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HERRSCHAFT/1916: Marxismus fortgedacht ... (SB)



Viele vertraten den Standpunkt, der geistige Hunger beginne erst im körperlich Gesättigten. Nur für den, der es noch nicht habe, spiele das Essen eine Rolle. (...) Was für ein geistiger Hunger ist das, der beginnt, wenn der Mann körperlich gesättigt ist? Er wird der Güte gleichen, mit der der Mann beginnt, wenn er den andern erschlagen hat!
Bertolt Brecht [1]

Mit der Räumung des Wagenplatzes der Köpi in Berlin-Mitte wurde die Absicht des Eigentümers durchgesetzt, aus mehr Geld viel mehr Geld zu machen. Ein Angebot der Stadt Berlin, das Gelände für einiges mehr zu erstehen, als es den Investor gekostet hat, war offensichtlich nicht hoch genug. Wer einen besetzten Platz im Wissen ersteht, dass die Vertreibung der dort lebenden Menschen Voraussetzung für den lukrativen Weiterverkauf des Objekts oder seine bauliche Wertsteigerung ist, kann dieses Geschäft nur mit Unterstützung der Staatsgewalt vollziehen. So ist es gekommen, und so sieht die sozialökonomische Wirklichkeit in einem Berlin aus, wo eine Mehrheit für die Enteignung großer Immobilienkonzerne votiert hat.

Wenn nun einige der BewohnerInnen unter die Brücken in der Nähe des Ostbahnhofes ziehen, dann gilt für sie nicht minder als für den Eigentümer ihres bisherigen Wohnortes, was der französische Dichter Anatol France schon vor 130 Jahren zum Thema Rechtsgleichheit zugespitzt hat: "Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen, unter Brücken zu schlafen, auf Straßen zu betteln und Brot zu stehlen." Was für die einen der letzte Notnagel ist, steht für andere mit großer Wahrscheinlichkeit außerhalb jeder Überlegung - sie sind schlicht nicht darauf angewiesen, ihr Leben im Konflikt mit dem herrschenden Eigentumsrecht zu fristen.

Wohnungslosigkeit, zumal in Zeiten der Pandemie, wo das Zehren vom Überfluss sehr viel schwieriger geworden ist, ist ein soziales Übel, das zur Krise des Spätkapitalismus gehört wie der Niedergang einer Linken, die es kaum noch wagt, das Wort "Enteignung" auszubuchstabieren. Wo die Flucht des Kapitals vor Niedrigzinsen und Anlagerisiken in Immobilien- und Grundeigentum direkt auf die immer schwieriger zu bewältigende soziale Reproduktion durchschlägt, hebt die Apologie des Privateigentums zu neuen Höhenflügen an, so Arnold Schölzel in der jungen Welt anlässlich des Entsetzens, das die Journalistin Anja Nehls schon beim Vernehmen der bloßen Begrifflichkeit befiel:

Sie hatte bereits am 21. September auf DLF Kultur geklagt: "Allein der Begriff 'Enteignen' macht mir Angst. Geschichtlich gesehen ist dabei nämlich selten etwas Gutes herausgekommen. Russland enteignet nach der Revolution die gesamte Bourgeoisie, die Nazis jüdisches Eigentum und die DDR Grund und Boden. Enteignungen sind für demokratisch denkende Menschen der Anfang vom Ende." Was macht Nehls da bloß mit den von der Großen Französischen Revolution von 1789 in Gang gesetzten Besitzveränderungen bei Adel und Klerus? Und erst die armen Hohenzollern seit 1918. Und die Landesverfassung Hessens, in der seit 1946 steht, dass Industrie, Banken und Großgrundbesitz "Gemeineigentum" sein sollen. 2018 wurde das per Referendum bestätigt - Ende der Demokratie. [2]

Was dem Marktsubjekt, das lediglich seine Arbeitskraft zum Verkauf anbieten kann, ein Papiertiger ist, verwandelt sich in den Händen der EigentümerInnen in ein scharfes Schwert. In Rechtsansprüchen artikuliert sich, perspektivisch wie immanent, physische Gewalt, das gilt nicht nur für kapitalistische Gesellschaften, aber insbesondere dort. Wer die Überwindung der Gewalt aus den Fluchten religiöser Letztbegründungen in die politische Praxis zurückholen will, kommt an der Eigentumsfrage nicht vorbei. Die Geschichte der Linken dreht sich in großen Zügen um die gerechtere Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, die als Anliegen sozialdemokratischer Politik scheinbar unumkehrbar in die Defensive angeblicher Sachzwänge kapitalistischer Reproduktion geriet. Doch zwischen einer finanziellen Entschädigung von Immobilienkonzernen, denen durch die in Berlin geforderte Enteignung, so sie politisch verwirklicht würde, kaum ein Schaden entstände, und der Vergesellschaftung der Produktionsmittel wie der Wiederherstellung kostenfrei zu nutzender Gemeingüter liegen Welten. Im unbescheidenen Stellen der Eigentumsfrage konnte die Erkenntnis, dass dieses stets gegen den anderen gerichtete Gewaltverhältnis der kommunistischen Aufhebung bedarf, nicht ausbleiben.

"Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" fragte Bertolt Brecht in der Dreigroschenoper und verwies damit auf eine im Verhältnis zur zunehmenden Quantität anwachsende Legalität des Raubes, der gegenüber die Moral der Ungerechtigkeit von Arm und Reich stets im Hintertreffen bleibt. Seit dem Beginn sesshafter Ackerbaukulturen bringt die Anhäufung von Reichtum eine Konzentration von Eigentum und Macht hervor, an der der sozialistische Versuch, den Staat an die Stelle des Privatkapitalisten zu setzen, nichts ändern konnte. Was das materielle Begehren persönlichen Konsums in seiner schwindelerregenden Dimension gegenstandslos macht, findet seinen Gebrauchswert in der Machtfülle derjenigen, die darauf bauen, dass Mangel und Ohnmacht schwer genug wiegen, um die große Mehrheit der Menschen am Boden zu halten. Widerstand ist zwecklos, tönt es aus dem Lager der Jasager, weil die Natur des Menschen nicht anders könne als dem anderen den Schädel einzuschlagen. Die Güte dieser Form von Zuwendung, für die Schaffung von Reichtum über Leichen zu gehen, ist im Zusammenwirken von christlicher Mission und kolonialistischer Expansion bis heute gewärtig. Das Wohlwollen, dem Elend seinen Schmerz zu nehmen, indem seine biologische Grundlage eliminiert wird, ist die Empathie des Genozids, dessen ökozidale Entgrenzung kein Halten mehr kennt.


Transparent 'Köpi Wagenburg bleibt' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Wir kommen wieder - Köpi Wagenplatz 2017
Foto: © 2017 by Schattenblick


Im Aufwind sozialdarwinistischer Logik

Wie in der Unangreifbarkeit monopolistischer Kapitalkonzentration tagtäglich zu bestaunen fällt der Mythos vom Recht des Stärkeren auf den fruchtbaren Boden neofaschistischer Zustimmung. Der bei einigen aus erlebter Ohnmacht, bei anderen aus ideologisch verkappter Lust an Unterdrückung und Grausamkeit gezogene Schluss, dass es um so gewalttätigerer Machtausübung bedarf, um sich einen Weg nach oben zu bahnen, setzt voraus, dass viele auf der Strecke des eigenen Aufstiegs bleiben. Nicht die vertikale Struktur der Klassengesellschaft oder staatlicher Verfügungsgewalt wird in Frage gestellt, gekämpft wird um die Qualifizierung der Kontrolle über knapper werdende Lebensressourcen und die Menschen, denen sie schon jetzt vorenthalten werden.

Die autoritäre Revolte der neuen Rechten bezweckt die Eroberung der Fleischtöpfe für all diejenigen, die qua Herkunft, Kultur und Nationalität dazugehören, um von den Fettaugen fernzuhalten, wer sich nicht für die Zugehörigkeit zur völkischen Beutegemeinschaft qualifiziert hat. Es ist daher mehr als ein Kulturkampf, wenn der autoritäre Zugriff auf die Organisation kapitalistischer Vergesellschaftung die öffentliche Diskussion im Gewand sich unschuldig gebender Ansprüche wie "Man wird ja wohl noch sagen dürfen" oder "Ich habe doch nur gefragt" besetzt.

Eurozentrische Suprematie, antikommunistischer Klassenprimat und patriarchale Geschlechterhierarchie ist die mit großer Zuverlässigkeit in neurechten Diskursen anzutreffende Trias einer Angriffsformation, die in der radikalen Linken schon vor fast 30 Jahren in der Schrift "DREI ZU EINS - Klassenwiderspruch, Rassismus und Sexismus" [3] in selbstkritischer Absicht zum Problem erhoben wurde. Während der Bedarf, in den eigenen Strukturen aus race, class und gender resultierende Unterdrückungspraktiken zu diskutieren, seitdem eher zugenommen hat und auf weitere Felder der Diskriminierung und Unterwerfung ausgedehnt wurde, zeitigt die Diskurshoheit der Rechten Folgen ganz anderer Art in der parlamentarischen Linken. Im Aufwind eines sogenannten Linkspopulismus, der die sozialdarwinistischen und identitären Quellen rechter Mobilisierung anzuzapfen versucht, ohne zugleich von den darin fungierenden Momenten xenophober, antifeministischer und rassistischer Aggression kontaminiert zu werden, tritt sie in Form eines ideologischen Wechselbalgs hervor.


Veranstaltungszelt mit Transparenten für offene Grenzen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Grenzenloser Weltenbrand - Klimacamp im Rheinischen Braunkohlerevier 2017
Foto: © 2017 by Schattenblick


Im Spreizschritt zwischen Fundamentalopposition und Regierungsmacht

Die Teilnahme an der freien, gleichen und geheimen demokratischen Wahl durch die Wahlbürger ist also nicht allein Zustimmung zum Regiertwerden; sie ist zugleich die Zustimmung zu einem in seinen Grundprinzipien feststehenden Regierungsprogramm des bürgerlichen Staatswesens. Jede Wahlbeteiligung ist der Sache nach - da mag der Wähler denken was er will - zugleich die Zustimmung zur Marktwirtschaft, zum Nationalstaatsprinzip, zur Existenz einer Staatsgewalt mit Gewaltmonopol, zum Interesse an imperialem Zugriffe auf andere Staaten usw. All das steht fest, weil nichts davon zur Wahl gestellt wird. [4]

Wie sehr der Spagat zwischen linken Prinzipien und populistischer Mobilisierung misslingen kann, hat zuletzt die Partei Die Linke mit dem Einbruch ihres Wahlergebnisses bei der Bundestagswahl Ende September bewiesen. Der Versuch, die Kommandohöhen politischer Macht durch opportunistisches Taktieren zu erobern, hat eine Abwanderung der WählerInnen zur SPD, zu den Grünen und ins Lager der NichtwählerInnen von fast der Hälfte der 2017 erhaltenen Stimmen bewirkt. Die Linke hat sich nicht nur überflüssig gemacht, weil sie ihr konsequentes Einstehen für die Ablehnung von Kriegseinsätzen der Bundeswehr zur Disposition einer Staatsräson gestellt hat, die unter dem Deckmantel im Ergebnis völlig unzureichender Rettungseinsätze nach einer weiteren Mandatierung des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan verlangte. Sie hat sich auch für links positionierte Menschen unwählbar gemacht, denen das Eintreten für Minderheiten und internationale Solidarität, gegen Imperialismus, Rassismus und Sexismus wesentliche Bedingung für eine parlamentarische Vertretung eigener Interessen sind.

