt Punkttrennern geht es heutzutage offenbar nicht mehr, obgleich sie ungute Assoziationen an deren erfolgreiche Verwendung in einer anderen gesellschaftlichen Sphäre wachruft, mit der die Linkspartei bislang eher weniger am Hut hatte. Auch daß sie wie so oft ihre Geschlossenheit beschwört, da interne Kontroversen im Wahlkampf schlecht ankämen, ist nachvollziehbar, auch wenn man sich eine offene und kontroverse innerparteiliche Diskussionskultur wünschen würde, die nicht zwangsläufig auf Parteiräson versus Spaltungstendenzen hinauslaufen müßte.

Wenn sich Katja Kipping erfreut gezeigt hat, daß es gelungen sei, die Europa-Kontroverse in den eigenen Reihen "zu entschärfen", dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Eine endgültige Einigung in der Frage, wie sich die Linke zur EU positioniert, hat die Partei bislang aufgeschoben, so daß eine Ablehnung der Europäischen Union als kapitalistisches und imperialistisches Bündnis zumindest noch nicht ganz vom Tisch ist. Im aktuellen Leitantrag bleibt es indessen bei der schwammigen Formulierung, man fordere einen "Neustart" der EU.

Vor dem Parteitag liegen gleich mehrere Anträge vor, die eine Regierungsbeteiligung entweder komplett ablehnen oder unverrückbare Pflöcke einrammen wollen, die eine Koalition praktisch unmöglich machen würden. So gibt es beim Dauerstreit um die Bundeswehr Versuche der Antikapitalistischen Linken, die Ablehnung von "Auslandseinsätzen" generell und nicht nur von "Kampfeinsätzen" festzuzurren. Dabei geht es nicht um eine sprachliche Spitzfindigkeit, da die bisherige Regelung Spielraum für mögliche Bündnisverhandlungen lassen wollte.

Wenngleich Einigkeit zu herrschen schien, daß die vom Bund geplante Autobahn-GmbH die Tür zu einem Ausverkauf der Fernstraßen öffnet, täuschte dieses Bild der Übereinkunft. Sahra Wagenknecht hatte im Parlament erklärt, die Autobahn werde zur "Melkkuh für private Profite" und die deutsche Politik bewege sich in einem "Sumpf aus Lobbywirtschaft, billiger Trickserei und mutwilliger Täuschung". Tags darauf stimmte jedoch das von Bodo Ramelow regierte Thüringen im Bundesrat für die Reformen der Bund-Länder-Finanzen, wozu auch die Autobahngesellschaft gehört. Wie Vorstandsmitglied Lucy Redler dazu auf Facebook schrieb, beschädige diese Entscheidung die Glaubwürdigkeit der Linken. Sie hoffe, dies sei nun Anlaß, "diese ganze Debatte über einen angeblichen Politikwechsel durch SPD, Grüne und Linke zu beenden". Ähnlich klingt ein offener Brief, den auch Bundes-, Landtags- und Europaabgeordnete unterzeichnet haben: Es müsse jetzt "Schluss sein mit völlig illusorischen Träumereien von einer rot-rot-grünen Regierung". [2]

Daß sich der Parteitag diese Auffassung mehrheitlich zu eigen macht, ist kaum anzunehmen. Co-Fraktionschef Dietmar Bartsch hat erst kürzlich erklärt, daß ein Mitte-Links-Bündnis in der zentralen Industriemacht Europas essentiell sei, um ein Scheitern der EU zu verhindern. Wenngleich das neue Papier zur Kommunikationsstrategie der Linken im Wahlkampf von den Partei- und Fraktionschefs gemeinsam abgesegnet wurde, kann man die Hoffnung derer, die nach wie vor auf eine Koalition hinarbeiten, deutlich herauslesen: "Wenn Martin Schulz und die SPD tatsächlich noch soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen sollten, würden wir das begrüßen", heißt es darin. "Wir wollen und werden regieren, wenn wir mit anderen einen grundsätzlichen Politikwechsel durchsetzen können." Das läßt Spielraum für Interpretationen, die offenbar weit über die Bundestagswahl im Herbst hinausweisen.


Fußnoten:

[1] http://www.dw.com/de/die-linke-wird-wohl-single-bleiben/a-39179129

[2] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/linke-vor-parteitag-in-hannover-streit-um-regierungsbeteiligung-neu-entbrannt-a-1151269.html

9. Juni 2017


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