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HERRSCHAFT/1788: Doppelgesichtig ... (SB)



Der rassistischen Diffamierung des aus der Fußball-Nationalmannschaft der Männer ausgeschiedenen Mesut Özil geht der "positive Patriotismus" der Fußballbegeisterten voraus. Was zum angeblichen Sommermärchen des Jahres 2006 als positive Identifikation mit Deutschland, das nach dem verlorenen Krieg endlich als ganz normaler Akteur auf das Feld globaler Krisenkonkurrenz zurückkehrte, auch von PolitikerInnen der Grünen gutgeheißen wurde, kehrt seine negative Ausgrenzungsdynamik erwartungsgemäß heraus, wenn Sündenböcke für die Niederlage der Nationalmannschaft gesucht werden. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth trifft mit der Analyse [1], in Deutschland gebe es ein Rassismusproblem, ins Schwarze und dennoch knapp daneben. Indem sie für die Begeisterung, mit der die Staatenkonkurrenz auf dem grünen Rasen als vermeintlich friedliches Surrogat materieller Gewaltverhältnisse zelebriert wird, keine kritischen Worte findet, ist sie trotz der berechtigten Argumente gegen Özils Diffamierung mitverantwortlich für das, was sie verurteilt.

Die Hofierung des türkischen Despoten Erdogan durch deutsche Fußballstars türkischer Herkunft überhaupt zu skandalisieren entbehrt schon angesichts der Praxis der Bundesregierung, eben das wider besseren Wissens zu tun, jeglicher rationalen Begründung. Wenn Deutschlandfunk-Moderatorin Christine Heuer sich an einer solchen versucht, indem sie behauptet, die Bundeskanzlerin müsse mit Erdogan sprechen und sich mit ihm fotografieren lassen, Mesut Özil habe dies aber freiwillig und aus Respekt für die Tradition seiner Familie gemacht, dann versteht man, wieso der Sender als kanzleramtsnah gilt. Natürlich besteht keinerlei Notwendigkeit, einen Despoten zu hofieren und sich gar, wie es Merkel getan hat, im Wahlkampf für ihn zu verwenden. Wer gleiches mit Slobodan Milosevic getan hätte, dessen Regime weit weniger repressiv war als das Erdogans und dessen Land zudem als Spielball hegemonialer EU-Interessen von der NATO überfallen wurde, hätte sich politisch sofort begraben lassen können.

Inzwischen wurde bekannt, daß die Bundeskanzlerin auch nicht davor zurückschreckte, dem höchsten Funktionär der faschistischen Grauen Wölfe in Europa, Cemal Çetin von der Avrupa Türk Konfederasyon, beim NATO-Gipfel in Brüssel die Hand zu schütteln [2]. Um so weniger scheint es eine Frage der Maßstäbe zu sein, mit welchem schlimmen Finger Politik gemacht wird, sondern der schlichten Zweckmäßigkeit machtpolitischer Winkelzüge. Einem Özil nicht zuzugestehen, einen politisch kritikwürdigen Auftritt zu absolvieren, und ihn dafür als treulosen Vasallen, der bei erstbester Gelegenheit von der Fahne geht, durchs Bundesdorf zu treiben, stellt das ganze Ausmaß des tiefsitzenden Nationalchauvinismus der herrschenden Klasse und des kontinuierlich nach rechts driftenden politischen Mainstreams heraus.

Dennoch steht Özil mit seiner Respekterweisung für Erdogan dem vorbestraften Wurstfabrikanten Uli Hoeneß, der den Fußballspieler eine "Schande für Leute in Deutschland" schimpfte, näher, als ihm lieb sein dürfte. So verfolgt der Despot in Ankara nicht nur die kurdische Minderheit im eigenen Land aus nationalchauvinistischen Gründen, er fand auch keine Worte der Verurteilung, als auf den kurdischen Fußballspieler Deniz Naki ein Mordanschlag in der Bundesrepublik verübt wurde. Ganz im Gegenteil, der sich zum Freiheitskampf der KurdInnen bekennende Naki wurde wegen seiner Gesinnung vom türkischen Fußballverband lebenslang gesperrt, mit einer hohen Geldstrafe belegt und von der türkischen Terrorjustiz zu 18 Monaten Haft verurteilt [3].

Die Stigmatisierung Özils ist mithin das Ergebnis einer Integrationslogik, die die Unterwerfung unter den jeweiligen Nationalethos zusätzlich zu allen anderen Anpassungsleistungen zwingend voraussetzt. Ob es in diesem Kontext um "Ehre" oder "Schande" geht, hier wird mit einer Moral gehandelt, deren ausgrenzende Wirkung Feindbilder und Sündenböcke wie von selbst produziert. Vor dem Hintergrund eines Mannschaftssportes, an den höchste Erwartungen nationalen Erfolges geknüpft sind, wie die nach der Niederlage der Nationalmannschaft der Männer beim Public Viewing am Brandenburger Tor weinend zusammenbrechenden Fans eindrucksvoll unter Beweis stellten, und für den fast schon der Ernstfall ausgerufen wird, wenn die symbolpolitische Gleichung von Erfolgsverpflichtung und Massenidentifikation nicht aufzugehen droht, können individuelle Stellungnahmen denn auch explosive Wirkung entfalten.

Es ist alles andere als ein Spiel, wenn der Fußballzirkus in die Stadt kommt, sondern bitterer Ernst nicht anders als im Falle von Krieg und Frieden, von Staatsgewalt und Rebellion. Diese Entwicklung aus der Warte des Fußballfans zu kommentieren, wie es Claudia Roth getan hat, und den im Profisport und Nationenvergleich angelegten Leistungsrassismus nicht auf den Begriff seiner Kritik und Aufhebung zu bringen ändert mithin wenig an der dadurch bedingten Freund-Feind-Markierung. Die AfD ist auf der Jagd, wie Gauland und Weidel betont haben. Als Beute auserkoren ist alles angeblich "Undeutsche", das nach Anatolien "entsorgt" werden soll. Wer sich dem Diktat der darin angelegten Ausgrenzungspolitik nicht beugen will, wer nicht zum Preis der Unterwerfung unter die deutschnationale Leitkultur dazugehören will, sollte vorsichtshalber schon einmal überlegen, was alles mitzunehmen ist, wenn Deutschland ohne Wiederkehr verlassen wird.


Fußnoten:

[1] https://www.deutschlandfunk.de/nach-oezils-ruecktritt-wir-haben-ein-rassismus-problem-in.694.de.html?dram:article_id=423670

[2] https://www.heise.de/tp/features/Merkel-macht-Graue-Woelfe-hoffaehig-4118163.html

[3] https://www.heise.de/tp/features/Mesuet-Oezil-und-Deniz-Naki-Gute-und-schlechte-Propaganda-Verbindungen-4121150.html

27. Juli 2018


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