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HERRSCHAFT/1803: Brasilien - die Zeit der Peitsche ... (SB)



Wir werden eine große Säuberung durchführen. Die linke Clique wird sich unseren Gesetzen unterordnen müssen, wenn sie hier bleiben will. Sonst müssen sie abhauen oder sie werden in den Knast wandern. Diese roten Verbrecher werden wir aus unserem Vaterland verstoßen.
Jair Bolsonaro im Wahlkampf [1]

Am 1. Januar 2019 tritt Jair Bolsonaro als 42. Präsident Brasiliens sein Amt an. Die schlimmsten Befürchtungen haben sich bestätigt, droht der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas mit rund 210 Millionen Einwohnern doch das weitaus repressivste Regime seit Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985, deren Greuel der Hauptmann der Reserve und langjährige Hinterbänkler im Parlament offen glorifiziert. In der Stichwahl setzte sich Bolsonaro mit 55,1 Prozent gegen Fernando Haddad von der Arbeiterpartei (PT) durch. Trotz Wahlpflicht blieben mehr als 40 Millionen der 146 Millionen Wahlberechtigten den Urnen fern oder stimmten ungültig, was das Ausmaß der tiefen Abneigung gegen das politische System unterstreicht. Weite Teile der Bevölkerung machen dieses Geflecht aus Politik und Ökonomie für die verheerendste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes verantwortlich. Das Bruttoinlandsprodukt ist zwischen 2015 und 2016 um acht Prozent gesunken und erholt sich so langsam wie nie zuvor. Die Arbeitslosenquote stagniert bei 12 Prozent, extreme Armut und Kindersterblichkeit nehmen zu. [2]

Daß die Menschen angesichts dieses dramatischen Niedergangs der Lebensverhältnisse, wachsender existentieller Unsicherheit und grassierender Gewalt mehrheitlich für eine rechtsextreme Ideologie empfänglich sind und dem Heilsversprechen einer Säuberung mit eisernem Besen den Zuschlag geben, hat viele Gründe. Grundsätzlich hat die Rechte mit ihrem Ansatz vorgeblicher Krisenbewältigung sehr viel leichteres Spiel als die Linke, weil sie die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht umwälzen, sondern im Gegenteil noch verschärfen will. Sie setzt auf Führertum, starken Staat und ein Ordnungsregime der Sicherheitskräfte, schwört ihre Anhängerschaft rassistisch auf nicht-weiße Menschen, Frauen, Minderheiten und emanzipatorische Bewegungen als Feindbilder ein.

Bolsonaro wird von der US-Regierung, Militärs und Evangelikalen, Wirtschaftseliten und Investoren unterstützt. Er bedient die tief verwurzelte Kultur von Gewalt, Rassismus und antisozialem Chauvinismus in der brasilianischen Gesellschaft, indem er zur Hetzjagd auf Schwächere bläst und das Regime der Starken damit vor Aufbegehren gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Verfügung schützt. Er dient sich als Garant der Herrschaftssicherung an, schützt die Eigentumsverhältnisse und verspricht den von Abstiegsängsten heimgesuchten Schichten Rettung durch Freisetzung einer Vernichtungswut, die den "Abschaum" verfolgt und eliminiert.

Fernando Haddad ging als Kandidat einer linken Wahlallianz und in der Stichwahl der Vertreter des demokratischen Spektrums ins Rennen, um den dramatischen Rechtsruck zu verhindern. Im Vorfeld der Wahlen hatte Bolsonaro in seinen Hetztiraden die Arbeiterpartei als "rote Verbrecher" angeprangert, die sich nach seinem Sieg zwischen Exil oder Gefängnis entscheiden müßten. Er kündigte eine Säuberung an, wie es sie in der Geschichte Brasiliens noch nie gegeben habe. Vorausgegangen war der kalte Putsch gegen die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 unter Führung Michel Temers, der in der Folge eine verschärfte neoliberale Agenda durchsetzte. Es kam zu Massendemonstrationen, heftigen Protesten und Auseinandersetzungen, Temer ließ das Militär aufmarschieren. Der Übergangspräsident war extrem unpopulär, zumal seine Verstrickung in Bestechungsnetzwerke publik wurde. Demgegenüber galt Luiz Inácio Lula da Silva als aussichtsreichster Kandidat bei der nächsten Präsidentschaftswahl, bis er wegen Bestechlichkeit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde und ins Gefängnis gehen mußte. Sein Versuch, dennoch zu kandidieren, scheiterte, worauf der relativ unbekannte Haddad viel zu spät ins Rennen ging. Wie diese unmittelbare Vorgeschichte zeigt, hatte die Ausschaltung der Arbeiterpartei längst begonnen, als Bolsonaro vermeintlich wie aus dem Nichts hervorsprang und fortan das Feld beherrschte.

