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PROPAGANDA/1312: Zahl der zivilen Opfer in Gaza systematisch beschönigt (SB)



Mit einen propagandistischen Doppelschlag wirft Welt Online den US-Historiker Edward N. Luttwak in die Schlacht um die Deutungshoheit zu den Folgen der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen. "Palästinenser helfen der israelischen Armee" (05.01.2008) ist ein Bericht überschrieben, in dem der renommierte Militärstratege behauptet, die Zahl der zivilen Opfer im Gazastreifen sei "erstaunlich gering". Aus dieser gewagten Behauptung zieht er den Schluß, daß sich dies nicht allein "durch die gute Arbeit der militärischen Aufklärung erreichen" lasse, sondern es im Gazastreifen viele palästinensische Informanten geben müsse, die den Angreifern per Handy Informationen über die Verstecke der "Hamas-Kämpfer und deren Führer" übermittelten.

Die von Luttwak laut "Quellen aus Gaza" angegebene Quote von 25 Prozent Zivilisten unter den 500 Getöteten beruht laut der taz (05.01.2008) auf Gesundheitsbehörden vor Ort. Die United Nations Relief and Works Agency (UNRWA) gehe in der Regel sogar von niedrigeren Zahlen aus, allerdings handelt es sich dabei laut UNRWA-Funktionär John Holmes um eine "glaubwürdige Mindestvorstellung", während die Dunkelziffer deutlich höher liegen könne. Erbracht wird dieser Prozentanteil schlicht dadurch, daß man lediglich Frauen, Kinder und sehr alte Männer als Zivilisten zählt, so daß fast alle bei den Angriffen umgekommenen Männer als Kämpfer zählen.

Diese Berechnungsmethode ist schon deshalb irreführend, weil selbst Polizisten laut dem Kriegsvölkerrecht als Zivilisten zu gelten haben und die Subsumierung aller Männer im wehrfähigen Alter unter den Titel des Kombattanten erst recht haltlos ist. Schon bei den ersten Angriffen sind 180 palästinensische Polizisten ums Leben gekommen. Selbst wenn sich darunter viele Hamas-Mitglieder befanden, können diese nicht nur deshalb, weil das israelische Angriffsziel in der Entmachtung, sprich Vernichtung der Hamas besteht, als Kämpfer gewertet werden. Die Unterstellung der Angreifer, die Hamas benutze die Bevölkerung als menschlichen Schutzschild, dient dementsprechend der pauschalen Rechtfertigung, daß bei den massiven Angriffen mit Bomben, Raketen und Granaten viele Zivilisten getroffen werden.

Luttwaks mit angeblich niedrigen zivilen Verlusten belegte Behauptung, "das waren die in der Geschichte bisher präzisesten Luftangriffe", kann nur als Beschönigung eines Massakers bezeichnet werden, das schon in der ersten Angriffswelle durch über 100 Tonnen Bomben, die das dicht besiedelte Gebiet am 27. Dezember trafen, angerichtet wurde. Seine Mutmaßung, daß es sich bei den palästinensischen Informanten Israels auch um Oppositionelle handeln könnte, die mit den Angreifern kollaborieren, weil der "Extremismus" der Hamas "Armut und Leid über die Zivilbevölkerung bringt", entspringt der gleichen Verkennung, die die US-Führung 2003 veranlaßte, ihre Invasionstruppen würden im Irak nach jahrelanger Aushungerung und Belagerung des Landes mit Blumen und Freudentänzen empfangen. Daß Palästinenser, die noch länger als die Iraker drängender Not und Gewalt ausgesetzt sowie ihres Landes beraubt wurden, in nennenswerter Zahl die Urheber dieser Maßnahmen als Befreier von einer Regierung verstünden, die niemals die Chance hatte, sich zu bewähren, weil sie von Anfang an sabotiert und boykottiert wurde, ist doch sehr unwahrscheinlich.

Die palästinensische Gesellschaft war als Objekt israelischer Gewalt seit jeher, also auch schon während des Oslo-Prozesses, von Kollaborateuren durchsetzt. Zu deren Anwerbung verfügen die israelischen Geheimdienste über zahlreiche Mittel und Methoden. So wurden seit 1967 650.000 Palästinenser von den israelischen Sicherheitsbehörden festgenommen und in der Haft als angebliche Mitglieder israelischer Widerstandsorganisationen häufig der Folter ausgesetzt. Das erfolgte nicht nur, um ihnen bereits vorhandene Kenntnisse abzupressen, sondern auch, um sie zu Spionagezwecken zu nötigen. Zu diesem Zweck lassen sich auch Familienbande einsetzen, indem entweder die Gefangenen oder ihre Angehörigen im Austausch gegen Vergünstigungen als Informanten gedungen werden. Als weiteres Motiv, als Palästinenser den israelischen Diensten zuzuarbeiten, gelten materielle Vergünstigungen, die für Menschen, die in äußerster Armut leben, stets verführerisch sind. Schließlich ist bekanntgeworden, daß schwerkranken Bewohnern des Gazastreifens, die die Ausreise beantragten, um ein israelisches oder ägyptisches Krankenhaus zu besuchen, diese Erlaubnis nur erteilt wurde, wenn sie sich im Gegenzug verpflichteten, den israelischen Behörden Informationen aus dem Gazastreifen zu übermitteln. Dennoch sollen seit Beginn der besonders scharfen Abriegelung des Gebiets Mitte 2007 über 270 erkrankte Palästinenser gestorben sein, weil sie im Gazastreifen nicht behandelt werden konnten.

Luttwak spinnt also aus der willkürlichen Behauptung, die israelischen Luftangriffe träfen "nur" zu 25 Prozent Zivilisten - mit der zudem ignoriert wird, daß bereits 13.000 Palästinenser durch die Zerstörungen obdachlos wurden und die Kinder, selbst wenn sie den Krieg körperlich unbeschadet überleben, ihr Leben lang durch die dabei ausgestandenen Ängste traumatisiert sein werden -, die Legende, daß es im Gazastreifen eine Opposition gäbe, die so sehr gegen die Hamas-Regierung eingestellt wäre, daß sie den israelischen Streitkräften bei ihren Angriffen helfe. Daß Luttwak der Hoffnung Ausdruck verleiht, die israelische Strategie erweise sich als so erfolgreich, daß den Planern der Angriffe bald die Ziele ausgingen und daraufhin eine Waffenruhe einträte, ist ein allerdings zynischer und unglaubwürdiger Trost.

Luttwak, der seit Anfang der achtziger Jahre in diversen US-Administrationen für das Pentagon, den Nationalen Sicherheitsrat und das State Department tätig war und heute Senior Fellow für Präventive Diplomatie am Center for Strategic and International Studies in Washington ist, gehört zu den wichtigsten Militärstrategen Washingtons. Wenn die sich offensichtlich zum Organ israelischer Kriegspropaganda berufen fühlende Springer-Presse seine Ansichten über die Effizienz der Bombardierung dichtbesiedelter ziviler Gebiete so wertschätzt, daß sie sie verbreitet, dann darf man sich über künftige Kriege unter Beteiligung der Bundeswehr auf einiges gefaßt machen.

5. Januar 2009