Wo mit der vierjährlichen anonymen Abgabe der Stimme ein Blankoscheck zur freien Verwendung im Geschäft demokratischer Repräsentation ausgestellt wird, ist die Gewähr, das eigene Interesse mit Handlungsmacht auszustatten, kaum gegeben. Linke Grundsätze über Bord zu werfen oder zu schwächen, um an einer die herrschenden Verhältnisse fortschreibenden Regierungsbildung teilzuhaben, schwächt auch die außerparlamentarische Opposition, die die Durchsetzung emanzipatorischer Forderungen sehr viel wirksamer vorantreiben kann als eine der Staatsräson verpflichtete Partei. Verliert eine Linke, die bislang damit warb, in wesentlichen gesellschaftspolitischen Fragen verlässlich Kurs zu halten, an Kontur, nimmt die Austauschbarkeit unter den nicht umsonst eher farblich denn inhaltlich markierten Parteipositionen weiter zu. Mit dieser Beliebigkeit auch noch zu werben verbaut dem großen Lager der NichtwählerInnen die Möglichkeit, mit ihrer Stimme für Die Linke zumindest Protest einzulegen.

Die zum Wahlausgang in der Partei diskutierte Frage, inwiefern der Linkspopulismus Sahra Wagenknechts für das Scheitern an der Wahlurne verantwortlich zu machen sei, personalisiert ein Problem, das tiefer liegt, als deren Anwürfe gegen die sogenannte Lifestyle-Linke zu verantworten haben. Ihr im April 2021 veröffentlichtes Buch "Die Selbstgerechten" ist um die Öffnung der Linken für neurechte Diskurse bemüht [5], hat aber nicht zu einer Distanzierung in der Partei geführt, die den dadurch angerichteten Schaden begrenzt hätte. Statt dessen erhält Wagenknecht viel Unterstützung aus den eigenen Reihen, die anderen Strömungen der Partei die Missachtung der lohnabhängigen und auf Sozialtransfers angewiesenen Menschen zum Vorwurf machen, zu der es im Sofortprogramm vor der Bundestagswahl gekommen ist [6], um sich als regierungsfähig zu präsentieren.


Sozialer Krieg im Gewand des Kulturkampfes

Die UnterstützerInnen Wagenknechts halten darüber hinaus den sogenannten Kulturkampf zwischen Rechts und Links, auf dem um Fragen der Zuwanderung, des Rassismus, des Genderns und der Klimapolitik gestritten wird, für ein wahlentscheidendes Feld, auf dem nicht genügend Flagge gegen die sogenannte Lifestyle-Linke gezeigt worden sei. Gegen diese Deutung des Wahldebakels spricht, dass Wagenknecht in NRW selbst nicht die Zustimmung an der Wahlurne erhalten hat, die ihre Popularität versprach. Die Verankerung ihrer Positionen in Ressentiments, die sich quer durch das politische Spektrum ziehen, während sie in feindseliger Reinkultur vor allem in der Neuen Rechten anzutreffen sind, dürfte durchaus für die Abwanderung traditioneller Linken-WählerInnen verantwortlich sein.

Werden die emanzipatorischen Forderungen der Linken zugunsten einer Umverteilung, bei der auf ein größeren Stücks vom Kuchen imperialistischer Staatlichkeit gehofft wird, bis zur Unkenntlichkeit relativiert, dann droht das inhaltliche Profil der Partei auf eben jenes populistische Niveau zu verflachen, auf dem vordergründige Attribute wie gefühlte Sympathien für bestimmte KandidatInnen oder das Einstimmen auf verbreitete Vorbehalte gegen MigrantInnen zu wahlentscheidenden Faktoren werden. Um so unwidersprochener kann auf das von allen anderen Bundestagsparteien vertretene Ziel der Wahrung eines Besitzstandes abgehoben werden, den Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit für selbstverständlich nehmen, weil die Welt jenseits der nationalen und europäischen Grenzen für sie bestenfalls als Ressourcenquelle und Entsorgungsdeponie existiert.

Maßgeblich für diese Ignoranz ist ein unausgesprochen in Anspruch genommener Sozialstatus, über den zu verfügen die Logik der Mehrheit entscheidet, der gegenüber Minderheiten jeglicher Couleur rechenschaftspflichtig sind. Dieser Besitzstand umfasst den Vorteil, nicht wegen körperlicher, geschlechtlicher oder kultureller Eigenarten schräg angeguckt und belästigt zu werden. Vor allem garantiert er ein im Weltmaßstab hohes Ausmaß an Lebens- und Versorgungssicherheit. Die geringe Bereitschaft, diese Vorzüge kritisch zu hinterfragen, korrespondiert mit der Latenz rassistischer und xenophober Ressentiments.

Um diesen Besitzstand unter allen Umständen zu verteidigen bietet sich an, mit diesem Staat auch dann Frieden zu machen, wenn er Kriege zur Sicherung hegemonialer Interessen führt. Während die Zustimmung zur sogenannten bürgerliche Mitte ihre Attraktivität seit jeher aus der damit versprochenen Teilhaberschaft am bestehenden gesellschaftlichen Reichtum bezieht, hofft auch das weniger privilegierte Staatsvolk mit Blick auf ein zusehends katastrophales Weltgeschehen darauf, nicht von der Entwertungsdynamik überrollt zu werden, die aus der Krise des Kapitals, der Globalisierung, des Klimas und der Pandemie resultiert. Instinktiv wird immer mehr Menschen klar, dass der Krieg künftig nicht nur militärisch, sondern auf allen Ebenen der sozialen Reproduktion geführt werden wird.