Diese Entwicklung führte dazu, daß die Arbeiterpartei über ihre erhoffte Rolle als letztes Bollwerk gegen den Aufstieg der Rechten hinaus vielfach zu einem Gegenentwurf zu den herrschenden Verhältnissen überhöht wurde. Diese Vorstellung bedarf jedoch einer Überprüfung, ohne die Bolsonaros Machtübernahme nicht hinreichend entschlüsselt werden kann. Unter der Präsidentschaft Lulas galt Brasilien als einer der weltweit zukunftsfähigsten Entwürfe eines aufstrebenden Schwellenlands. Man hielt ihm zugute, gleichermaßen einen ökonomischen Sprung in die Riege der Wortführer einer multipolaren Weltordnung vollzogen wie auch die extremen inneren Widersprüche gebändigt zu haben. Angesichts der globalen kapitalistischen Systemkrise mutete damals die Botschaft, die Epoche für unvereinbar erachteter Klassengegensätze lasse sich unumkehrbar zugunsten einer Koexistenz von Armut und Reichtum auf Grundlage einer beiderseits nutzbringenden Strategie der Versöhnung und Bündelung aller Kräfte überwinden, geradezu wie die frappierende Beweisführung der vordem nur gepredigten Heilslehre an.

Wie andere Akteure des politischen Establishments hatte auch Lula seine Vorgeschichte des Aufbegehrens gegen die herrschenden Verhältnisse zugunsten einer erfolgreichen Positionierung im parlamentarischen System zurückgelassen. Im langen Marsch durch die Institutionen warf er alles ab, was ihm als widerspruchsbehafteter Ballast den Eintritt in die Sphäre nationaler Eliten verwehrt hätte. Lula machte vor seinem letztendlichen Wahlsieg der Wall Street seine Aufwartung, unterwarf sich der Politik des Internationalen Währungsfonds und schwor allen ökonomischen Experimenten auf eine Weise ab, die ihm die Unterstützung der einheimischen Wirtschaftseliten sicherte. Ihn zeichnete die Befähigung aus, Widerstände zu befrieden, Gegenkräfte einzubinden und einen inspirierenden nationalen Mythos zu generieren, der die horrende soziale Kluft dauerhaft zu brücken schien.

Barack Obama bezeichnete ihn als den "populärsten Politiker auf Erden" und das Time-Magazin erklärte ihn zur "einflußreichsten Person weltweit", Wie die Financial Times anerkennend schrieb, habe Lulas Präsidentschaft "Brasiliens Umarmung des Kapitalismus und der Globalisierung" auf den Weg gebracht. Zugleich verehrt man ihn namentlich im verelendeten Nordosten des Landes bisweilen wie einen Heiligen, da er mehr für seine armen Landsleute getan habe, als all seine Vorgänger. Zugleich galt seine Präsidentschaft als Garantie, das Rad kapitalistischer Verwertung allen Unkenrufen zum Trotz weiterzudrehen.

Ohne Lulas vielschichtige Talente in Abrede zu stellen, lagen doch wesentliche Triebkräfte seines Erfolgs wie die globale Integration des Kapitalismus und der sechzehn Jahre währende Boom der Rohstoffe jenseits seiner Kontrolle. Auf Grundlage dieser Voraussetzungen gelang es ihm, Wachstum und Konzentration des brasilianischen Kapitals auf beispiellose Weise zu befördern, wofür ihm der Rückhalt der Wirtschaftseliten sicher war. Seit Beginn seiner ersten Amtszeit im Jahr 2002 stiegen allein die Profite der Banken um 420 Prozent, während transnationale Konzerne wie Brasil Foods, Petrobas, das Bergbauunternehmen Vale do Rio Doce oder der Flugzeugbauer Embraer in die Weltspitze ihrer Branchen aufstiegen.

