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RAUB/0913: Betäubender Wein in größeren Schläuchen ... Vergessen tut not (SB)



Materialismuskritik gehört zum christlichen Glauben wie der Segen zum Weihwasser. Das gilt auch und gerade dann, wenn die Lebensführung mancher Popen nicht gerade darauf schließen läßt, daß sie die Enthaltsamkeit, die sie predigen, zur Maxime eigener Lebensführung machen. Die Belastung des persönlichen Sündenkontos nach Exzessen der Gier, das schlechte Gewissen, das verwerfliche Wollust wie ein unentrinnbarer Schatten begleitet, die Schuld, die man für Vergehen an der Ordnung des Himmels abzutragen hat, all das sind nach wie vor Instrumente einer Herrschaft, die auf so handgreifliche Weise wirksam wird, wie sie das Primat des Materiellen leugnet. Für die Beherrschbarkeit des Gläubigen und aller von christlicher Ethik infizierten Nichtchristen ist das Postulat höherer Werte, die nicht vom Sumpf wilder Animalität kontaminiert werden und ewige und unveränderliche Gültigkeit beanspruchen können, unverzichtbar. Diese Werte entbehrlich zu machen, indem der Mensch im unmittelbaren, autonomen Tun frei von Zwängen aller Art wird, wird nicht umsonst als eine der größten Gefahren materialistischer Weltanschauung gebrandmarkt.

Im Geviert der herrschenden Ordnung so frei zu sein wie das frei fungierende Kapital und das Gefühl von Freiheit, das ein volles Konto vermittelt, ist deshalb aufs beste mit dieser Materialismuskritik vereinbar. Wo die Abhängigkeit des Menschen von der herrschenden Vergesellschaftungsform und der sie bestimmenden Werte zementiert werden soll, da braucht es kein Büßergewand, um als besserer Mensch das schlechthin Böse zu identifizieren. Es reicht der Verweis darauf, daß Übermut noch nie gut getan hat und Mut auch nur dann als solcher gilt, wenn er nicht eingesetzt wird, um nämliche Werte zu demontieren. "Braucht unsere Gesellschaft Religion?", fragt Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in einer von ihm verfaßten Schrift gleichen Titels und bejaht dies, indem er den "zentralen Bezug auf Gott" in den monotheistischen Religionen zu einer sicheren Bank der von diesen Glaubenssystemen gestützten Ordnung erklärt. Er kläre die Menschen über die Erfordernis auf,

"dass sie mit ihrem eigenen Leben und Tun in der Verantwortung vor einer Autorität stehen, die sie nicht selbst eingesetzt haben. Dass sie sich auf etwas beziehen, was größer ist als sie selbst. Dass da etwas ist, das von ihnen nicht gemacht, aber von ihnen zu respektieren ist. Schon das hat weitreichende Folgen für politisches und gesellschaftliches Handeln. Wissen um Unverfügbares ist eine Vorkehrung gegen totalitäre Macht und Machtmissbrauch." (Deutschlandfunk 24.08.2009).

Wer Selbstbestimmung in einem Sinne für sich in Anspruch nimmt, daß er sich nichts und niemandem unterordnen will, kann dieser Lesart zufolge nur zu einem Agenten des Machtmißbrauchs werden, selbst wenn er betont, daß seine Freiheit auch die jedes anderen Menschen ist. Sich auf das Primat des unverbrüchlichen Tuns zu beschränken und keine Autorität zu akzeptieren, die die Spaltung von Mensch und Natur, von Geist und Materie, von ich und anderen, von Reichtum und Armut für ihre Interessen nutzbar macht, ist demgegenüber ein revolutionärer Akt.

Das gilt um so mehr, als daß nicht nur CDU-Politiker wiederentdecken, wie förderlich Religiosität für die Krisenbewältigung ist. Zur Restauration des Kapitalismus auf Basis des größeren Mangels an essentiellen Gütern und Leistungen bedarf es demütiger und folgsamer Menschen, denen das Auf und Nieder des Lebens gottgemacht und schicksalsgebunden erscheint. Auch US-Präsident Barack Obama ist wie viele führende Politiker seiner Regierung tief religiös, nicht viel anders als sein Vorgänger weiß er um die entlastende Wirkung göttlicher Führung, selbst wenn er nicht damit prahlt, direkter Empfänger göttlicher Eingebungen zu sein. Anstatt gegen Iraker und Afghanen zieht der ehemalige britische Premierminister Tony Blair nun gegen die Gefahren, die von Materialismus und Säkularismus ausgehen, zu Felde. Zwar schränkt er ein, daß es insbesondere die "kurzfristige materielle Gewinnsucht in einem globalisierten Wirtschaftssystem" (The Guardian, 29.08.2009) sei, die den Planeten und die Menschheit bedrohe, doch sein Wettern gegen "aggressiven Säkularismus" verrät, daß der zum Katholizismus konvertierte Labour-Politiker weiß, daß er nicht nur einem Herren zu dienen hat.

Um die kommende Mangelordnung durchzusetzen, ist die Verwandlung fremder Interessen in verbindliche Wahrheiten und unberührbare Instanzen erforderlicher denn je. Der Mensch, der aus sich und seinem direkten sozialen Umfeld heraus zu wissen behauptet, wie der Umgang mit anderen für alle Beteiligten gedeihlich und förderlich zu gestalten ist, ist nicht nur ein Auslaufmodell. In ihm scheint die Kontur des künftigen Staatsfeinds auf. Wer nichts braucht, ist auch nicht zu beherrschen, das ist das Geheimnis aller Dogmen, die das Materielle verdammen, um ihm zu huldigen.

2. September 2009