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PROPAGANDA/1450: Breiviks Terrorismus - Fleisch vom Fleische eines Gewaltverhältnisses (SB)




Ob der norwegische Terrorist Anders Behring Breivik als unzurechnungsfähig diagnostiziert wird oder nicht, ist vor allem für den Umgang der europäischen Gesellschaften mit seinem massenmörderischen Treiben bedeutsam. In der Absolutheit des jeweils erfolgenden Urteils der Psychiater spiegelt sich das Bedürfnis, Klarheit über die Frage seiner Schuldfähigkeit zu erlangen, um sein Verbrechen entweder strafrechtlich sanktionieren zu können oder ihn unter dem Ausschlußkriterium einer Geisteskrankheit den dafür zuständigen Institutionen zu überlassen. In beiden Fällen bekräftigt das rechtstaatliche Prozedere eine Ordnung, deren Funktionserfüllung die genauere Untersuchung der Beweggründe dieser monströsen Tat verbietet. Eine Auseinandersetzung mit ihrer ideologischen Bedingtheit könnte die Erkenntnis reifen lassen, daß die Imperative gesellschaftlicher Gewalt im messianischen Wahn des selbsternannten Retters des Abendlandes zu sich selbst kommen.

So drängt der Terrorist, den mit diesem Titel für politisch motivierte Gewalt zu belegen die meisten Medienvertreter ausweichen, um ihn statt dessen als "Attentäter" oder "Massenmörder" zu führen, der Öffentlichkeit seine Doktrin regelrecht auf. In seiner 1500 Seiten starken Schrift "2083 - A European Declaration of Independence" wie in seinen Äußerungen im Osloer Strafprozeß läßt Breivik keinen Zweifel daran, daß er sich in einem Krieg um die Zukunft Europas und des Westens gegen den Islam wähnt, der mit brutalsten Mitteln zu führen sei, um für diesen angeblich schicksalhaften Kampf um die Fortdauer weißer, christlicher Suprematie zu mobilisieren. Breivik macht kein Hehl daraus, daß die Dehumanisierung des Feindes wie seiner selbst Bestandteil einer Kriegführung ist, der jegliche Empathie für einen solidarischen Umgang mit menschlicher Schwäche im Wege steht. Nicht von ungefähr macht er als zu eliminierenden Feind in den eigenen Reihen sogenannte Kulturmarxisten aus, sorgten diese doch mit dem Propagieren universaler Werte der Gleichheit in allen Belangen für den Niedergang der europäischen Kultur. Daß das Gros seiner Opfer auf der Insel Utoya linke Jugendliche waren, die sich in einer propalästinensischen Solidaritätskampagne engagierten, entspricht der politischen Positionierung der neuen Rechten in der Phalanx einer globalen Offensive, für die es nur Freund oder Feind gibt.

Wäre Breivik der Verfechter einer Ideologie ohne jegliche Verankerung in der Gesellschaft, dann wäre das psychiatrische Urteil geistiger Delinquenz längst gefallen. De facto schwimmt der norwegische Terrorist jedoch auf dem immer breiter werdenden Strom der kulturkämpferischen Doktrin des Clash of Civilizations, der angeblich unausweichlichen Machtprobe zwischen christlichem Okzident und islamischem Orient. Was die US-amerikanischen Historiker Bernard Lewis und Samuel Huntington vor rund 20 Jahren auf diesen programmatischen Begriff brachten, wurzelt nicht etwa in der jahrhundertelang geführten Auseinandersetzung zwischen den christlichen Königreichen Europas und den sich bis auf den Balkan und die iberische Halbinsel ausbreitenden muslimischen Reichen, sondern unterstellt diese vermeintliche Kausalität mit der Rigidität eines kulturalistischen Ressentiments. In den strategischen Konzeptionen und politischen Entwürfen neokonservativer Think Tanks unmittelbar nach dem Niedergang der Sowjetunion hegemonial geworden hat diese Doktrin diejenige legitimatorische Wirkmächtigkeit entfaltet, derer es bedurfte, der nach 1991 im Nahen und Mittleren Osten aufscheinenden Gefahr des Verfalls westlicher Hegemonie auf kriegerische Weise entgegenzutreten.