Begrünter ehemaliger Flughafen Berlin-Tempelhof - Foto: © 2018 by Schattenblick

Flughäfen zu Gärten - Tempelhofer Feld in Berlin
Foto: © 2018 by Schattenblick


Internationalismus in Zeiten der Klimakrise

Eine diesen Besitzstand verteidigende Linke mag sozial egalitäre Teilhaberschaft an den nationalen Überlebensoptionen propagieren, was sie nicht daran hindern muss, beim Ausbau der nationalen Flüchtlingsabwehr Maßstäbe zu setzen, wie es die sozialdemokratische Regierung Dänemarks tut. Ein solcher "nationaler Sozialismus" ist auch in anderen EU-Staaten anzutreffen und erfreut sich wachsender Zustimmung. Freies Migrieren für alle Menschen, wie etwa die Philosophin Donatella Di Cesare in ihrem Buch "Philosophie der Migration" in Opposition zum Prinzip nationalstaatlicher Souveränität fordert [7], ist zwar eine traditionell linke Kernforderung, stößt aber auf wachsende Ablehnung auch unter Menschen, die sich links verorteten. Zu vergessen, dass alle Menschen auf diese oder jene Weise einen migrantischen Hintergrund besitzen, was die Freiheit zu unbegrenzter Bewegung des eigenen Körpers universal macht, während die Freiheit, unter anwachsendem Verbrauch so schnell wie möglich reisen zu können, immer nur einer kleinen Minderheit zuteil werden kann, fällt desto leichter, je knapper die zur Verfügung stehenden Lebensressourcen werden. Kein Wunder also, dass linker Populismus und sozialistischer Internationalismus immer weiter auseinanderklaffen.

Für die Bundesrepublik als Hegemon eines EU-Europas mit Weltmachtambitionen und Vertragsstaat einer NATO, die sich auf Kriege gegen den wirtschaftlichen Hauptkonkurrenten, VR China, und den militärisch stärksten Staat außerhalb der Allianz, die Russische Föderation, vorbereitet, bleibt die Absicht, das eigene, nunmehr grüne Akkumulationsmodell finanzkapitalistisch wie globalpolitisch auch mit Gewalt durchzusetzen, ungebrochen. Der konsequente Antikriegskurs der Linken war daher ein Alleinstellungsmerkmal, das gerade bei anwachsendem Druck, es aufzugeben, hätte verteidigt werden müssen.

Doch wie das Einschwenken führender LinkenpolitikerInnen auf antimigrantische Strategien zeigt, bedarf es eines weiter gefassten Begriffes vom Krieg, um Frieden als etwas anderes verstehen zu können denn die Einfriedung eines Territoriums gegen äußere Bedrohungen, als die aus klimabedingter wie sozialer Not in die EU flüchtende Menschen zusehends betrachtet werden. Der permanente soziale Krieg hat in der kapitalistischen Globalisierung eine Zerstörungsgewalt erlangt, die keiner militärischen Konfrontation bedarf, um von den davon betroffenen Menschen als existenzbedrohende Gewaltanwendung erlitten zu werden.

Epochale Dürren und Überflutungen, Wetterkatastrophen auch in nördlichen Breiten, Hungersnöte globalen Ausmaßes, lebensbedrohliche Hitzewellen und was der existenziellen Herausforderungen der Klimakatastrophe mehr sind werden, um nur ein Beispiel zu nennen, im Climate change risk assessment 2021 [8] des Think Tanks Chatham House als nicht erst bevorstehende, sondern längst über das Anfangsstadium hinausgewachsene Probleme ausgeführt.

Zwar ist der menschengemachte Charakter der Katastrophe allgemein anerkannt, doch wird die Bedeutung kapitalistischer Produktivkraftentwicklung für die immer steiler ansteigende Kurve krisenhafter Bedrohung allen organischen Lebens nur bedingt in Rechnung gestellt. Die Zerstörung der Grundlagen des Lebens durch fossile Energieerzeugung und wirtschaftliches Wachstum werden nach Kräften auseinanderdividiert, um CO2-Äquivalente als frei verfügbare Negativwerte gegeneinander aufrechnen zu können. Die dadurch eröffnete Möglichkeit, die Freisetzung von CO2-Emissionen durch das Anpflanzen von Bäumen oder die Abscheidung von Klimagasen und deren Einlagerung zu kompensieren, entspricht der Gleichgültigkeit des Kapitals, auf welcher stofflichen Basis auch immer zu akkumulieren. Die Absicht, noch auf lange Zeit fossil wirtschaften zu können, wird zudem durch die Suggestion gestützt, über ein frei verwendbares Budget an noch nicht emittierten Klimagasen zu verfügen, bevor die 1,5 Grad-Schwelle der Erwärmung erreicht wird.

Derartige Abstraktionen, die die Dringlichkeit sofortigen Handelns und die bereits katastrophalen Folgen einer Erwärmung um 1,5 Grad relativieren, beruhen nicht nur auf buchhalterischen Tricks, wie die KritikerInnen der Net-Zero-Strategie des politischen Klimaschutzes monieren. [9] Sie sind Ergebnis des sich wechselseitig verstärkenden Verhältnisses von energetischem Brand und kapitalistischer Produktivität, das den Kern des Problems der sich auch bei sofortigem Ergreifen umfassender Maßnahmen weiter erhitzenden Welt ausmacht. Nur mit Suggestionen wie der ökologischen Verträglichkeit sogenannter Verschmutzungsrechte oder der Schäden ausgleichenden Funktion des Offsettings durch Emissions- und Biodiversitätszertifikate ist grüne Wertproduktion zu machen, nur die Objektivierung destruktiver Praktiken in der Verrechnung von Umweltschäden zwecks wertbildender Quantifizierung von Verbräuchen kann die Wachstumsperspektiven einer Green Economy begründen, die dem radikalen Rückbau kapitalistischer Akkumulationspraktiken zugunsten einer ökosozialistischen Gemeinwirtschaft im Wege steht.

