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RAUB/0873: Sachleistungen für Erwerbslose ein Quantensprung der Entrechtung (SB)



Die PR-Strategie des Junge Union-Vorsitzenden Philipp Mißfelder ist grob und verfängt gerade deshalb. Indem er über eine besonders angreifbare und schutzlose Gruppe der Bevölkerung herfällt und ein virulentes, der konkurrenzorientierten Grundverfassung der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft entspringendes Ressentiment gegen sie mobilisiert, provoziert er keinesfalls nur Widerspruch. Der in vielen Medien nicht ohne Sympathie als jugendlicher Provokateur und Tabubrecher dargestellte Mißfelder kann sich über heimlichen bis offenen Zuspruch unter allen Bürgern freuen, denen jeder Sündenbock recht ist, wenn er ihnen nur eine Adresse für ihre Bezichtigungen bietet, die sie nicht in Konflikt mit ihnen überlegenen Kräften bringt. Mißfelder zapft mit der Diffamierung von Hartz IV-Empfängern die Quelle der populistischen Reaktion an, die dank schlechter werdender Zeiten und 30 Jahren neoliberaler Propaganda bis zum Bersten mit der Jauche sozialdarwinistischer Mißgunst gefüllt ist.

Dabei beschränkt er sich nicht auf den Vorwurf der Delinquenz, der von Sozialtransfers lebende Menschen kollektiv als lebensuntüchtig, unmoralisch und parasitär stigmatisiert. Sein Vorschlag, die angeblich Kindern von trunksüchtigen und rauchenden Eltern vorenthaltenen Gelder nur noch in Form von Gutscheinen für Sachleistungen verfügbar zu machen, wird nicht umsonst von diversen Politikern als Eröffnung einer längst überfälligen Debatte gelobt. Die Entrechtung von Langzeiterwerbslosen ist mit dem derzeitigen Stand des Hartz IV-Regimes längst nicht abgeschlossen, weil sie programmatischer Natur ist. Die Abstrafung und Ausgrenzung von Menschen, für die das herrschende Akkumulationsmodell keine Verwendung mehr hat, weil selbst der expansive Niedriglohnsektor nicht mehr genügend bezahlbare Jobs für alle arbeitsfähigen Menschen anbietet, dient zugleich der Einbindung wie Einschüchterung aller davon nicht Betroffenen.

Einbindung, indem ihnen anhand des systematisch produzierten Negativbilds der Hartz IV-Empfänger suggeriert wird, als souveräne Individuen mit dem propagierten Wertekodex identisch zu sein. Einschüchterung, indem die Schraube sozialer Grausamkeiten, unter denen Langzeiterwerbslose zu leiden haben, systematisch angezogen wird. Diesem Regulativ kommt in der Wirtschaftskrise wachsende Bedeutung zu, kann an der daraus resultierenden gesellschaftlichen Polarisierung doch abgearbeitet werden, was alle Lohnabhängigen und Erwerbslosen im Kampf gegen ihre Ausbeutung und Unterdrückung zusammenschweißen könnte.

Mißfelders Verweis auf den angeblichen Nutzen eines Gutscheinsystems könnte eine Entwicklung einleiten, die den Hartz IV-Empfängern die Verfügbarkeit frei verwendbaren Geldes auf lange Sicht vollständig entzöge. Bei diesem Schritt handelt es sich keineswegs nur um eine von vielen technischen Lösungen für ein Problem, das Eltern armer Familien bei der Einteilung ihrer knappen Mittel haben können, sondern um den grundsätzlichen Versuch herrschender Verfügungsgewalt, den einzelnen Menschen ihrem Organisations- und Verwertungsdiktat zu unterwerfen.

Ohne Geldmittel, die dem Leistungsempfänger zumindest theoretisch einen gewissen Entscheidungsspielraum über ihre Verwendung lassen, müssen die Betroffenen so leben, wie es ihnen staatlicherseits zugedacht ist. Das betrifft nicht nur die Reduzierung ihrer Lebensmöglichkeiten und die Disziplinierung ihrer Lebensführung nach Maßgabe einer betriebswirtschaftlichen Ratio, die die Grenze des zum Überleben eben noch Erforderlichen immer weiter nach unten drückt, sondern bietet dem Staat auch die Möglichkeit, die Organisation der sozialen Versorgung zentral zu planen und zu organisieren. Diese Almosenwirtschaft bestimmte die Normen des individuellen Bedarfs auch über den Kreis der Leistungsempfänger hinaus für weitere Bereiche der Gesellschaft. Man befände sich auf dem Weg in ein biopolitisches Labor, in dem die Bevölkerung als Ganzes vermessen und gewogen werden könnte, um die ihr wie der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, Wasser und Energie angemessene Diät verordnen zu können.

Was Mißfelder im Kleinen vorschlägt, wächst sich im Großen zu einem System der gouvernementalen Planung aus, bei der es allerdings nicht um soziale Egalität, sondern Differenz geht. Die Verfügbarkeit der Menschen über ein System der Sanktion und Gratifikation, dem aufgrund der davon abhängigen Lebensvoraussetzungen nicht ausgewichen werden kann, ist schlechterdings der Traum jedes Kontrollfanatikers. Davon gibt es nicht wenige, handelt es sich doch um den Idealtyp des vorherrschenden Paradigmas kapitalistischer Vergesellschaftung, das eine Atomisierung jeder potentiell widerständigen Gemeinschaft fordert, um deren Partikel zu mehr eigenverantwortlicher Selbstoptimierung anhalten zu können.

Was die sogenannten Leistungsträger tun müssen, um ihre privilegierte Position zu erhalten, soll den angeblichen Verweigerern erst recht nicht erspart werden. Die in den Führungsetagen praktizierte Auslese determiniert ein Gesellschaftsverständnis, dem die breite Masse keineswegs amorph und indifferent ist, sondern das ihre Durchdringung mit den Sonden administrativer Regulation schon deshalb voraussetzt, weil der an die Eliten selbst gestellte Kontrollanspruch keine weiße Flecken im System sozialtechnokratischer Gewalt zuläßt.

Die bereits erfolgte Einschränkung bürgerlicher Grundrechte bei Hartz IV-Empfängern, bislang noch vom falschen Schein der angeblichen Freiwilligkeit der Inanspruchnahme staatlicher Leistungen überstrahlt, wird der Entrechtung weiterer Kreise der Bevölkerung Vorschub leisten - durch die zunehmende Dichte der ihre Lebensverhältnisse und Interessen ausforschenden Datentechnik, durch die Überwachung jeglicher Mobilität zur permanent möglichen Standortbestimmung, durch die Regulation der Lebensführung und Konsumgewohnheiten im Rahmen der Gesundheitsfürsorge, durch den Abbau von Arbeitsrechten, durch ökologisch bedingte Eingriffe in Eigentumsrechte und nicht zuletzt durch das Verbot radikaler politischer Gesinnungen. Wenn in der Bundesrepublik über die Einschränkung der Verfügbarkeit baren Geldes für Leistungsempfänger nachgedacht wird, dann ist das keineswegs nur ihr Problem.

24. Februar 2009