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PROPAGANDA/1419: Von grenzenloser Freiheit war nie die Rede ... (SB)



Guido Westerwelle brachte es am Dienstag im ZDF in dankenswerter Klarheit auf den Punkt: "Wir können ja nicht die Freiheit so verstehen, daß wir alle unsere Grenzen abschaffen in Europa". Die 43 Prozent der tausend Bundesbürger, die am 15. und 16. Februar im Rahmen der vom ARD Morgenmagazin in Auftrag gegebenen DeutschlandTrend-Umfrage einem eher negativen Gefühl zu den Revolutionen in der arabischen Welt Ausdruck verliehen, dürften ihrem Außenminister da voll und ganz zustimmen. Unter dieser Gruppe befürchten 47 Prozent Instabilität und Chaos in der Region, 25 Prozent haben Angst vor Flüchtlingsströmen in Richtung Europa, 21 Prozent befürchten islamistisch dominierte Regierungen und 11 Prozent treibt die Sorge um die Sicherheit Israels um [1]. Kurz gesagt, der größten Gruppe der Befragten - nur 41 Prozent begrüßen die Entwicklung zu mehr Freiheit und Demokratie in der Region, 13 Prozent sind ohnehin desinteressiert - wäre es am liebsten, die Verhältnisse in Tunesien, Ägypten, Bahrein, Jemen blieben so, wie sie es bisher gewohnt waren und etwa als Touristen, die sich jetzt nicht mehr an die Strände des Mittelmeers und Roten Meers trauen, zu schätzen wußten.

Daß "Freiheit" vor allem durch die Freiheit zur Kapitalverwertung, zur Ökonomisierung von allem und jedem auf den Begriff zu bringen ist, zieht sich wie ein roter Faden durch die Verlautbarungen und Dokumente europäischer Regierungen und Ministerialbürokratien. Was dem EU-Reformvertrag recht ist, die Ausrichtung Europas auf ein Modell der autoritär und aggressiv durchgesetzten Kapitalakkumulation, ist Angela Merkel billig - in ihrer Grundsatzrede auf dem CDU-Parteitag im November erging sich die Bundeskanzlerin 22 gezählte Mal im Pathos einer "Freiheits"-Rhetorik, die den essentiell anarchischen Charakter des Begriffs auf gegenteilige Weise wahr machte. Nicht ein einziges Mal befand es die Kanzlerin für erforderlich, in ihrer Rede "Demokratie" als Mittel und Ziel politischer Willensbildung zu würdigen. In adjektivischer Form geriet dieser zentrale konstitutionelle Wert zur Pflichtübung einer Frau, die das "Durchregieren" an dieser Stelle in Hinblick auf die sozialen Bewegungen mit dem Verweis quittierte, es könne "in unserem Land nicht die Arbeitsteilung geben: Erst entscheiden Politiker, Parlamente, Gerichte, dann kommen Demonstrationen, und dann wird ein Projekt eingestampft." [2]

Die Kanzlerin sprach auch nicht von Gewaltenteilung, weil es nichts zu teilen gibt, was das gesellschaftliche Gewaltverhältnis im Kern der Eigentumsordnung betrifft. Die Freiheit, die sie meint, ist das Vorrecht des Stärkeren, nach seinem Gusto zu leben und alle anderen unter der Bezichtigung, nicht genügend Ellbogenmentalität entwickelt zu haben, als für ihre Misere "eigenverantwortlich" in dieser zu belassen. So auch das Verhältnis zu den sich von ihren Despotien befreienden Bevölkerungen Arabiens - wenn deren Aufbegehren nicht die Einführung demokratischer Verhältnisse nach EU-Vorbild zur Folge hat, also ein sozialtechnokratisch ausgesteuertes und mit repressiver Toleranz reguliertes System der Repräsentation etabliert, das die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse im wesentlichen so beläßt, wie sie seit jeher zu Lasten Millionen verarmter und hungernder Menschen funktionieren, dann wird es als kontraproduktiv verworfen.

