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HERRSCHAFT/1893: Pandemie - Zweckwandel der Kontrolle ... (SB)



Das Warten auf ein Danach wird womöglich kein Ende haben. Die völlig ungeklärte Frage nach der Verfügbarkeit eines Impfstoffes gegen das SARS-CoV-2-Virus rückt die Möglichkeit, mit Hilfe eines Medikaments frei von Ansteckungsgefahr zu werden, in unauslotbare Ferne. Die Verlagerung des Epizentrums der Pandemie nach Lateinamerika, die weiterhin aufsteigenden Kurven der Infektionszunahme in den USA und Indien sowie die nicht abreißende Flut neuer Informationen über die vielfältige Symptomatik von COVID-19 lassen eine Ausbreitungsdynamik erkennen, die die Gefährlichkeit dieses Virus zumindest in den Augen potentiell Betroffener bestätigt. Auch nimmt die Zahl der an Covid-19 verstorbenen PatientInnen jüngeren Alters in Ländern wie Indien, wo das Durchschnittsalter der Bevölkerung bei weniger als 30 Jahren liegt, stark zu, so daß die Behauptung, sich fast nur als älterer Mensch bei einer Ansteckung in Gefahr zu bringen, nicht ohne weiteres hält, was sie verspricht. Das gilt auch für das häufig als Vorbild für ein liberales Krisenmanagement gerühmte Schweden, liegt die Rate an COVID-19 gestorbener PatientInnen dort doch 4mal so hoch wie in Deutschland, ohne daß dieser Preis sich in Form besonders erfolgreicher Ergebnisse wirtschaftlicher Art auszahlte.

Der Bundesrepublik, wo geschätzte 2 Prozent der Bevölkerung gegen das SARS-CoV-2 Virus für eine bislang unbekannte Zeit immun gegen eine neue Ansteckung sein sollen, steht also noch eine lange Strecke nicht abreißender Bedrohung durch COVID-19 bevor. Indem Thüringen bei der Aufhebung der Quarantänemaßnahmen trotz oder gerade wegen dieser unerfreulichen Perspektive vorprescht, macht Ministerpräsident Bodo Ramelow Punkte bei all denjenigen, die davon ausgehen, daß zukünftig wohl oder übel mit der permanenten Präsenz des Virus gelebt, gearbeitet und gestorben werden muß. Eine durch die Lockerungen vielleicht nicht mehr zu vermeidende Rückkehr zu einem allgemeinen Quarantäneregime, die Ramelows KritikerInnen geltend machen, erscheint angesichts der aus nicht betroffener Sicht verschmerzbaren Sterberate und des entbehrlichen Charakters sogenannter Risikogruppen unwahrscheinlich. Am Horizont dämmert vielmehr die vielzitierte "neue Normalität" einer Gesellschaft herauf, deren Reproduktion zu einem Gutteil am Weltmarkt und außerhalb der EU erwirtschaftet wird, was das Festhalten am bisherigen Akkumulationsmodell zwingend erscheinen läßt.

Während der Neoliberalismus durch die pandemiebedingte Erkenntnis, wie unzureichend sich mit einer Wirtschaft, deren Leistungsfähigkeit durch schnellen Kapitaldurchsatz und hochgradige Rationalisierung gewährleistet wird, derartige Krisen überstehen lassen, als Leitdoktrin an sein Ende gelangt zu sein scheint, nimmt die utilitaristische Logik demographischen Denkens auch im eher korporatistisch organisierten Krisenkapitalismus neuen Aufschwung. Die Kernfrage biopolitischer Gesellschaftsorganisation, wer leben darf und wer sterben muß, wird in Sicht auf den Schutz oder die Entbehrlichkeit sogenannter Risikogruppen auf eine Weise gestellt, die Anlaß zur Sorge bei allen damit Gemeinten gibt. Während sich immer deutlicher abzeichnet, daß das Ausmaß des noch zu erleidenden ökonomischen Niederganges längst nicht ausgelotet wurde, und den Regierungen nicht viel mehr dazu einfällt, als das fossilistisch-kapitalistische Akkumulationsregime wieder hochzufahren, können Fragen der Bevölkerungspolitik gestellt werden, die sich im Widerschein der NS-Eugenik noch vor kurzem verboten hätten.

Positiv - in der Ratio herrschender Verhältnisse - betrachtet könnte das Aufsteigen des Phoenix aus der Asche vermeintlich überflüssigen, entbehrlichen und austauschbaren Lebens ein neues Innovationsklima beflügeln, indem das biopolitische Krisenmanagement selbst zu einem Wachstumsfaktor würde. So wäre der Ausbau eines Kontrollregimes unterschiedlicher Zugangs- und Bewegungsmöglichkeiten, das sich auf Smartphone-Apps und Immunitätsausweise stützt, ein Wachstumsfaktor sui generis, der für weitere informationstechnische Rationalisierungsmaßnahmen auf dem großen Feld der Sozial- und Arbeitskontrolle fruchtbar gemacht werden könnte. Was im Bereich der sogenannten Gesundheitswirtschaft mit der E-Card über viele Jahre trotz erheblicher technischer Probleme und viel politischen Widerstandes als Infrastruktur eines alle Menschen umfassenden, vom Individuum bis zur Gesamtbevölkerung durchskalierbaren Screenings angeschoben wurde, könnte sich mit der Durchdringung aller Lebensbereiche durch die Agentien datenelektronischer Erfassung als bloßes Nebenresultat erweisen.

