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RAUB/0903: 20 Jahre Anschluß - Ostdeutschland versinkt in Armut (SB)



Kein Wunder, daß täglich die Gespenster des "Unrechtsstaats" DDR aus der Kiste geholt werden. Angesichts der massiven Armut in den längst nicht mehr neuen Bundesländern wird das Jahr des Mauerfalls vor dem Hintergrund uneingelöster Versprechen und irregeleiteter Erwartungen zelebriert. 16,6 Prozent der Ostdeutschen im erwerbsfähigen Alter sind laut dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) auf Hartz IV angewiesen, während es im Westen 7,4 Prozent sind. Laut dem Ersten Regionalen Armutsatlas des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der im Mai dieses Jahres veröffentlicht wurde, vertieft sich die sozialökonomische Kluft zwischen West- und Ostdeutschland, anstatt sich den Verheißungen der Wiedervereinigungspolitik gemäß zu schließen.

So wies Mecklenburg-Vorpommern 2007, also noch vor dem vollständigen Ausbruch der Wirtschaftskrise, mit 20.356 Euro das niedrigste Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Deutschland auf. Zwischen 1991 und 2008 sank die Zahl der Erwerbstätigen um 13,1 Prozent, die Arbeitslosenquote war 2008 mit 14,1 Prozent fast doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt von 7,8 Prozent. 2007 wies Mecklenburg-Vorpommern mit 24,3 Prozent die höchste Armutsquote Deutschlands auf. Im Vergleich dazu wies Bayern 2007 mit dem vierthöchsten Bruttoinlandsprodukt je Einwohner der Bundesländer von 34.704 Euro und einer Arbeitslosenquote von lediglich 4,2 Prozent 2008 eine Armutsquote von 11,0 Prozent auf. Wie groß die regionalen Unterschiede im Lebensstandard sind, zeigt sich auch an einer regionalen Armutsquote von 7,4 Prozent im Schwarzwald und bis zu 27 Prozent in Vorpommern. Die bundesweite durchschnittliche Armutsquote von 14,3 Prozent ergibt sich aus der ostdeutschen Quote von fast 20 Prozent und der westdeutschen Quote von fast 13 Prozent.

Das Lamento, das nach der Verabschiedung des Sozialberichts 2009 durch die Bundesregierung angehoben hat, arbeitet keiner Lösung zu, die geeignet wäre, das Armutsproblem grundsätzlich zu beheben oder zumindest das Mißverhältnis zwischen West und Ost zu nivellieren.

"31,9 Prozent der in Deutschland erwirtschafteten Gelder fließen in soziale Ausgaben, also fast ein Drittel. Wenn es so weit gekommen ist, dann muss etwas schiefgelaufen sein. Es ist ein Dilemma des Sozialstaats, dass er in erster Linie ein versichernder, ein nachträglich eingreifender, abfedernder und nachsorgender ist. In gewisser Weise stabilisiert er das Drittel der Bedürftigen in ihrer Bedürftigkeit."
(Welt-Online, 16.07.2009)

Dies ist nur ein exemplarisches Beispiel für viele Kommentare, in denen eine haushaltspolitische Solidität angemahnt wird, die schon mit der Alimentierung der Banken über Bord geworfen wurde. Der Ärger gutverdienender Journalisten über die ihrer Ansicht nach wirtschaftspolitisch kontraproduktiven Sozialleistungen wird mit der gleichen sozialen Ignoranz artikuliert, mit der zu Zeiten makroökonomischen Wachstums zu Lasten der Lohnabhängigen und Erwerbslosen auf die Kapitalisierung aller verfügbaren Mittel für den Finanzmarkt und die Exportwirtschaft gedrängt wurde. Die Gefahr eines epochalen Absturzes vor Augen wird nun erst recht ins Horn einer Austeritätspolitik gestoßen, bei der vor allem am langen Ende sogenannter unproduktiver Einkommen gespart werden soll.