Die Freiheit, die Westerwelle meint, ist als die Freiheit der Paläste zu verstehen, Grenzen dort zu ziehen, wo es ihren Bewohnern am zweckmäßigsten erscheint. Der Zustrom von Flüchtlingen aus den Ländern Nordafrikas, aus Staaten, deren zu brutaler Gewalt gegen die eigenen Bürger greifende Regierungen sich stets besonderer Unterstützung durch die EU und USA erfreut haben, stellt eine Bedrohung "unseres" Wohllebens dar, lautet der Tenor jener Bedenkenträger, die Demokratie nur gutheißen, wenn sie das Gütesiegel der USA und EU ziert. Alles andere ist gefährlicher Wildwuchs und läuft auf potentiellen Terrorismus und mögliche Anarchie hinaus. Was immer entsteht, wen Menschen sich von sozialer und politischer Unterdrückung befreien, soll unsere Kreise nicht stören, ist die Ansicht nicht weniger Bundesbürger, was die durchaus verhaltene Reaktion auf die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten unter den deutschen Funktionseliten erklärt.

Der Knackpunkt liegt ganz und gar im eigenen Land - wenn die Freiheitsrhetorik, mit der die Gauck und Broder, die Merkel und Sarrazin ihren ideologischen Anspruch auf Definitionshoheit untermauern, als Legitimationsornament durchschaut wird und das herrschende Gewaltverhältnis unvermittelt in Erscheinung tritt, dann könnten Millionen Menschen hierzulande erkennen, daß sie einiges gemeinsam haben mit den MigrantInnen, die an den europäischen Außengrenzen um einen Platz kämpfen, der ihnen eine lebenswerte Zukunft ermöglicht. Sie könnten feststellen, daß der Kampf der DemonstrantInnen im Nahen und Mittleren Osten sie weit mehr betrifft als die Frage, wie es um die Sicherheit der Betonburgen in Tunesien und auf dem Sinai bestellt ist. Vor allem wäre ihnen einsichtig, daß die Einseitigkeit der Grenzziehung - staatlich subventionierte Freiheit für Waren, Kapital, Dienstleistungen, hohe Zäune gegen die Wanderungsbewegungen der Habenichtse - ein kolonialistisches Raubverhältnis bedingt, das sehr viel mit der mißlichen Lage der Bevölkerungen des Nahen und Mittleren Ostens zu tun hat.

Diese Erkenntnis zu verhindern ist ein wesentlicher Zweck der Freiheitslyrik und ihrer vermeintlich selbstverständlichen Einschränkung im Sinne Westerwelles. Wo kämen wir denn hin, wenn Freiheit nicht mehr gewährt, sondern schlicht in Anspruch genommen würde. Da sei die "wehrhafte Demokratie" vor, hieß es schon in den 1970er Jahren, als das allgemeine Bewußtsein über die Widersprüche zwischen staatstragender Ideologie und kapitalistischer Herrschaftspraxis noch nicht so verschütt gegangen war, wie es im Zeitalter der multimedialen Rundumbeschallung trotz ungleich größerer Verfügbarkeit aufklärerischer Gegeninformationen der Fall ist. Heute ist von Demokratie kaum mehr in ihrer apodiktischen Version eines staatlich verfügten Regulativs die Rede, und übt sich das verelendete Subjekt kapitalistischer Zurichtung in gewaltfreiem Protest, dann werden die euphemistischen Worthülsen mit Bedingungen armiert, deren Erfüllung allein die gedeihliche Zusammenarbeit mit den Zentralen globaler Verfügungsgewalt garantiert. Um so folgerichtiger werden die in der Kälte ihrer Unterdrückung stehengelassenen Menschen den imperialistischen Charakter ihres Elends beim Namen nennen.

Fußnoten :

[1] http://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend1262.html

[2]http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1564.html

20. Februar 2011