Der lange Zeit als zu zögerlich bewertete Fortschritt bei der Digitalisierung des Industriestandortes Deutschland wurde dank Corona bereits erheblich beschleunigt und steht nun vor einem Quantenspruch sozialer wie technologischer Innovation. Von den vielversprechenden Aussichten für die Stellung des Standortes Deutschland als Vorbild an Leistungs- und Innovationsfähigkeit dürften die sogenannten EntscheiderInnen in den Unternehmenszentralen und Regierungsbehörden unschwer zu überzeugen sein. Weit weniger mag dies für den einzelnen Menschen gelten, der jetzt schon durch die Aussicht auf massive Verarmung so eingeschüchtert ist, daß der Glaube an die Macht staatlicher Handlungsfähigkeit zivilreligiöse Dimensionen annimmt.

Was im Fall der Klimakrise nur bedingt erfolgreich war, weil die Bereitschaft zum technologischen Pfadwechsel und zur umfassenden Investition in grüne Technologien nicht ausreichte, um das fossilistische Akkumulationsregime schnell zu verabschieden, dürfte im Falle der Coronapandemie die Herzen der AktionärInnen und KapitalgeberInnen höher schlagen lassen. Im Unterschied zum Klimawandel verläuft die Pandemie in sehr überschaubaren Fristen und erzeugt dementsprechenden Handlungsbedarf. Da die Bevölkerung gezeigt hat, wie groß ihre Bereitschaft ist, tiefgreifende Einschnitte ins alltägliche Leben hinzunehmen, wenn die wissenschaftliche Begründung überzeugend ausfällt, könnte eine betriebswirtschaftliche Fitneßkur, in der die sozial differenzierte Infektionsabwehr neue Möglichkeiten des Erlangens eines höheren Sozialstatus freisetzte, zum zentralen Vergesellschaftungsmodell der Neuen Normalität werden.

All das wissen Politiker wie Ramelow oder FDP-Chef Lindner, der den Vorstoß des Linkenpolitikers unterstützt. Wer sich an die Spitze der Bewegung zur Modernisierung des Landes setzt und Horizonte administrativer Verfügungsgewalt von nie gekannter Zugriffsgewalt eröffnet, bringt alle Mitbewerber um Erfolg und Beliebtheit so sehr in die Reaktion, daß der gegen die Initiative Ramelows gerichtete Widerstand nicht ausbleiben konnte. Als Antwort auf die Frage, wie mit der endemisch werdenden Pandemie gesellschaftlich umgegangen werden kann, ohne jene grundlegenden Veränderungen zu vollziehen, mit denen die Axt an die Wurzeln des kapitalistischen Wachstumsmodells gelegt würden, verfügt der Sprung in die Modernisierung der Republik durch die rückhaltlose Anwendung informationstechnischer Bemittelung und Erfassung zweifellos über viel Attraktivität.

"Modernisierungsverweigerern" - so wurden Menschen, die keinen PC benutzen wollten, in den 1990er Jahren genannt - könnte dieses Mal nur die bittere Wahl zwischen Unterwerfung unter das neue Kontrollregime oder den Ausschluß von zentralen Feldern öffentlichen Verkehrs und Austausches bleiben. An alledem hat das Coronavirus keine Schuld, griff die Effizienzlogik kapitalistischer Verwertung doch schon vor der Pandemie so tief in alle Bereiche des erfolgreich kommodifizierten Lebens ein, daß viele Menschen gar nicht mehr erklären könnten, wieso eine solche Zukunft Anlaß zu sozialem Widerstand sein sollte. Wer die Frage vor der Pandemie nicht gestellt hat, weil die alltägliche Entfremdung und Unterwerfung nicht als solche in Erscheinung traten, läuft nun erst recht Gefahr, mit dichotomer Ausschließlichkeit bei einer Weltsicht zu enden, die den Bruch mit der Normalität gesellschaftlicher Zurichtung nicht wagt und daher Machenschaften vermutet, die aus der Deckung dieser Normalität heraus agieren.

Dabei existiert zwischen der Unterstellung, die von dem SARS-CoV-2-Virus ausgehende Gefahr sei weit übertrieben, und der affirmativen Anerkennung des staatlich verfügte Quarantäneregimes als humanistischen und altruistischen Motiven geschuldete Maßnahme viel Platz für eine Herrschaftskritik, die den technologischen Angriff, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und die angebliche Alternativlosigkeit das kapitalistischen Akkumulationsregimes als fortgeschrittene Form von Mangelverwaltung und Klassenherrschaft zusammendenkt.

Allein die lebensbedrohliche Normalität in vielen Regionen des Globalen Südens in die Frage einzubeziehen, wie mensch in Zukunft leben und arbeiten will, ändert alles. Den Blutzoll nicht zu unterschlagen, der für das gute Leben hierzulande in anderen Teilen der Welt entrichtet wird, setzt Kritik am neokolonialistischen und eurozentrischen Agieren auch vieler Linker voraus. Das schmälert die Zumutungen der deutschen Klassengesellschaft nicht in ihrer zerstörerischen Gewalt, sondern weitete den Blick für die Universalität eines Problems, für das es auch in Zukunft keine nationalen Lösungen geben wird.

Bei der Bewältigung kapitalistischer Krisen standen stets Momente technologischer Modernisierung und sozialer Innovation im Vordergrund, so auch dieses Mal. Der globale Charakter der Coronapandemie bringt zudem Wuchten ins Spiel, durch die das Ausmaß möglichen Kontrollverlustes epochale Dimensionen annehmen könnte. Auch vor diesem Hintergrund setzen die AgentInnen kapitalistischer Fortschrittslogik darauf, den Phoenix wieder aufsteigen zu lassen, und sei es zum Preis von Verlusten, wie sie ansonsten nur in Kriegszeiten und bei Hungerkatastrophen erlitten werden.

26. Mai 2020


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