Der anhaltenden Konjunktur des Feindbildes Islam ist die Notwendigkeit adäquat, der eigenen imperialistischen Expansion das Mäntelchen alternativloser Selbstverteidigung überzuwerfen. Die angebliche Unterminierung europäischer Gesellschaften durch orientalischen Schlendrian, religiösen Fanatismus und multikulturelle Vermengung, in ihrer biologistischen und kulturalistischen Letztbegründung der angeblich von Juden und Bolschewisten ausgehenden "asiatischen Gefahr" eines Adolf Hitler nicht unähnlich, ermächtigt zur sozialen Zerstörung mehrheitlich islamischer Gesellschaften durch imperialistische Kriege und kapitalistische Globalisierung. An diesen realpolitischen Vollzug knüpft die Totalisierung des Krieges, den Breivik zu führen behauptet, an, um sich davon bislang in sicherer Distanz wähnende Zivilgesellschaften zu radikalisieren.

Die Empörung des norwegischen Terroristen über die Pathologisierung seiner Tat ist in der absoluten Dichotomie von Gut und Böse verhaftet, die seinem politischen Selbstverständnis die Wucht jener dezisionistischen Gewalt gibt, die faschistische Diktaturen insbesondere auszeichnet. Was auf den ersten Blick als praktikabler Weg erscheinen mag, das Gift seiner mörderischen Gesinnung unwirksam zu machen, erweist sich angesichts des Aufkommens einer neuen Rechten, die der zivilreligiösen Mission der Rettung des Abendlandes huldigt und dazu nach politischer Macht strebt, als voreiliger Versuch der bloßen Retusche vorherrschender Gewaltverhältnisse. Auch die Empörung über die angeblich zu freizügige Möglichkeit Breiviks, seine politische Botschaft zu verbreiten, läßt ein verkürztes Verhältnis zu einer Rechten erkennen, die ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft als sozialrassistisches Ressentiment gegen angeblich unproduktive Menschen vorzugsweise, aber nicht nur orientalischer Herkunft längst eingenommen hat.

Von der Totalität kapitalistischer Ökonomie und sozialdarwinistischer Konkurrenz bestimmte Gesellschaften scheuen die Auseinandersetzung mit der islamfeindlichen und antikommunistischen Doktrin eines Breivik nicht, weil diese bei psychisch labilen, von Kompensationsnöten getriebenen Bürgern auf fruchtbaren Boden fallen könnte. Sie versuchen, sie ins Wahnhafte zu verbannen oder ihre Zurkenntnisnahme zu unterdrücken, weil diese Konfrontation zur Kenntlichkeit entstellen könnte, was mit dem immer dünner werdenden Anspruch auf humanistische Werte vorgibt, gegen die Qualifikation menschenverachtender Raubpraktiken und Herrschaftsformen immun zu sein. Den tätigen Beweis anzutreten, für die Versuchung totaler Machtausübung nicht anfällig zu sein, könnte schwerer fallen, als es die Distanz zwischen bürgerlicher Normalität und Breivikscher Monstrosität suggeriert.

Es ist daher kein Wunder, daß das Etikett des Terrorismus als antagonistisch zur herrschenden Ordnung ausgemachten Gruppen und Doktrinen vorbehalten bleibt. Das Pardon der Psychopathologisierung wird nicht gegeben, und wenn es an beweiskräftigen Belegen für terroristische Gewalt mangelt, sorgt das Feindstrafrecht dafür, daß der bloße Verdacht Anlaß zur Entrechtung und Freiheitsberaubung wird. Das Fleisch vom eigenen Fleische unterzieht man einer derart rüden Behandlung lieber nicht, es könnte ja das eigene sein.

25.‍ ‍April 2012