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HERRSCHAFT/1766: Boris Palmer - der grüne Sarrazin legt nach (SB)



Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen wird nach eigenen Angaben wohl keine Zeit haben, im Urlaub das neue Buch seines Parteikollegen Boris Palmer zu lesen. Zudem kenne er ihn und seine Thesen bereits sehr gut. "Und so werde ich wohl eher nicht Palmer, sondern "Kaiser Friedrich II" von Ernst Kantorowicz endlich in den Ferien fertig lesen." Warum sich Kretschmann für den Kaiser interessiert, ist nicht bekannt und für die aktuelle Kontroverse in seiner Partei auch eher nicht relevant. Bedeutsam ist hingegen, daß Kretschmann hervorhebt, Boris Palmer sei ein normales Mitglied der Grünen und Oberbürgermeister von Tübingen. Er habe keine Ämter und spreche nicht für die Partei. "Er kann ein Buch schreiben, wann er will", so der Landesvater. [1]

Diese Mischung aus Verteidigung seines Parteikollegen, dem er in vielen sogenannten Sachfragen bekanntermaßen ziemlich nahesteht, und einem gewissen Sicherheitsabstand zeugt vom politischen Instinkt des Ministerpräsidenten, sich weder von einem kleinen Oberbürgermeister noch parteiinterner Schelte in die Suppe seiner Ambitionen spucken zu lassen. Schließlich vollzieht er gerade den Kraftakt, die Autoindustrie und den Umweltschutz gleichzeitig zu umarmen, ohne daß die ihm gewogene Öffentlichkeit merkt, wen von beiden er dabei in den Schwitzkasten nimmt.

Doch zurück zu Palmer: Der stellt am 3. August in Berlin sein Werk unter dem Titel "Wir können nicht allen helfen" vor. Wie man sich denken kann, schlägt er damit noch tiefer in die Kerbe seiner sattsam bekannten Positionen zum Flüchtlingsthema, die nicht nur bei den Grünen für kontroverse Debatten gesorgt haben. Daß das ausgerechnet so kurz vor der Bundestagswahl passiert, bei denen seine Partei ohnehin nichts zu lachen haben wird, dürfte bei Kretschmann gemischte Gefühle wachrufen. Stürzen die Grünen in die Versenkung, ist ihm nicht gedient. Stecken sie böse Prügel ein und bleiben im Bundestag, hingegen schon eher, könnte das doch seine innerparteiliche Dominanz und die schwarz-grünen Träume um so nachhaltiger beflügeln.

Das Flüchtlingsthema an sich könne im Wahlkampf eine Rolle spielen, räumt Kretschmann ein. Im Vergleich zu 2015 kämen jetzt weniger Flüchtlinge nach Deutschland, und so gehe es darum, die Menschen, die bleiben dürften, gut zu integrieren. "Das ist eine große Aufgabe, die wir endlich auch im Bund kraftvoll angehen müssen." Hingegen messe er Palmers Buch keine besondere Bedeutung im Wahlkampf bei, zeigt sich der Ministerpräsident sichtlich bemüht, den Ball flach zu halten. Was den Zeitpunkt der Buchveröffentlichung betrifft, verteidigt ihn der 45jährige Oberbürgermeister von Tübingen mit der Erklärung, Sachdiskussionen seien bei seiner Partei am besten aufgehoben: "Wir Grünen müssen den Anspruch haben, Streit in der Gesellschaft abzubilden und auszutragen." Sie seien schließlich eine Diskurspartei, zu der verordnete Einigkeit wie im Kanzlerwahlverein CDU einfach nicht passe. [2]

Palmer ist ganz offensichtlich erfahrener Karrierist genug, um zu wissen, wie man parteiinternen Gegenpositionen vors Schienbein tritt und den Konter mit dem scheinheiligen Verweis auf die gemeinsam gepflegte Diskussionskultur gekonnt abwürgt. Er weiß nur zu gut, daß es sich die bedrohlich schwächelnden Grünen derzeit am allerwenigsten leisten können, ihn ihre volle Wut spüren zu lassen und damit den Eindruck einer gespaltenen Partei in der Öffentlichkeit zu verstärken. So gesehen könnte der Zeitpunkt seiner Revanche nicht besser gewählt sein, sind den innerparteilichen Kritikern doch die Hände mehr oder minder gebunden.

Mit seinen markigen Rufen nach einer härteren Flüchtlingspolitik auf Facebook und in Interviews hatte Palmer immer wieder für Aufsehen und Streit in der eigenen Partei gesorgt, deren Führung auf Distanz von ihm gegangen ist. So hatte er nach den Vorfällen in Schorndorf auf Facebook geäußert, daß Asylbewerber "überdurchschnittlich häufig an der Begehung von Straftaten beteiligt" seien. In Rechtfertigung seines Buches erklärt er nun in einem Interview mit dem Spiegel, die Flüchtlingskrise sei noch längst nicht vorbei. So stehe fest, daß im Sommerhalbjahr mehr Flüchtlinge kommen. Deutschland müsse sich über viele Jahre darauf einstellen, daß eine große Zahl von Menschen hier Schutz suchen wird: "Wir können nicht allen 65 Millionen Flüchtlingen in der Welt in Deutschland Asyl gewähren. Wir schaffen es nicht einmal, allen in ihren Heimatländern Zugang zu Trinkwasser, Nahrung und Bildung zu geben." Der Titel seines Buches drücke seiner Meinung nach eine Selbstverständlichkeit aus. Dennoch rege er viele Menschen auf, bevor das Buch überhaupt erschienen sei. Und genau darum gehe es in dem Buch: Daß man Menschen nicht auf einen Satz reduziert.

