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HERRSCHAFT/1807: Parteien - grün, die Farbe der Wende ... (SB)



Straffällige Asylbewerber, die unsere Rechtsordnung nicht akzeptieren und vollziehbar ausreisepflichtig sind, sollten bei der Abschiebung vorgezogen werden.
Annalena Baerbock (Co-Vorsitzende der Grünen) [1]

Ihre Regierungsfähigkeit auf Bundesebene haben die Grünen schon vor Jahren unter Beweis gestellt. In der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder und Joseph Fischer schufen sie zusammen mit den Sozialdemokraten durch die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 den größten Niedriglohnsektor Europas und führten damit die weltweit gravierendste sozialpolitische Umverteilung in einem Industriestaat herbei. Aus heutiger Sicht ist die Lohnquote der abhängig Beschäftigten um 11 Prozent zurückgegangen, für die unteren 40 Prozent bedeutet das die Absenkung ihrer Reallöhne unter das Niveau von 1995. Vom wachsenden Wohlstand, der allenthalben ins Feld geführt wird, haben die unteren zwei Drittel der Bevölkerung nicht profitiert. Ihr Einkommen ist zurückgegangen oder stagniert im günstigsten Fall. Die zu ihren Lasten erwirtschaftete deutsche Führungsposition in Europa ging zugleich mit einer tiefgreifenden Befriedung der Arbeits- und Sozialkämpfe einher, die unter Einbindung der Gewerkschaften jeglichen Widerstand gegen die sozialen Grausamkeiten verhinderte.

Während das Hartz-IV-Ghetto mit seinen heute gut 6 Millionen Insassen weithin bekannt ist, dürfte die ebenfalls von der rot-grünen Koalition forcierte Kommodifizierung der Gesundheit weniger geläufig sein. Mit dem Krankenhausfinanzierungssystem (DRG) wurde eine Umwälzung des Gesundheitswesens auf den Weg gebracht, in dessen Rahmen die Krankenhäuser in Deutschland derzeit 40 Millionen Fälle jährlich stationär oder ambulant "versorgen". Nachfolgende Große Koalitionen sattelten auf und trieben die Brutalisierung voran, die mit dem "Krankenhausstrukturgesetz" (KHSG) in die nächste Runde der Kapitalisierung der Krankenhausversorgung ging, die wiederum von der bereits in Angriff genommenen "Qualitätsoffensive" samt "Strukturfonds" aus Steuergeldern auf die nächsthöhere Stufe der Verwertung getrieben wird.

Die unter Fischer erstmals in die Bundesregierung eingetretenen Grünen erwiesen der herrschenden Klasse damals einen weiteren langersehnten Dienst. Sie durchbrachen den tiefverwurzelten Widerstand gegen Militäreinsätze und schickten die Bundeswehr in ihren ersten Kampfeinsatz gegen Jugoslawien, womit von deutschem Boden erstmals seit 1945 wieder ein Angriffskrieg ausging. Der grüne Außenminister steuerte zur Aushebelung der verfassungsrechtlichen Beschränkung auf die Landesverteidigung das ideologische Konstrukt bei, die Losung "Nie wieder Krieg!" müsse um "Nie wieder Holocaust!" ergänzt werden. Da auf dem Balkan ein Genozid drohe, sei Krieg die gebotene Option, ihn zu verhindern. Auf diese Weise verwertete Fischer die deutsche Schuld zugunsten einer Rechtfertigung sogenannter humanitärer Interventionen, also Angriffskriegen unter dem Vorwand, es gelte die Menschenrechte zu verteidigen.

Sozialdemokraten und Grüne richteten die deutsche Gesellschaft auf eine Weise zu, wie es die Konservativen kaum vermocht hätten. Während die SPD die Gewerkschaften mit ins Boot des Sozialabbaus holte, banden die Grünen weite Teile der ehemaligen Linken und des sich neu formierenden alternativen Bürgertums ein, so daß der Widerstand gegen die einschneidendste und folgenschwerste Reformpolitik in der Geschichte der Bundesrepublik auf der Strecke blieb. Den Abbau des Sozialstaats und die Militarisierung der Außenpolitik könnten sich die Grünen als ihre bislang bedeutendste politische Leistung ans Revers heften, was sie natürlich tunlichst unterlassen, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Die Sozialdemokraten haben sich angesichts ihrer Verantwortung für die Verelendung und Unterbindung des Widerstands nicht nur unglaubwürdig, sondern derart überflüssig gemacht, daß sie vor dem Untergang stehen. Anders die Grünen, denen es gelungen ist, sich als Steigbügelhalter des grünen Kapitalismus in Szene zu setzen, der die Rettung vor dem Klimawandel und dem Zusammenbruch der Wirtschaft technokratisch in Aussicht stellt.

