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HERRSCHAFT/1790: Hetzjagd - verschleierungstaktische Rhetorik ... (SB)



Aus einer Position der Stärke zu provozieren ist das Privileg derjenigen, denen der Ausnahmezustand eine Erweiterung ihrer exekutiven Befugnisse beschert. Eine Verschwörungstheorie aufzubauen, um dann zurückzurudern, aber gerade damit den Kern des Gesinnungsverdachts freigelegt zu haben, ist eine bewährte Strategie in krisenhaften Zeiten, in denen die Normalisierung des Ausnahmezustandes mit der Aufhebung verfassungsrechtlicher Prinzipien in kleinen, aber absehbar unumkehrbaren Schritten vollzogen wird.

Wie aus der Luft gegriffen präsentierte der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, die Behauptung, ein als Beleg für die in Chemnitz erfolgten Hetzjagden im Netz kursierendes Video sei manipuliert worden, nur um nach mehreren Tagen, in denen keine offizielle Stelle seine These unterstützte, zu erklären, es nicht so gemeint zu haben, wie in den Medien dargestellt. Das Video sei nicht gefälscht, er sei lediglich falsch verstanden worden. Er habe mit seinen Äußerungen, die die Bild-Zeitung am 6. September veröffentlicht hatte, lediglich die Frage aufwerfen wollen, ob das Video auf "authentische" Weise eine Menschenjagd zeige [1].

Gegenüber Bild hatte Maaßen allerdings erklärt: "Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist." Seiner Ansicht nach gebe es "gute Gründe", von einer "gezielten Falschinformation" auszugehen, mit der von dem Mord in Chemnitz abgelenkt werden solle [2]. Der Chef eines Amtes, in dem die Worte angeblicher ExtremistInnen mit aller normativen Finesse durchleuchtet werden, um Bewertungen zu erstellen, die dazu führen können, daß ein strafrechtlich unbescholtener Mensch als "Gefährder" mit Präventivmaßnahmen überzogen wird, die auf Abschiebung respektive Administrativhaft hinauslaufen können, begeht die seiner Ansicht nach wohl läßliche Sünde, den einen Tag das eine, den anderen Tag das andere zum gleichen Sachverhalt zu behaupten.

Man stelle sich vor, ein Amtsvorgänger hätte kurz nach dem 11. September 2001 Zweifel an der Echtheit der von der US-Regierung präsentierten Version der Anschläge in New York City und Washington DC geäußert. Viele, auch seriöse Zeitzeugen hegten vor 17 Jahren Zweifel an den vom Weißen Haus erhobenen Bezichtigungen, zumal sie in der Folge den Krieg gegen Afghanistan legitimierten und die Eroberung des Iraks zumindest mitverursachten. Selbstverständlich hielten sich deutsche Geheimdienste nicht damit auf, die Kriegsbegründungen des NATO-Partners zu unterminieren, sondern taten ganz im Gegenteil alles dafür, sie zu befestigen. Im Vorfeld des Angriffskrieges gegen den Irak bot der BND sogar einen Zeugen dafür auf, der die überaus dünne Theorie von den Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins untermauerte, nur um sich bald darauf als von deutschen Behörden mitaufgebauter Lügenbaron zu erweisen.

Im Zentrum exekutiver Macht hält man es mit der Staatsräson, die im Falle Maaßens auf die Diskreditierung all jener abzielt, die die mit der Neuen Rechten und ihrer Entuferung weit ins Lager der Unionsparteien hinein aufziehende Gefahr neofaschistischer Ermächtigungspolitik beim Namen nennen. Maaßen kann sich als Chef einer Bundesbehörde, die ohnehin unter dem Verdacht steht, mit der staatsaffinen Rechten einen wohlwollenden Umgang zu pflegen, hatte sie doch im Verlauf der Ermittlungen gegen die Anschläge des NSU eher mit Nebelwerfern als erhellenden Einsichten aufgewartet, offenkundig leisten, mit derartigen Manövern der Verharmlosung der in Chemnitz erfolgten Ausfälle gegen nichtdeutsche und linke Menschen zuzuarbeiten.

In Anbetracht von 140 Ermittlungsverfahren, die die Generalstaatsanwaltschaft Dresden im Zusammenhang mit den Demonstrationen vom 26. und 27. August in Chemnitz bearbeitet, und der zahlreichen Zeugenaussagen, die die massive Aggressivität rechtsradikaler ÜberzeugungstäterInnen belegen, erscheint die Debatte um die Definition von "Hetzjagd" oder "Menschenjagd" bereits als Mittel der wachsenden Bereitschaft, Konflikte im öffentlichen Raum bis an die Grenze des offenen Pogroms zu treiben. Anschließend wird mit den Schultern gezuckt, über Menschen abgelästert, die solche Vorfälle als ernstzunehmende Bedrohung der Demokratie anprangern, und vielleicht das "Rechtsempfinden der Bevölkerung" angeführt, mit dem NRW-Innenminister Herbert Reul die Abschiebung des sogenannten Gefährders Sami A. trotz gegenteiligen Gerichtsbeschlusses verteidigte.

Es sind genügend Beispiele für rechtsradikale Eskalationsstrategien bekannt, als daß jemand behaupten könnte, auch vor lebensbedrohlichen Attacken nicht zurückschreckende Zusammenrottungen seien in Deutschland undenkbar. Kleine Szenen am Rande, die unter anderen Umständen schon einen Eklat darstellten, werden in diesem Kontext kaum mehr erwähnt. So wurde von einer Frau berichtet, die vor dem Veranstaltungsort, in dem Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer nach den Auseinandersetzungen zum Bürgerdialog geladen hatte, mit einem Transparent gegen Nazis stand, weswegen sie von den umstehenden, meist männlichen Rechten beschimpft und schließlich mit Vergewaltigungsaufforderungen belegt wurde.

Daß Maaßen, der als Leiter des Referats für Ausländerrecht im Bundesinnenministerium dafür verantwortlich war, daß der nach Guantanamo verschleppte, in Bremen lebende Murat Kurnaz vier Jahre Folterhaft zusätzlich absitzen mußte [3], auch diesen Vorfall unbeschadet überstehen wird, ist Ausdruck einer tiefsitzenden Krise der Anwendung verfassungsrechtlicher Normen. Schon geringfügige Verschlechterungen der Versorgungslage könnten heute dazu führen, daß sich eine nur mit antidemokratischen Ermächtigungsmaßnahmen zu erwirkende Form unbedingter Staatsautorität etabliert. Wer Maaßens strategische Irreführung als bloßes Kommunikationsversagen schönredet und den demokratietheoretisch ohnehin höchst prekären Charakter der in seinem Amt vollzogenen Gesinnungsbewertung nicht als institutionellen Steigbügel für rechte Seilschaften begreift, der könnte in nicht allzu ferner Zukunft mit Maßnahmen der Kontrolle und Repression konfrontiert sein, die nichts anderes bezwecken, als den nationalchauvinistischen und sozialrassistischen Normalzustand mit Ewigkeitsmerkmal zu versehen.


Fußnoten:

[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextreme-ausschreitungen-maassen-relativiert-aussage-zu-vorfaellen-in-chemnitz-1.4123374

[2] http://faktenfinder.tagesschau.de/inland/faktencheck-maassen-101.html

[3] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7717/

11. September 2018


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