Seiner Überzeugung nach habe die Flüchtlingskrise die Republik gespalten: "Sie hat den Effekt, dass Menschen nicht mehr miteinander reden können, dass sie das Thema ausklammern, sich gegenseitig abwerten, auch im Freundes- und Familienkreis." Die Menschen müßten wieder miteinander sprechen, und er plädiere dafür, daß man nicht nur den eigenen Standpunkt als legitim betrachten sollte, sondern auch den anderen, möglicherweise konträren. Das sei auch das Hauptziel seines Buches.

Was genau Palmer meint, zeigt ein abstruser Vergleich, mit dem er begründet, warum er Abschiebungen nach Afghanistan für vertretbar hält. Was Afghanistan angehe, gebe es eine gefühlte Wahrnehmung von Unsicherheit, die vor allem durch Bilder von Anschlägen transportiert werde. Diese habe jedoch nichts mit der statistischen Wahrscheinlichkeit zu tun, daß jemandem tatsächlich etwas zustößt, der dorthin abgeschoben wird. In Brasilien würden jedes Jahr 50.000 Menschen umgebracht, das Land sei so gefährlich wie Afghanistan. "Trotzdem haben wir da eine Fußball-WM abgehalten, und niemand sagt, dass man nicht hinfliegen kann."

Palmer bleibt nicht nur den Nachweis schuldig, warum die in beiden Fällen bestehende Gefahrenlage ein Grund sein soll, bedenkenlos nach Afghanistan abzuschieben. Er spielt die dort herrschende Eskalation des Krieges und dessen Schreckensfolgen vorsätzlich herunter, wenn er von "gefühlter Wahrnehmung", "Bildern" und einer "statistischen Wahrscheinlichkeit" spricht, als sähe er sich einen Film an oder bediente ein Computerspiel, bei dem die getöteten, verletzten, verstümmelten, traumatisierten, vertriebenen, verelendeten und entwürdigten Menschen Afghanistans ein Punktestand seien, den er mit anderen vergleicht.

Kritiker und manche Medien bezeichnen Palmer inzwischen als "grünen Sarrazin". Der frühere SPD-Finanzsenator von Berlin, Thilo Sarrazin, hatte vor einigen Jahren mit seinen sozialchauvinistischen Thesen zur Flüchtlingspolitik und zum Umgang mit Minderheiten für eine kontroverse Debatte gesorgt. Daß er nun mit Sarrazin verglichen und zuweilen in die Nähe der Alternative für Deutschland (AfD) gerückt werde, bezeichnet Palmer als "Unkultur". "Lasst uns über die Sache streiten. Man darf aber nicht jedem, der etwas sagt, was einem selbst gerade nicht ins Konzept passt, entgegenschleudern: Geh doch zur AfD." Er wünsche sich von seiner Partei, daß sie real-konkrete Vorschläge genauso gelten lasse wie linksutopische Meinungen. Da sehe er eine Ungleichbehandlung. Bei den Grünen dürfe man jede Utopie formulieren, das sei akzeptabel. Sage aber jemand, daß etwas nicht machbar sei, führe das oft zur Aufregung.

Im Interview kündigte Palmer außerdem an, er werde sich künftig nicht mehr zum Thema Flüchtlingspolitik äußern: "Mit meinem Buch will ich diese Phase der aufreibenden Diskussion abschließen." Die vergangenen Jahre seien oft extrem nervenzehrend und anstrengend gewesen. Er habe sich verändert, sei demütiger geworden: "Mir ist klar geworden, dass ich mich von vielen Parteifreunden entfremdet habe und führende Funktionen für die Grünen nicht wahrnehmen kann."

Palmers fadenscheiniger Kunstgriff, seine innerparteilichen Kritiker ins Reich der "Linksutopisten" zu verbannen, sich selbst aber als Verfechter "real-konkreter" Vorschläge zu adeln, wiederholt den alten und ewigen Streit zwischen Fundis und Realos bei den Grünen in neuem Gewand. So hergeholt der Rekurs auf Sarrazin anmuten mag, sind doch gewisse Parallelen in der Vorgehensweise nicht von der Hand zu weisen. Beide neigen zu schlaumeiernden Rechenbeispielen, die sich bei näherem Hinsicht als zweckdienliche Dummheiten erweisen. Beide bedienen eine zunehmend nach rechts auswandernde gesellschaftliche Mehrheitsmeinung, mimen aber zugleich die verfolgte Unschuld, wenn man sie dafür kritisiert. Doch was am schlimmsten ist: Wie Thilo Sarrazin geht auch Boris Palmer auf Schwächere los und beklagt zugleich scheinheilig die angebliche Diskriminierung seiner Meinungsäußerung, als sei er ein verfolgter Außenseiter auf Wahrheitssuche und nicht ein Sachwalter offenkundiger Herrschaftsinteressen.


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article167163513/Palmer-will-nichts-mehr-zur-Fluechtlingspolitik-sagen.html

[2] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/boris-palmer-ueber-abschiebungen-brasilien-so-gefaehrlich-wie-afghanistan-a-1160130.html

29. Juli 2017


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