Wie sie heute selbstbewußt anmahnen, müsse man inzwischen von drei maßgeblichen Kräften in der deutschen Parteipolitik sprechen, da ihre Zeit als Juniorpartner der Vergangenheit angehöre. Und da die SPD dramatisch an Stimmen und Bedeutung verliert, konzentrieren sich die Grünen in zunehmendem Maße auf das ohnehin seit Jahren angestrebte Bündnis mit der Union, wie es Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg so erfolgreich vorgemacht hat. Um ihre Regierungsfähigkeit auf Bundesebene abermals zu demonstrieren, bedarf es indessen anderer Prüfsteine als in der Vergangenheit. Von konservativen bis rechtsradikalen Kräften wird ihnen insbesondere zur Last gelegt, sie seien in Fragen der inneren Sicherheit ein unzuverlässiger Kantonist, da ihnen beim Blick durch die Multi-Kulti-Brille jede Freund-Feind-Kennung abhanden komme.

Um weiter im Aufwind zu segeln und als einzige Partei außer der AfD wählbar zu sein, die nicht abgestanden riecht, sondern eine Art Vision vorhalten kann, daß alles vielleicht doch wieder besser wird, muß die Parteiführung der Grünen harte Bandagen anlegen. Soll die Sicherheitspolitik nicht ihre ungeschützte Flanke bleiben, gilt es unbarmherzige Signale auszusenden, auch wenn dies Teile der eigenen Partei und Basis in empörte Aufruhr versetzen könnte. Die Vorsitzende Annalena Baerbock hat das getan und sich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung für eine raschere Abschiebung "straffälliger Asylbewerber" ausgesprochen. Sie fordert ein "konsequentes Durchgreifen" und erklärt: "Straffällige Asylbewerber, die unsere Rechtsordnung nicht akzeptieren und vollziehbar ausreisepflichtig sind, sollten bei der Abschiebung vorgezogen werden."

Warum positioniert sie sich vermeintlich ohne Not und aus freien Stücken auf diese Weise? Mit "Straffällige Asylbewerber" verwendet sie ein Codewort der extremen Rechten, die angebliche oder tatsächliche Straftaten von Flüchtlingen zu einer Bedrohungslage aufbauschen. Sie wollen ein Klima der Verdächtigung und Angst erzeugen, Polizei und Justiz als ohnmächtig und überfordert darstellen und den Aufbau eines Polizeistaats einfordern. Wie die anderen bürgerlichen Parteien lassen sich auch die Grünen von den Rechten vor sich her treiben und machen sich deren Schlüsselparolen zu eigen.

Daß man die Bundeswehr in den Krieg schickt und die neofeudale Klassengesellschaft zementiert, ist inzwischen so selbstverständlich, als sei es nie anders gewesen. Wer heute in Berlin mitregieren will, muß sich zum starken Staat bekennen, bei dem die Rechten offene Türen einrennen, weil er all das längst im Köcher hat, was sie als ihr Alleinstellungsmerkmal vorhalten. Daß AfD und Konsorten die anderen Parteien treiben können, heißt nicht, daß sie der Motor dieser Entwicklung wären. Sie satteln vielmehr auf das wachsende Unvermögen des bürgerlichen Staates auf, die multiple Krise mit altbewährten Mitteln der Herrschaftssicherung unter Kontrolle zu bekommen. Den repressiven Apparat aufzurüsten und auszubauen ist die Ultima ratio präventiver Sicherheitspolitik, die sich auf die kommende Revolte einstellt oder sie, besser noch, im Kein zu ersticken trachtet. Fast alle Bundesländer sind dabei, die schärfsten Polizeigesetze seit dem NS-Staat zu etablieren oder haben dies bereits getan. Und die weitreichende Ermächtigung polizeilicher Exekutivgewalt ist wiederum nur Glied einer Kette von Maßnahmen, die sich wie eine Würgeschlinge um den Hals des widerständigen Subjekts legen.

