Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/0883: Sozialrassismus als Mangelregulativ (SB)



Wie relevant die Antirassismuskonferenz der Vereinten Nationen ist, belegt ein in Brüssel veröffentlichter Bericht der EU-Grundrechteagentur, laut dem 27 Prozent der 23.500 befragten Mitglieder ethnischer und nationaler Minderheiten angaben, im letzten Jahr persönlich diskriminiert worden zu sein. Zwölf Prozent gaben an, Opfer rassistischer Verbrechen geworden zu sein. Interessanterweise werden Zahlen zu Anschlägen rechter Täter auf Mitglieder unterprivilegierter Minderheiten nicht nur in der Bundesrepublik beschönigt, sondern von der Europäischen Polizeibehörde gar nicht erst erhoben. Sie fallen nicht unter die Kategorie "Terrorismus", die Muslimen und Linken vorbehalten bleibt, von denen im Europol-Jahresbericht 2008 ausführlich die Rede ist.

Militante Nazis greifen nicht nur Linke und nichtweiße Personen an, sie vergehen sich auch an Bettlern, Obdachlosen und Behinderten. Der sie treibende Impuls, das Schwache und Kranke zu eliminieren, korrespondiert mit einem Sozialrassismus, der in kapitalistischen Konkurrenzgesellschaften fast täglich neue Blüten der Verachtung treibt. Höhere Preise für Dicke bei Fluggesellschaften, Hausbesuche von Sozialfahndern bei Langzeitarbeitslosen, die hysterische Anfeindung von Rauchern und das hämische Anprangern persönlicher Fehltritte in den Boulevardmedien nähren ein Klima sozialer Feindseligkeit, das desto besser gedeiht, je größer die materielle Not ist.

Das biologistische Diktat, das Schöne, Kräftige und Gesunde zu favorisieren, wird mit einem Positivismus beworben, der keine Schattenseiten kennt, weil diese ausgeblendet und unterdrückt werden. Daß diese Ideale der Lebensführung in einem einander bedingenden Verhältnis zur daraus resultierenden Ächtung ihnen nicht entsprechender Verhaltensweisen und Interessen stehen, wird in der heilen und bunten Welt des Warenfetischs systematisch negiert. Wer nicht bereit ist, sich der großen Verwertungsmaschine gabelfertig einzuspeisen, sondern auf seinen "unästhetischen" und "unappetitlichen" Freuden und Lüsten besteht, fällt zusehends dem sozialdarwinistischen Primat unbedingter Adaption der verlangten Leistungs- und Anpassungsnormen zum Opfer.

Menschen aus Gründen ihrer Leiblichkeit, ihrer Lebensführung, ihrer sexuellen oder religiösen Orientierung, ihrer beruflichen oder sozialen Stellung zu diskriminieren gehört nur bedingt zu den Verstößen gegen jene Ethik, die auf der Antirassismuskonferenz gepredigt wird. Hinter den Feindbildern, die an Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft festgemacht werden, formieren sich lange Schlangen der von Produktion und Reproduktion Ausgeschlossenen, um mit einer speziell auf sie gemünzten Stigmatisierung gebrandmarkt zu werden. Das wachsende Elendsproletariat, dem mit dem Vorwurf arbeitsscheuer Nutznießerei nicht mehr beizukommen ist, weil es nicht genug Lohnarbeit gibt, soll in die Schranken seiner Beschämung gewiesen werden, bevor man zu handgreiflicheren Mitteln seiner Disziplinierung greift.

Der schwärende Sozialrassismus ist Ausdruck eines Klassenwiderspruchs, der sich nicht ins Kapitalverhältnis fassen läßt, weil die gesamtgesellschaftliche Reproduktion nicht mehr auf der Basis von Lohnarbeit zu bewerkstelligen ist. Um so mehr floriert ein Menschenbild sozialbiologischen Charakters, mit dem der Anspruch auf Überleben zu Lasten derjenigen definiert wird, die am meisten auf die Solidarität ihrer Mitmenschen angewiesen sind. Der Mangel wird in Voraussicht auf sein Anwachsen so organisiert, daß die Ausgrenzung wie von selbst funktioniert, sprich von ihren Opfern getragen wird, indem sie auf Normen und Werte reflektieren, die zu ihrem Verhängnis werden.

22. April 2009