All das wären Felder, auf denen Die Linke wertvolle Oppositionsarbeit leisten könnte. Dazu müsste sie allerdings Produktivismus, Wachstumsdoktrin und Innovationsdynamik als Impulse eines Kapitalismus kritisieren, aus denen heraus nichts entsteht, das der Zerstörungskraft des fossilen Brandes und der nur bedingt weniger destruktiven Verbrauchslogik alternativer Energieerzeugung Einhalt gebieten würde. Die Linke hätte mithin gut daran getan, die Konvergenz von Kapitalismus und Klimakrise in den Mittelpunkt ihrer politischen Forderungen zu stellen.

Das bedeutete zugleich, ihrem sozialen Anspruch gerecht zu werden wie in Opposition zur ehemaligen Alternativpartei Die Grünen zu gehen. So unterstützenswert deren Anliegen sein mag, die Klimakrise aufzuhalten, so sehr bedarf die Methode, dies auf marktwirtschaftlichem Wege zugunsten eines neuen Akkumulationsregimes zu tun, des sozialen wie politischen Widerstandes. Sollte es eine wirksame außerparlamentarische Bewegung geben, die die Strategie, auf affirmative Vermittlungsprozesse zu setzen und in systemkonforme Appelle einzustimmen, überwunden hat, dann wäre eine parlamentarische Linke, die das Versprechen des grünen Kapitalismus, im wesentlichen bleibe alles wie es war, wirksam konterte, eine wertvolle Verbündete.

Wem die Zukunft geklaut wird, weil die Fortsetzung des immer gleichen absehbar Katastrophen zeitigt, tut gut daran, jede Form aggressiver Aneignung als systemische Eigenschaft gegenwärtiger wie vergangener Verhältnisse zu begreifen und zu bekämpfen. Der zwingenden Entwicklungslogik der Klimakrise mit Mitteln entgegentreten zu wollen, die ihr maßgeblich zugrunde liegen, führt bestenfalls in ein Partei- oder Regierungsamt oder einen Job bei einer Politikberatungsfirma, einer PR-Agentur, einer NGO. Es wäre bedauerlich, wenn die FFF-Akteure von heute, den Vorbildern der Partei Die Grünen adäquat, zu den Funktionseliten des grünen Kapitalismus von morgen würden. Da dessen Stellenangebote nicht unendlich groß sein können, dürfte die kritische Masse derjenigen, die den Ernst der Lage nicht zum Vehikel einer bürgerlichen Karriere machen wollen, für den erforderlichen Widerstand gegen die vorherrschende Beschwichtigungspolitik allemal groß genug sein.


Transparent 'You can't have capitalism without racism' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Dissidenten des Linkspopulismus - Gründungstreffen der Bewegungslinken 2019 in Berlin
Foto: © 2019 by Schattenblick


Kein Ökosozialismus ohne Überwindung von Rassismus und Sexismus

Für den Linkspopulismus der Wagenknecht und Co. dürfte die FFF-Generation bereits verloren sein. Wer sich polemisch über die Anliegen zahlreicher Minderheiten hinwegsetzt und sie abfällig als "Marotte" tituliert, findet weder bei grünanarchistischen noch queerfeministischen Bewegungen noch bei Fridays For Future Anklang. Anstatt sich auf produktive Weise mit dem herrschaftsaffinen Charakter einer Antidiskriminierungs- und Diversitätspolitik auseinanderzusetzen, die von sozialer Ungleichheit, kapitalistischer Ausbeutung und imperialistischer Kriegsführung zu wenig wissen will, wird unter dem Label "Identitätspolitik" zu einem Rundumschlag ausgeholt, der maßgeblich dazu beitrug, dass die Partei Die Linke zu Boden ging.

Mit diesem Kampfbegriff wird die Überwindung des Patriarchats auf einen Schlag als Nebenkriegsschauplatz entsorgt, als wären nicht historisch Ströme von Blut im Namen maskuliner Dominanz und zu Lasten dagegen gerichteter Formen des Aufbegehrens und der Autonomie vergossen worden. Hätte Wagenknecht die Überwindung des Kapitalismus nicht ohnehin zugunsten leistungsbezogener Formen marktwirtschaftlicher Meritokratie aufgegeben, dann wäre sie zumindest nicht hinter die Behauptung zurückgefallen, laut der feministischer und queerer Aktivismus auf einem Nebenwiderspruch beruhe, dessen Überwindung sich der Bekämpfung des Klassenantagonismus zwischen Bourgeoisie und Lohnabhängigen nachzuordnen habe.

Es ist kein Zufall, sondern Ergebnis patriarchaler Herrschaft, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung historisch an Geschlechtergrenzen festgemacht wurde. Wurden Frauen in vorkapitalistischer Zeit quasi naturgegeben in die Nähe des Viehs und der SklavInnen gerückt, sahen sie sich mit der Ausbildung des bürgerlichen Staates, mit Kapitalismus und Privateigentum der Belastung ausgesetzt, neben Haushalt und Kindererziehung auch noch Lohnarbeit zu verrichten. Wurden sie im 19. Jahrhundert mit sozialpolitischen Maßnahmen aus diesem Dilemma entlassen, dann nur zu dem Zweck, die Reproduktion der Arbeiter durch kostenlose Tätigkeit in Familie und Haushalt sicherzustellen. Sie sollten nicht durch Lohnarbeit auf eine Weise vernutzt werden, die die Funktionsfähigkeit von Industrie und Armee in Frage stellte. Dennoch unterliegen viele Frauen bis heute der Doppelbelastung, neben der Erwerbsarbeit das Gros häuslicher Sorgearbeit zu leisten, nicht weil die soziale Reproduktion der Gesellschaft Sinn und Zweck kapitalistischen Wirtschaftens wäre, sondern weil sie Voraussetzung dafür ist, freie Lohnarbeit zur Mehrwertproduktion bewirtschaften zu können.