Unterdessen wurde das Wohlfahrtsprogramm Bolsa Familia aufgestockt, in dessen Rahmen den ärmsten Familien 40 Dollar im Monat sowie weitere 12 Dollar für jedes Kind, das sie zur Schule schicken, gewährt werden. Jeder vierte Einwohner des Landes war auf diese Unterstützung angewiesen, die nach Version der Regierung 20 Millionen Menschen aus bitterer Armut in die Mittelklasse gehoben hat. Bald mehrten sich Stimmen, die in ausdrücklicher Abkehr von allen Ansätzen weitreichenderer sozialer und in der Konsequenz gesellschaftlicher Umgestaltung das brasilianische Wohlfahrtsmodell zum Königsweg der Armutsbekämpfung ausriefen. Ohne dessen Leistungen zu negieren, darf man dennoch bezweifeln, daß von einem massenhaften Aufstieg in die Mittelklasse die Rede sein konnte, sofern man letztere nicht unmittelbar über der offiziellen Armutsgrenze ansiedelt. Die brasilianische Gesellschaft ist nach wie vor von extremer sozialer Polarisierung geprägt. Wollte man die Behauptung aufrechterhalten, von der Präsidentschaft Lulas hätten alle Brasilianer profitiert, muß man schon als selbstverständlich voraussetzen, daß dies natürlich für jeden im Rahmen seiner Möglichkeiten gilt.

Das Wohlfahrtssystem bleibt ein Lehen, das den Empfängern Almosen gewährt oder entzieht, ohne an den bestehenden Besitzverhältnissen und Einflußmöglichkeiten zu rühren. Solange die Wirtschaft floriert, wird etwas für die Armen abfallen und sie zugleich in das paternalistische Gefüge einbinden. Wird die Kasse eines Tages knapp, sind sie die ersten, die den Gürtel bis an die Grenze ihrer schieren Existenz enger schnallen müssen. Das Erfolgsmodell des "Lulaismus" wurde nicht zuletzt deswegen international hofiert, weil es die ausgeprägtesten sozialen Unwuchten vorübergehend austarierte und das Aufbegehren befriedete, jedoch die Frage, zu wessen Lasten die neuen Reichtümer erwirtschaftet wurden, vollständig ausblendete.

Solange die Preise der agrarischen und industriellen Rohstoffe, die Brasilien exportierte, stiegen, reichten die Erlöse aus der Ausfuhr von Soja und Mais, Kaffee, Baumwolle, Orangensaft und Zucker wie auch Eisenerz aus, um im Verbund einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik mit wachsenden Staatsausgaben ein solides Wachstum zu befördern und die Arbeitslosigkeit zu senken. Dieser sozialdemokratische Gesellschaftsentwurf einer gewissen Umverteilung blieb jedoch wie in zahlreichen anderen Ländern auch in Brasilien eine bloße Etappe und auf der Strecke, als die globale Verwertungskrise des Kapitals auch hier einsetzte.

Wie die anderen Parteien war auch die Arbeiterpartei in ein System der Korruption verstrickt, das vom Stimmenkauf im Kongreß bis zu hin zu Bestechungen und Nebeneinnahmen für öffentliche Aufträge in den Bereichen Bau, Industrie und bei den Energiemonopolisten reichte. Dies erlaubte es Bolsonaro, sich mit populistischer Kritik an Korruption und Vetternwirtschaft als die einzige saubere Opposition zu inszenieren. Die Arbeiterpartei hat sich im Kongreß mit diversen rechten Politikern verbündet, um die vom IWF geforderte Wirtschaftspolitik umzusetzen. Wenngleich Bolsonaro mit allen erdenklichen Mittel der Demagogie gegen Haddad zu Felde zog, um ihn per WhatsApp mit Falschmeldungen in den Schmutz zu ziehen, hat er doch zweifellos massenhaft Stimmen eingeheimst, die tiefer Enttäuschung über die PT entsprangen. Geht man der Frage nach, wer Bolsonaro den Weg zur Macht geebnet hat, darf man auch die Arbeiterpartei nicht aussparen.


Fußnoten:

[1] faktenfinder.tagesschau.de/ausland/fakenews-kampagne-brasilien-101~_origin-4eb42477-4450-4218-b6ed-e6e954f0e061.html

[2] www.wsws.org/de/articles/2018/10/30/braz-o30.html

30. Oktober 2018


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