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RAUB/0908: Riskante Abwehrstrategie Israels im Streitfall Organraub an Palästinensern (SB)



Im Streit zwischen der schwedischen und der israelischen Regierung, der sich an einem Artikel der Tageszeitung Aftonbladet (17.08.2009) über mutmaßlichen Organraub an Palästinensern entzündet, scheint sich die Krise um die Mohammed-Karikaturen vor drei Jahren zu wiederholen. Der damals von Staaten mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung an die Regierung Dänemarks adressierte Vorwurf, nicht gegen die angebliche Blasphemie eines dänischen Karikaturisten und die Veröffentlichung seiner Zeichnungen in der Tageszeitung Jyllands-Posten vorzugehen, rührte an die religiösen Gefühle vieler Muslime. Das dagegen gerichtete Insistieren auf unbedingte Pressefreiheit wurde auch von vielen Parteigängern Israels erhoben, die eine in dieser absoluten Form tatsächlich niemals gegebene Liberalität als Beleg für den überlegenen Charakter westlicher Demokratien ins Feld führten.

Heute hält die schwedische Regierung das Grundrecht auf Pressefreiheit gegenüber den Forderungen der israelischen Regierung hoch, mit einer öffentlichen Verurteilung gegen einen Artikel des Stockholmer Journalisten Donald Boström vorzugehen, in dem dieser den Verdacht ausspricht, daß palästinensischen Jugendliche seit 1992 wiederholt von den israelischen Streitkräften getötet wurden, um ihren Leichen Organe für die Transplantationsmedizin zu entnehmen. Boström hat diesen Verdacht, den er mit einer Fallgeschichte und diversen Zeugenaussagen erhärtet, zudem mit einem vor kurzem in den USA aufgeflogenen Ring jüdisch-amerikanischer Geldwäscher in Zusammenhang gebracht, zu deren Geschäften auch der illegale Organhandel gehörte.

Der in Fragen des Nahostkonflikts sehr erfahrene Journalist rührt mit seiner Geschichte an dem virulenten Problem der Ausbeutung von Menschen, die aufgrund ihrer ökonomischen Lage, ihrer Inhaftierung oder anderer Folgen eindeutig gelagerter Gewaltverhältnisse als Rohstofflieferanten für die Transplantationsmedizin herhalten müssen. Diese Wachstumsbranche findet ihre sogenannten Spender insbesondere in Ländern des Südens, aber auch unter den Armutsbevölkerungen Osteuropas oder eben in Palästina. Israel gilt aufgrund des liberalen Umgangs mit dem kommerziellen Organhandel als Land, in dem die internationale Vermittlung von Organen aus dunklen Quellen besonders floriert. Im Unterschied zum symbolpolitischen Charakter des Eklats, der um die Mohammed-Karikaturen entfacht wurde, geht es beim Organraub um eine sehr konkrete, ja im urtümlichen Sinne kannibalistische Form der Ausbeutung. Dabei sind die Unterschiede zwischen Menschen, die sich vermeintlich freiwillig an einen Organmakler wenden, um mit dem Verkauf einer ihrer Nieren drängende ökonomische Probleme zu bewältigen, oder Opfern willkürlich agierender Staatsorgane, die gegen ihren Willen ausgeweidet werden, gradueller Art. Signifikant für den Organhandel ist die Situation der Abhängigkeit, in der sich die "Spender" befinden, und die hohe Gewinnspanne, die die Vermittler generieren, wenn sie zahlungskräftigen Kunden außerhalb der offiziell sanktionierten Kanäle der Organspende zu einem neuen Herzen oder einer neuen Niere verhelfen.

Da Boström in seinem Artikel lediglich Indizien verarbeitet hat, die zu einer allerdings hochgradigen Plausibilität verdichtet werden, ist ihm keine unseriöse Arbeit anzulasten (Originalartikel in englischer Übersetzung: http://www.tlaxcala.es/pp.asp?reference=8390&lg=en). Dennoch wird der prekäre Charakter des Geschehens von der israelischen Regierung auf bekannte Weise mit Motiven in Zusammenhang gebracht, die den Autor unter Antisemitismusverdacht stellen. So greift Premierminister Benjamin Netanjahu gegenüber der Regierung in Stockholm zu dem Vorwurf, es handle sich um eine "Blutlüge", und Außenminister Avigdor Lieberman wirft ihr vor, die Weigerung, gegen das Gebot der Pressefreiheit zu verstoßen, entspreche dem Schweigen früherer schwedischer Regierungen zum Holocaust. Flankiert wird die Offensive Tel Avivs durch die israelischen Medien, in denen die ganze Bandbreite der Empörung über angebliche rassistische und antisemitische Verunglimpfungen Boströms mobilisiert wird.

Konkret droht dem Journalisten der Entzug seiner Aufenthaltsgenehmigung in Israel, zudem hat das Tel Aviver Außenministerium Konsequenzen für den geplanten Besuch des schwedischen Außenministers Carl Bildt in Israel angedroht. Bislang weigert sich die Regierung in Stockholm, der Forderung nach Verurteilung des Artikels zu entsprechen. Was Netanjahu und Lieberman mit der Strategie, einen unbequemen Vorwurf als Hetze zu diffamieren, anstatt ihn durch die offizielle Untersuchung seines Wahrheitsgehalts aus der Welt zu schaffen, durchaus gelegen kommen dürfte, ist die Zuständigkeit der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft für die Außenpolitik der EU. So lange dieser Eklat anhält, braucht man sich in Tel Aviv nicht mit europäischen Forderungen nach einem Stopp des Siedlungsausbaus oder gar einer Beendigung der Besetzung der Palästinensergebiete zu befassen.

Die Methode, substantielle Kritik an der Besatzungspolitik Israels und konkrete Maßnahmen wie die Boycott, Divestment and Sanctions (BDS)-Kampagne unter Antisemitismusverdacht zu stellen, kann allerdings schwer zu kontrollierende Folgen zeitigen. So wird das politische Kapital des jüdischen Opfergangs, als daß der Holocaust von der israelischen Regierung bewußt mißverstanden wird, durch seine inflationäre Verwendung auf die Dauer in seiner Substanz beschädigt. Je unglaubwürdiger die Gleichsetzung zwischen den jüdischen Opfern der NS-Vernichtungspolitik und den Sachwaltern der israelischen Besatzungspolitik ist, desto größer ist das Risiko, daß das angeblich antisemitische Ressentiment selbst auf der Ebene der Mehrheitsmedien, die wirksame Kritik an der israelische Regierungspolitik bislang mit gut erprobter Konsenskontrolle im Zaum halten, als Auseinandersetzung mit dem Zionismus in Erscheinung tritt. Die israelische Staatsdoktrin überhaupt als solche zu thematisieren wird bislang durchgehalten, doch schon mit der Forderung der Regierung Netanjahu an die Palästinenser, Israel als jüdischen Staat anzuerkennen, wird dieses Tabu immer unhaltbarer. Mit dem Polemisieren gegen einen Journalisten, dem kein handwerklicher Fehler unterlaufen ist, der jedoch ein Thema am Wickel hat, das im Spannungsfeld zwischen zionistischer Selbstbehauptung, demokratischer Kritik und rassistischer Hetze vielerlei Auslegungen zuläßt und Wendungen nehmen kann, stellt sich nicht nur die Frage nach der Motivlage der Kritiker, sondern auch der der Kritisierten.

24. August 2009