Im betriebswirtschaftlichen Kalkül der Gesellschaft ist die Inanspruchnahme häuslicher Arbeit als kostenloser Beitrag zur kapitalistischen Wertproduktion nicht anders als die Einspeisung natürlicher Verbrauchspotentiale in die industrielle Produktion eine möglichst unsichtbar bleibende Externalität. Um so entschiedener wirbt die Neue Rechte für die Privilegierung der heteronormativen Kleinfamilie gegenüber anderen Lebensentwürfen. Sie soll als Kern der biologischen und ökonomischen Reproduktion des Nationalstaates wie seines ideologischen Primats patriarchaler Autorität verteidigt werden. "Deutschland. Aber normal." lautete der Wahlslogan der AfD. Normal ist all das, womit der weiße Mann aufgewachsen ist, was er kennt und worauf er konditioniert wurde. Wer als nicht weiß, nicht deutsch, nicht heterosexuell und sonst wie von der so unausgesprochen wie unhintergehbar gesetzten Norm abweicht, kann mit dem Stigma des anders Seins exponiert werden.

Demgegenüber das Verhältnis von Sex als biologisches und Gender als soziales Geschlecht zu begreifen ist ein produktiver Ansatz, um als quasi "natürlich" begründete Formen der Funktionszuteilung und Normerfüllung zu dekonstruieren, die im Kern der Fortschreibung maskuliner Dominanz dienen. Dass die Ausdifferenzierung nicht binärer Formen geschlechtlicher Orientierung selbst zu einem Problem gegenseitiger Abgrenzung führen kann, hängt vor allem mit der nicht in Angriff genommenen Kritik an gesellschaftlichen Verfügungsverhältnissen zusammen, die ohne die Ausbeutung sozialer Konkurrenz keinen Bestand haben können. Zugleich jedoch machen die verschiedenen Kennungen geschlechtlicher Orientierung sichtbar, dass die binäre Ordnung in einer strukturgebenden Zweiteilung der Welt wurzelt, die herrschaftskonformen Zwecken dient. In einer stark sexualisierten, den Körper marktförmig taxierenden Gesellschaft fallen etwa asexuelle Menschen so aus dem Rahmen, dass es durchaus in ihrem emanzipatorischen Interesse liegen kann, in der Nomenklatur nicht binärer Geschlechtlichkeit aufzutauchen.

Dennoch ist der Forderung "Queer Liberation, not Rainbow Capitalism" zuzustimmen, um der Adaption der Kämpfe um Geschlechtergerechtigkeit zwecks Instrumentalisierung für herrschaftliche Zwecke entgegenzutreten. Gleiches gilt im Antirassismus für die Forderung nach einer Diversität, die als pluralistischer Ausdruck neoliberaler Individualisierungsstrategien zu kritisieren allerdings erst dann diskriminierungsfrei bleibt, wenn an die Stelle kapitalistisch frei verfügbarer Vielheit die Kollektivität einer sozialistischen Bewegung tritt, die das Problem sozialer Konkurrenz an der Wurzel packt. Das erfordert eine Praxis alltäglicher Bereitschaft und Mühe, andere in ihrer Eigenart zu respektieren und wertzuschätzen, die wohl nur aus der Einsicht in die Totalität des Gewaltpotentials erfolgen kann, das kapitalistische und patriarchale Subjektivierungsprozesse historisch hervorgebracht haben.

In einer Gesellschaft, die auf Ungleichheit basiert, kommt die Diskriminierung nicht zur individuellen Position hinzu, sondern die individuelle Position ist von vornherein Produkt dieser Ungleichheit. Die Antidiskriminierungspolitik nimmt also mit der Ungleichheit der individuellen Erfahrungen immer das Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse in den Blick, ohne über die "Produktionsbedingungen" dieser Ungleichheit reden zu wollen.
Gesellschaft wird, dem folgend, immer als Frage der gegenseitigen Privilegierung ihrer einzelnen Mitglieder gedacht. Der Begriff des "Privilegs" fasst dabei selbst ein gesellschaftliches Verhältnis - die Bevorteilung einer Gruppe vor einer anderen - als eine individuelle Eigenschaft: Man "hat" ein Privileg oder eben nicht. Das hat zwar den Vorteil einer großen Anschlussfähigkeit an die private Lebenserfahrung, transportiert aber implizit auch immer ein bestimmtes Gesellschaftsbild: Gesellschaft zeigt sich damit nur noch durch die Meinung oder Haltung einzelner, aber nicht mehr in der Frage, wie diese einzelnen aufeinander verwiesen sind. Die kapitalistische Gesellschaft wird nicht historisch konkret als Ort widerstreitender Interessen, sondern als Summe von Einzelpositionen verstanden. [10]

Den Kampf gegen rassistische und sexistische Diskriminierung dem Staat zu überlassen heißt mithin, ohne Not defensiv zu agieren, wo ein offensiver Umgang mit dem ungemindert vollzogenen Ökozid kapitalistischer Akkumulation wie der anwachsenden sozialen Verelendung in aller Welt dringlicher nicht sein könnte. Das schließt die Überwindung eurozentrischer, kolonialistischer und patriarchaler Ideologie selbstverständlich mit ein, denn der kollektive Kampf um eine ökosozialistische oder auf andere Weise herrschaftsfrei verfasste Welt scheitert häufig genug an ungenügend aufgearbeiteten Gewaltverhältnissen in den eigenen Reihen.