Die Zeche der finanzmarkttechnisch beschleunigten Kapitalakkumulation zahlen eben nicht nur Menschen, die die Transferleistungen mit ihren Steuern und Sozialabgaben alimentieren. Das gilt noch weniger für die Unternehmer, ist doch der Arbeitgeberanteil an der Finanzierung der Sozialbeiträge seit 1991 von knapp 40 Prozent auf knapp 33 Prozent gesunken. Bezahlen, und zwar mit Lebensqualität, Lebensperspektive, sprich Lebenssinn müssen diejenigen Menschen, die entweder zu jung dazu sind, um überhaupt eine angemessen entlohnte - um von der Verwirklichung des persönlichen Berufswunsches ganz zu schweigen - Beschäftigung zu erhalten, oder die zu alt sind, um sich nach eingetretener Erwerbslosigkeit noch Hoffnung darauf machen zu können, außer unterbezahlten Gelegenheitsjobs jemals wieder in ein normales Arbeitsverhältnis zu gelangen.

Dieses Problem ist in Ostdeutschland um so prekärer, als rund 46 Prozent der dort lebenden Menschen, die 2008 in Rente gingen, zuvor bereits erwerbslos waren, was für eine wachsende Zahl von ihnen bedeutet, eine Altersversorgung auf Sozialhilfeniveau zu erhalten. Viele dieser Menschen haben Erwerbsbiographien, die Jahrzehnte zurück in die DDR reichen. Ihnen winkt als Strafe für die Errichtung eines sozialen Gemeinwesens, das dieses Land hinsichtlich der Gleichheit der Lebensbedingungen in weit größerem Maße war als die BRD, Altersarmut. Für sie stellt sich der Mauerfall als Eintritt in eine Freiheit dar, die vor allem ökonomisch definiert ist. Sie in Anspruch zu nehmen ist lediglich denjenigen möglich, die sich die Konsumartikel, Dienstleistungen und Reisen auch leisten können, nach denen sich viele DDR-Bürger 1989 so sehr verzehrten, daß sie mit ihrem Staat auch ihr politisches Bewußtsein aufgaben.

Nach Maßgabe einer Vernunft, für die friedliche Verhältnisse zwischen Menschen wünschenswerter ist als ein vorderer Platz in der Freßkette, führt kein Weg an der Umverteilung der Gelder und Güter zugunsten benachteiligter Bürger vorbei. Diese Vernunft wurde mit dem Anschluß der DDR an die BRD als überkommen erachtet. Man schüttete das Kind mit dem Bade aus, indem man von einer realsozialistischen Vergesellschaftung, an der man hätte studieren können, wie sich das prinzipielle Anliegen einer egalitären Gesellschaft ohne die staatsautoritären Elemente, die zum Scheitern der DDR beitrugen, dennoch verwirklichen lassen könnte, auf einen Kapitalismus umschaltete, der mit dem Abwurf der Ballast des Systemvergleichs erst recht räuberische Züge annahm.

Die bis zum 3. Oktober 2010 anberaumten Feierlichkeiten zur Überwindung der Herausforderung des Sozialismus erhalten mit den von Menschen verwaisten Landschaften, den unübersehbar verarmten Kommunen und verelendeten Menschen eine Kulisse, die dazu einlädt, die Ereignisse vor 20 Jahren noch einmal aus einem ganz anderen Licht als dem der regierungsamtlichen Projektoren Revue passieren zu lassen. Die nach der Bundestagswahl auf die Bürger wartenden Härten werden in Ostdeutschland die Frage aufwerfen, wieso man sich vor 20 Jahren so bereitwillig Versprechungen hingegeben hat, die durchaus in ihrem haltlosen Charakter zu erkennen waren. Zumindest könnte daraus der produktive Ertrag erwachsen, daß sich immer mehr Menschen der Unterwerfung unter herrschende Wahrheiten verweigern und beginnen, streitbar und basisdemokratisch für ihre Interessen einzutreten.

16. Juli 2009