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PROPAGANDA/1484: 25 Jahre innerer und äußerer Kolonisierung (SB)



Was an 25 Jahren sogenannter deutscher Einheit zu feiern ist, verstehen viele Menschen nicht. Um so dröhnender maskiert sich, was als Arbeitszwang und Kriegsgewalt kein Anlaß zur Freude ist. Wo die alltägliche Realität von systematisch erzeugter Ungleichheit bestimmt wird, darf das Ideal sozialer Gleichheit keinen Bestand haben und muß als diktatorisch verordnete Gleichschaltung diskreditiert werden. Wo Kultur und Intellekt für eigenständiges Denken und grundstürzende Kritik nicht honoriert, sondern abgestraft werden, bleibt nur die Öde staatstragender Propaganda. Was der DDR angelastet wird, wenn verordnetes Jubeln und repressive Gesinnungskontrolle als abschreckende Staatspraxis präsentiert werden, hat mit informationstechnisch hochgerüsteter Rundumversorgung längst alle Lücken und Spalten verfugt, in denen noch Widerspruch und Widerstand erblühen könnten. Zur Qualifikation ihrer Herrschaft bedienen sich die Agenturen von Staat und Kapital eines Arsenals an kommunikationsaffiner Sprach- und Gesinnungskontrolle, der der einzelne Mensch schon aus Mangel an verfügbarer Zeit und arbeitsbedingter Kompensationsnot immer weniger entgegenzusetzen hat.

Das gilt auch für die Bevölkerungen jener Länder, die es mit den Ambitionen deutschen Hegemonialstrebens zu tun bekommen. Schon bald nach 1990, als mit dem Anschluß der DDR an die BRD letzte Hemmungen fielen, auf den Spuren der Großvätergeneration uneingelöste Eroberungspläne zu vollenden, wurde der sozialistische und multiethnische Staat Jugoslawien wortwörtlich in Kleinteile zerschlagen. Was als Ergebnis des Wiederaufflammens ethnisch-nationalistischer Konkurrenz, die in dem als "Völkergefängnis" (FAZ 1991) diffamierten Jugoslawien wenn nicht aufgehoben, dann zumindest befriedet worden war, an Partikularstaaten entstand, läßt sich durch den deutschen Imperialismus viel wirksamer beherrschen, als es bei dem einstmals die antikolonialistische Blockfreienbewegung maßgeblich prägenden Jugoslawien der Fall war. So wurde die Konsolidierung der Maastricht-EU mit dem Schüren des Bürgerkrieges in einem Jugoslawien erkauft, das bei Fortsetzung eines eigenständigen Weges durchaus ein Alternativmodell zur neoliberalen EU hätte werden können.

Die indirekte wie direkte Beteiligung der BRD an der durch die US-Regierung explizit verfolgten kriegerischen Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens hat eine ganze Region in Trümmer gelegt, deren Bevölkerungen es auch nach der Ära der Blockkonfrontation niemals vergönnt war, eine eigenständige Entwicklung zu verfolgen. Auch dort wurde sichergestellt, daß das Gefälle zu den westeuropäischen Metropolengesellschaften nicht eines Tages so flach würde, daß der Euro nicht mehr von selbst dorthin rollt, wo die Arbeit am billigsten und die Rendite am höchsten ist.

Daß die DDR nicht primär auf den Weltmarkt ausgerichtet war, sondern im Handel mit anderen RGW-Staaten eine beachtliche Produktivität entfaltete, war für sich genommen Ärgernis genug. Das Gebiet des sozialistischen Staates mit einem Schlag den Konkurrenzbedingungen der kapitalistischen Hemisphäre auszusetzen, verbannte die Möglichkeit, eine nicht auf fremdbestimmter Lohnarbeit basierende Produktionsweise im Sinne sozialistischer Kooperation freizusetzen, aus dem Horizont erreichbarer Ziele. Die Osterweiterung der EU, flankiert von der NATO, in die RGW-Staaten verschaffte dem Kapital der Bundesrepublik einen unvorhergesehenen Investitionsschub, der die Sonderstellung der BRD im krisengeschüttelten Europa mitbegründete. Die Abwicklung der DDR ging der Kolonisierung der mittelosteuropäischen Staatenwelt voraus, war als Eroberungszug unter hoheitlicher Gewalt der Bundesregierung jedoch noch tiefgreifender und umfassender als diese. Als Labor für sogenannte Transformationsstaaten bietet die Zurichtung ihrer Bevölkerung durch innovative Formen ökonomischer und sozialer Herrschaft bis heute Anschauungsmaterial für weitere Gelegenheiten.

So wird am Beispiel Griechenlands daran erinnert, wie mit jenen zu verfahren ist, die den neoliberalen Kapitalismus nicht nach deutschem Vorbild auf die merkantilistische und sozialchauvinistische Spitze zu treiben bereit sind. Die gegen Griechinnen und Griechen gerichtete Hetze, dort genüge man nicht den Wettbewerbskriterien und Leistungsnormen des globalisierten Kapitalismus, sondern führe ein Leben nach Lust und Laune, erinnert nicht zufällig an den Tenor der gegen die Planwirtschaft der DDR gerichteten Propaganda. Arbeit nicht ausschließlich für einen Lohn zu verrichten, demgegenüber ihr konkreter Inhalt gleichgültig ist, sondern sich in den Aufbau einer Gesellschaft einzubringen, die soziale Gleichheit und friedliche Koexistenz zumindest beanspruchte, fußt auf der grundsätzlich anderen Prämisse, ein selbst- und nicht fremdbestimmtes Leben führen zu wollen.