Das Wissen um die historische Ausbeutung rassifizierter und sexualisierter Körper durch einen europäischen Kolonialismus, der die Arbeitskraft afrikanischer und indigener SklavInnen in den Plantagenökonomien und Bergwerken des Trikont vernutzte, wie deren Fortschreibung in der kapitalistischen Globalisierung ist eine grundlegende Voraussetzung für die Kritik am vertikalen Charakter des Nord-Süd-Verhältnisses. Ohne diese Form physischer Aneignung wären die Voraussetzungen der technisch-wissenschaftlichen Mechanisierung und Rationalisierung industrieller Arbeit gar nicht erst geschaffen worden, was die eurozentrische Sicht auf People of Color als Geschichte gewaltsamer Zurichtung sichtbar macht, die sich nicht einfach mit wohlmeinender Akzeptanz aufheben lässt.

Wie der Aktivismus des Ökofeminismus belegt, dessen Schwerpunkt im Globalen Süden und in Strukturen weltweiter Selbstorganisation wie der LandarbeiterInnenbewegung Via Campesina liegt, begründet der patriarchale Charakter des Zugriffes auf Mensch und Natur ein strukturelles Gewaltverhältnis, das aufzuheben mehr erfordert als klimapolitische Ausgleichsmanöver, die am Raubbau der Agrarindustrie und Tierproduktion, der Bergbau- und Energiekonzerne nichts ändern. Dabei findet nicht einmal die offiziell beschlossene Kompensation des historischen Vorteils jener Länder, deren hoher Wohlstand der Mobilisierung fossiler Energie für Krieg und Produktion geschuldet ist, wirklich statt.

Ganz im Gegenteil, sozialökologische Bewegungen haben es politisch wie strukturell sehr schwer, gegenüber der in Regierungen und Unternehmen formierten Kapitalmacht überhaupt in Erscheinung zu treten, wie der Welternährungsgipfel im September gezeigt hat [11]. Analog zur Dominanz transnationaler Wirtschaftsakteure, die den Kampf gegen den Hunger zugunsten ihres Profitinteresses und zu Lasten kleinbäuerlicher Subsistenz wie ökologischer Nachhaltigkeit sabotieren, fallen Basisinitiativen wie die kurdische Freiheitsbewegung, die im nordsyrischen Rojava ein an sozialökologischen und feministischen Prinzipien ausgerichtetes Modell autonomer Selbstorganisation entwickelt, den hegemonialen Interessen staatlicher Akteure zum Opfer. Die Versuche der Türkei, das Gebiet schrittweise einzunehmen, werden von der Bundesregierung durch Waffenlieferungen an die türkischen Streitkräfte, die Verfolgung kurdischer AktivistInnen in Deutschland und die politische Unterstützung Erdogans, der sich der Kampfkraft islamistischer Milizen und des IS zum Erreichen seiner strategischen Ziele bedient, faktisch unterstützt.


Transparent 'Studierende und Arbeitende Hand in Hand im Klimakampf' - Foto: © 2019 by Schattenblick

Neue Wege gehen - FFF-Demonstration Hamburg 2019
Foto: © 2019 by Schattenblick


Zukunftsfrage Ernährungssouveränität

Für jede Person, jedes Lebewesen, so viel weiß ich, ist das eigene Leben der einzige wirkliche Besitz, und mit jeder kleinen achtlos erschlagenen oder zerquetschten Fliege geht eigentlich die ganze Welt zu Ende, für das kaleidoskopische Auge der kleinen Fliege ist es, als hätte das Ende der Welt alles Leben zerstört. Nein, der Grund, warum ich über andere Frauen spreche, ist genau, damit ihr euren eigenen Schmerz nicht herunterspielt und ignoriert, damit ihr euch nicht selbst missversteht und ein verzerrtes Bild davon macht, wer ihr eigentlich seid. Nur zu gut verstehe ich, dass euch jede schöne Melodie, jede Blume, jeder Frühlingstag, jede mondbeleuchtete Nacht ein Reiz darstellt, die Verlockung der größten Schönheit, die die Welt zu bieten hat. [12]

Das Zusammenspiel kolonialistischer, rassistischer und sexistischer Zurichtung auf dem Weg in einen Ökozid, der auch die NutznießerInnen dieser Entwicklung bedroht, wäre das Thema einer Linken, die die Verhältnisse auf grundstürzende Weise in Frage stellt. Anstatt sich über VeganerInnen lustig zu machen, die bei allem kritikwürdigen Konsumismus und aller vergeblichen Reinheitsideologie an etwas rühren, was schon Rosa Luxemburg beschäftigt hat, stände es einer Partei, die auf sozialökologische Kompetenz pocht, gut zu Gesicht, zumindest zur Kenntnis zu nehmen, dass die Generation FFF heute mit Fragen des Zusammenhangs von Ernährung und Gewalt befasst ist, die sich ihren Eltern nur im Ausnahmefall gestellt haben.

So hat die symbolische U-18-Wahl, mit der Jugendliche über das ihnen vorenthaltene Wahlrecht hinweggetröstet werden sollen, dieses Jahr nicht nur erwartungsgemäß zum Sieg der Grünen als stärkste Partei geführt. Die Linke erhielt von den 260.000 abgegebenen Stimmen lediglich einen Anteil von 7,51 Prozent, während die ebenfalls mit einem linken Wahlprogramm aufwartende und Veganismus empfehlende Tierschutzpartei auf einen Stimmenanteil von 5,65 Prozent kam [13].