Die Parteivorsitzende erklärt in dem Interview, auf eine Straftat müßten Urteil und Strafvollzug zügig folgen, da andernfalls bei manchen Straftätern der Eindruck entstehe, daß Gewalt hierzulande keine Konsequenzen habe. Zu diesem Zweck will sie die "rechtsstaatlichen Instrumente" besser nutzen, strafrechtliche Sammelverfahren einführen, bei denen mehrere kleine Einzeldelikte zu einem großen Delikt zusammengefaßt werden, und mindestens zehn Jahre lang jeweils 400 Millionen Euro zusätzlich für die Justiz ausgeben. Sie begrüßt einen Vorstoß der 16 Regierungschefs der Bundesländer, Intensiv- und Mehrfachtäter nach schärferen Regeln abzuschieben und die strafrechtliche Schwelle abzusenken, ab der Abschiebungen möglich sind. Wer alle Integrationsbemühungen ruiniere, gehöre bei Straftaten "nicht aufs Dorf, sondern ins Gefängnis", so Baerbock.

Gänzlich neue Forderungen der Grünen sind das freilich nicht, heißt es auf ihrer Website doch, wer Asyl beantrage, verdiene ein faires und schnelles Verfahren. Nicht jeder, der komme, könne bleiben. "Wird ein Asylantrag abgelehnt und gibt es keine weiteren Gründe, die eine Rückkehr ausschließen (wie gute Integration, Krankheit, familiäre Situation und die Situation im Herkunftsland), hat für uns die freiwillige Rückkehr Vorrang vor Abschiebungen". [2] Das klingt natürlich viel milder, trägt aber in verklausulierter Form in etwa dasselbe vor, was Baerbock nun allerdings deutlich zugespitzt zum Ausdruck bringt.

Daß sich die Grünen zum Gewaltmonopol des Staates bekennen, heben sie seit geraumer Zeit, nun aber mit wachsender Akzentuierung hervor. Das Gewaltmonopol zu verteidigen, "war den Grünen nicht in die Wiege gelegt", sagte Baerbock bei der Eröffnung des Europaparteitags im November. Jetzt aber sei sie "unser Job". Das dabei verabschiedete Europawahlprogramm fordert denn auch eine stärkere europäische Kooperation der Sicherheitsbehörden, einen EU-weiten Datenaustausch und den Ausbau von Europol zu einer europäischen Polizei mit eigenen Ermittlungsteams. Dafür müßten ausreichend Ressourcen und Personal bereitgestellt werden. In Hessen haben Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) und sein Stellvertreter Tarek Al-Wazir (Bündnis 90/Die Grünen) in Wiesbaden Details des neuen Koalitionsvertrages vorgestellt. CDU und Grüne wollen in den kommenden fünf Jahren 1.000 neue Stellen für die Polizei schaffen und die Videoüberwachung an "besonderen Gefahrenorten" ausbauen. "Strengere Regeln" sind für Asylbewerber vorgesehen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie sollen künftig in einer der Landeseinrichtungen zur Erstaufnahme untergebracht werden. [3]

Ein Ausrutscher war Baerbocks Interview mit der Süddeutschen eher nicht, hat sie sich doch dem Vernehmen nach zuvor mit Fachpolitikern beraten und danach einigen Parteifreunden geschrieben. Obgleich ihr demnach bewußt war, daß es in ihrer Partei für Kontroversen sorgen könnte, hat sie es in dieser Form gegeben. Ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck stellte sich umgehend hinter sie, nannte ihr Interview präzise und mutig. Was vor einigen Jahren noch zu heftigen Flügelkämpfen geführt hätte, wurde aus der Partei heraus auffallend spärlich kommentiert. Der Kurs ist angelegt.


Fußnoten:

[1] www.wsws.org/de/articles/2018/12/20/grue-d20.html

[2] www.spiegel.de/politik/deutschland/annalena-baerbock-die-gruenen-fuehlen-sich-in-asyldebatte-missverstanden-a-1244814.html

[3] www.jungewelt.de/artikel/345843.schwarz-grün-in-hessen-mehr-polizei-für-hessen.html

22. Dezember 2018


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