Daß dies in der DDR nur bedingt erreicht wurde, weil die Logik industrieller Produktivkraftentwicklung mit dem Preis sozialer Herrschaft und ökologischer Zerstörung bezahlt wurde, hätte im besten Fall die kritische Weiterentwicklung dieses Anspruchs ermöglicht. Daß es anders kam, ist weniger dem realen Sozialismus anzulasten als seiner aggressiven Negation durch einen Liberalismus, dessen Freiheiten immer unverhohlener als klassengebundene Privilegien zelebriert werden.

Wo diese in der DDR weitreichend abgeschafft worden waren, setzt sich ein sozialdarwinistischer Eliteethos durch, der den Menschen ausschließlich danach befragt, ob er sich gegen den anderen durchsetzen kann. Wer im Leistungsvergleich auf der Strecke bleibt, geht nicht nur unter, sondern wird zudem bezichtigt, selbst an seiner Misere schuld zu sein. Gesellschaftlicher Aufstieg wird auf der nach unten offenen Skala menschlicher Überlebensnot erwirtschaftet und straft die Bereitschaft, den Streit für die Schwächsten zu führen, mit Karriereknick ab. So geht dem verlangten Wertwachstum der Unwert eines sozialen Elends voraus, was im Zwang zum Annehmen jeder Erwerbstätigkeit herrschaftsstrategisch hervortritt und erklärt, wieso die moralische Anprangerung den menschen- wie naturfeindlichen Charakter der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft eher befestigt als aufhebt.

Das Anwachsen fiktiven Kapitals, dessen Gegenwert bereits auf Generationen hinaus kreditiert ist, stellt die Verfügungsgewalt der Eigentümer an Produktiv- und Sachvermögen über entfremdete Arbeit dauerhaft sicher. Daß die Sachwalter dieses Herrschaftssystems sich mehr denn je des Eigentums von Land und natürlichen Ressourcen, von Lizenzrechten und Nutzungsansprüchen versichern, unterstreicht den neofeudalen Charakter einer BRD, in der das Wertwachstum zu einem erheblichen Teil auf Grundrente und Kapitalexport beruht. Eine DDR, in der die Spekulation mit Grund und Boden, mit Immobilien und Infrastruktur ausgeschlossen war, konnte einem globalen Kapitalismus, der essentielle Lebensgrundlagen in aller Welt privatisiert und kommodifiziert, im angeblich friedlichen Wettbewerb nicht standhalten. Das gilt nicht nur für diesen auch unter Linken häufig verächtlich gemachten Versuch, menschliche Ideale sozialökonomisch zu verwirklichen, sondern alle Formen selbstbestimmten, kollektiven und nichtkapitalistischen Lebens.

Von daher bietet die planmäßige Kolonisierung der DDR durch die BRD-Eliten allen Anlaß, sich mit den Mitteln und Strategien heutiger Formen der Herrschaftsicherung auseinanderzusetzen. Nicht umsonst wird der Ausverkauf öffentlichen Eigentums in Griechenland nach dem Vorbild der Treuhand vollzogen, die maßgeblich daran beteiligt war, daß 95 Prozent des sozialistischen Produktivvermögens in die Hände der BRD-Kapitaleliten fielen. Nicht anders sieht es bei den Okkupationsstrategien einer Troika aus, die den griechischen Staat unter Kuratel fremder Interessen stellt, was in Ostdeutschland mit Einigungsvertrag, Elitenwechsel und Gesinnungsjustiz erreicht wurde. Das mit der Abwicklung der Kultur- und Bildungseinrichtungen - und damit eines gesellschaftskritischen Potentials, das angeblich erst in der Freiheit der BRD zur Blüte gelangen konnte - in der DDR angerichtete Zerstörungswerk wird heute mit der Anwendungsorientierung wissenschaftlicher Forschung und Lehre, der Drittmittelabhängigkeit der Universitäten und des konkurrenzgetriebenen Selektionsdruckes unter den akademischen Eliten fortgesetzt. Wo die faktische Unfreiheit des Reiseverbots und der geheimdienstlichen Überwachung in der DDR die Freiheitslyrik liberaler Apologeten zu Höchstleistungen treibt, sorgen die Arbeitsverwaltung durch Hartz IV, der Run auf verbliebene Arbeitsplätze und die betriebliche Überwachung auf ganz unspektakuläre Weise für die alltägliche Unterwerfung.

25 Jahre "Einheit" - den gesellschaftlichen Status quo permanenten Krisenmanagements und Ausnahmezustands zu überblenden, bedarf starker Farben und Kontraste. Das Niedermachen der DDR, deren Repressionsapparat zu untersuchen ganze Legionen von Forschern und Experten ernährt, während die personellen und institutionellen Kontinuitäten der BRD zum NS-Staat bis heute mit akademischen Feigenblättern beschönigt werden, ist ein solches Mittel. Die daraus resultierende Verbreitung nationalistischer und antikommunistischer Ideologie ist gewollt, denn nur so lassen sich die Menschen auf eine Weise gegeneinander aufbringen, die vergessen machen soll, daß der Feind zuerst im eigenen Land steht.

2. Oktober 2015


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