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RAUB/0933: Verknappungspolitik durch Agrospritproduktion strategisch begründet (SB)



Ein Viertel der gesamten Getreideernte in den USA gelangt nicht in die Mägen der Hungernden, sondern in die Tanks von Autos, dessen Fahrer in der Regel satt werden. Wie Angaben des US-Landwirtschaftsministeriums vom letzten Jahr zeigen (guardian.co.uk, 22.01.2010), ist die Agrospritproduktion in den USA massiv angewachsen, und das nicht nur aufgrund gestiegener Nachfrage, wie man in einem Land, in dem das Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft den Stellenwert eines zivilreligiösen Glaubensdogmas besitzt, annehmen müßte.

Die Agrospritproduktion in den USA wird hochgradig subventioniert, so daß ihr Wachstum Ergebnis einer auf politischen Entscheidungen beruhenden staatskapitalistischen Regulation ist. Es handelt sich um eine ressourcenstrategisch begründete Politik, mit der die Abhängigkeit der USA von Erdölimporten verringert werden soll. Dabei ist zu bedenken, daß der Getreideanbau selbst in großem Ausmaß auf den Einsatz fossiler Energie für den Betrieb von Landwirtschaftsmaschinen und die Produktion von Düngemitteln angewiesen ist. Der ohnehin im Weltvergleich immense Verbrauch begrenzt verfügbarer Ressourcen pro Kopf der US-Bevölkerung beruht zu einem Gutteil auf der industriellen Produktivität, die rund um Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren entfacht wird. Dies gilt nicht nur für das zivile Verkehrswesen, sondern auch den Bedarf an fossiler Energie, der für die Kriegsmaschinerie des Landes aufgewendet wird. Die US-Streitkräfte allein verbrauchen so viel Erdölprodukte wie alle Fahrzeuge Schwedens.

Laut Lester Brown, Direktor des Earth Policy Institutes in Washington, hätten mit dem Getreide, das 2009 für die Agrospritproduktion in den USA verbraucht wurde und ein Viertel der gesamten Ernte ausmacht , 330 Millionen Menschen, also ein Drittel der offiziell hungernden Weltbevölkerung, im gleichen Jahr ernährt werden können (guardian.co.uk, 22.01.2010). Für diese Menschen erschwerend hinzu kommt eine laut Weltbank durch die Agrospritproduktion in den USA und der EU bedingte Preissteigerung für Getreide von 75 Prozent. Diese zwischen Ende 2006 und 2008 erfolgte Verteuerung ist zwar durch die Weltwirtschaftskrise ein wenig zurückgegangen, jedoch nicht auf das vorherige Niveau.

Waren die USA früher bekannt dafür, Getreideexporte als Waffe einzusetzen, indem sie die Lieferung von Weizen an geostrategische Ziele knüpften, so praktiziert der größte Getreideproduzent der Welt heute eine ausgemachte Politik der Verknappung. Indem ein Großteil der verfügbaren Ernte gar nicht erst in den Export gelangt, sondern für die Produktion von Bioethanol abgezweigt wird, verringert sich das weltweit verfügbare Angebot erheblich. Desto größer wird der finanzielle und strategische Wert der verbliebenen Mengen, die in den Export gehen oder als Hungerhilfe eingesetzt werden. In Anbetracht der rund 36 Millionen Menschen, die in den USA selbst auf staatliche Lebensmittelhilfen angewiesen sind, dokumentiert das Verheizen von Getreide in den Tanks von Autos, daß die Ausgrenzung durch Mangel keine ausschließlich außenpolitische, sondern eine grundsätzlich klassenantagonistische Praxis ist.

In der Einspeisung eines essentiellen Lebensmittels in einen Sektor industrieller Produktivität, der wie kaum ein anderer für die Expansion des Kapitalismus in den Raum steht, wird ein Konzentrationsprozeß im Ressourcenverbrauch manifest, der die ökonomische Reichweite und militärische Schlagkraft des stärksten Staats der Welt zum Preis des beschleunigten Niedergangs anderer Weltregionen sichert. Wenn Motoren laufen und Menschen deshalb hungern, dann dokumentiert dies auch die Verschärfung des Verhältnisses zwischen maschineller und humaner Arbeit. Die Vernichtung von Lohnarbeit zugunsten des Einsatzes von Maschinen ist nicht nur ökonomisch prekär, weil die Verringerung des Warenabsatzes den Fall der Profitrate und damit die Krise des Kapitalismus beschleunigt, sie ist durch die immer geringere Zahl von Menschen, die für den Produktionsprozeß unverzichtbar sind, auch Ausdruck forcierter Herrschaftsicherung. Die Ablösung einer auf Erwerbseinkommen beruhenden Volkswirtschaft durch eine an Anpassungsleistungen gebundene Almosengesellschaft verringert die Möglichkeit von Lohnabhängigen, kämpferisch für ihre Interessen einzutreten, erheblich.

Die Alimentierung der Agrospritproduktion mit rund sechs Milliarden Dollar staatlicher Subventionen im Jahr verrät, daß diese Entwicklung planvoll und systematisch betrieben wird. Sie sorgt für eine materielle Rückbindung durch finanzkapitalistische Spekulation entwerteter Geldmengen an eine Überlebensnot, die die davon Betroffenen auf jede denkbare Weise verfügbar macht. Ein Staat, der ein Großteil der Weltgetreideproduktion kontrolliert, kann gar nicht so überschuldet sein, daß er aufgrund dieser Ressource nicht dennoch handlungsfähig wäre. Wann immer die Brisanz krisenhafter Entwicklung in einen Paradigmenwechsel des kapitalistischen Akkumulationsmodells mündet, werden die USA und ihre Verbündeten in der EU in der Lage sein, die Bedingungen des neuen Verwertungsregimes maßgeblich zu bestimmen.

28. Januar 2010