Was ein Gerhard Schröder beim Streit um die Wurst als Affront gegen Lohnabhängige darstellt, ist ein Element notwendiger Umsteuerung allgemeiner Verbrauchspraktiken. Bis heute haben Die Grünen den Ruf einer Verbotspartei, weil sie einmal einen Veggie-Day einführen wollten. Der fromme, von den bei der Bundestagswahl erfolgreichen Parteien durch die Bank genährte Glaube, Klimaschutz sei praktisch ohne Einschränkung des individuellen Verbrauchs zu haben, entspricht der Ansicht, Freiheit bestehe darin, natürliche Ressourcen nach Belieben ohne Rücksicht auf diejenigen, denen sie genommen werden, verfeuern zu können. Die dennoch bevorstehenden Einschränkungen nicht ungleich zu verteilen, sondern als Bestandteil einer allgemeinen Bemühung um die Minderung destruktiver Verbrauchsprozesse in Angriff zu nehmen, liefe demgegenüber auf eine ökosozialistische Umwälzung der Gesellschaft hinaus.

Bis dahin wäre der Versuch, sich dem Verbrauch von Tierprodukten von der Seite der davon betroffenen Lebewesen her zu nähern, eine praktikable Alternative zu staatlicher Regulation, um die hochsubventionierte Fleisch- und Milchindustrie auf einen Platz zu verweisen, auf dem sie nicht die Nahrungsmittelproduktion dominieren und ihre Verbrauchskosten sozialisieren kann. Niedrige Lebensmittelpreise stellen nicht zuletzt eine indirekte Förderung von Unternehmen dar, die die Lohnkosten unten halten wollen, um sich am Markt behaupten zu können. Wenn schon soziale Gerechtigkeit, dann doch in aller Konsequenz. Eine gesellschaftliche Gesamtrechnung aufzustellen, die der ganzen Bevölkerung unterschiedslos eine vollwertige Ernährung garantierte, wäre bei einer Bilanzierung der Produktionskosten im Verhältnis zum jeweiligen Nährwert viel leichter machbar als die Schäden zu kompensieren, die eine Landwirtschaft anrichtet, deren Ernten zum größten Teil von der Tier- und Energieproduktion aufgesogen werden, was umfassende Importe an Futtermitteln aus dem globalen Süden inklusive der dabei angerichteten ökologischen Schäden unausweichlich macht.

Fridays For Future und andere soziale Bewegungen des Klimaaktivismus vertreten in großer Mehrheit geschlechtergerechte und gewaltfreie Ideale. Da es sich um eines der wenigen öffentlich sichtbaren Zeichen dafür handelt, dass überhaupt noch ein politischer Wille zum Widerstand gegen kapitalistische und patriarchale Zerstörungsgewalt besteht, verstößt eine Partei, die emanzipatorische bis sozialistische Ziele verfolgt, gegen die eigenen Prinzipien, wenn sie sich vom mehrheitlich jugendlichen Klimakativismus entfremdet. Während es zu ersten Annäherungen zwischen FFF und einzelnen Gewerkschaften gekommen ist, hat sich die populistische Linke, indem sie gegen FFF-kompatible Ideale der Selbstbestimmung und Autonomie polemisierte, zielsicher ins Aus katapultiert.

Der Kampf um Ernährungssouveränität gewinnt nicht nur vor dem Hintergrund des immer weiter um sich greifenden Hungers, sondern auch der monopolkapitalistischen Bewirtschaftung der Nahrungsmittelproduktion zusehends an Bedeutung. Worüber sich Menschen hierzulande kaum Gedanken machen, ist für Millionen eine Frage, über die sie jeden Tag neu nachdenken müssen. Das Problem der Ernährung betrifft einen sozialen wie ökologischen Brennpunkt, dessen Bearbeitung in der politischen Landschaft der Bundesrepublik gerade erst Fahrt aufgenommen hat. Hier hätte eine Linke, die schon aufgrund internationalistischer Tradition gut daran täte, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, ein weites Betätigungs- und Mobilisierungsfeld, auf dem die wissenschaftlichen und politischen Ressourcen einer Bundestagspartei von großem Nutzen sein könnten. Sich angesichts der vielen brach liegenden und zugleich mit hoher Dringlichkeit zu erarbeitenden Fragestellungen ist ein Linkspopulismus, der sich auf nationale Verteilungskämpfe beschränkt und die Gewalt kapitalistischer Aneigung vor allem in diesem Kontext kritisiert, ein historisches Auslaufmodell.


Fußnoten:
[1] Bertolt Brecht: "Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?", Frankfurt/Main, 2016

[2] https://www.jungewelt.de/artikel/412142.hei%C3%9Fe-und-kalte-enteignung.html

[3] https://www.nadir.org/nadir/initiativ/id-verlag/BuchTexte/DreiZuEins/DreiZuEinsViehmann.html

[4] Freerk Huisken: Was man Heranwachsenden zum Thema 'Wahlen' sagen müsste, was ihnen aber viel zu selten gesagt wird. Zitat entnommen aus: https://non.copyriot.com/die-qual-der-wahl/

[5] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1910.html

[6] http://www.scharf-links.de/90.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=78327&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=9d77e7c259

[7] https://www.deutschlandfunkkultur.de/migration-neu-denken-europa-fuehrt-krieg-gegen-migranten.2162.de.html?dram:article_id=504012

[8] https://www.chathamhouse.org/sites/default/files/2021-09/2021-09-14-climate-change-risk-assessment-summary-quiggin-et-al_0.pdf

[9] https://www.clara.earth/netzero

[10] David Pape, Karl Müller-Bahlke: Kämpfe um Anerkennung, junge Welt, 15. Juli 2021

[11] https://www.rosalux.de/fileadmin/images/EnglishWS/FoodSov/final_fss_en_for_web.pdf

[12] Rosa Luxemburg. Zitat entnommen aus: https://rosalux.nyc/wp-content/uploads/2020/10/rosaasfeminist_drucillacornell_deufinal.pdf

[13] https://wahlen.u18.org/wahlergebnisse/bundestagswahl-2021


18. Oktober 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 169 vom 23. Oktober 2021


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