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RAUB/0957: Humangenetische Selektion ... Elitenprojekt der Biomedizin (SB)



Mit dem Urteil, die Präimplantationsdiagnostik (PID) verstoße nicht gegen das Embryonenschutzgesetz und sei daher nicht strafbar, folgt der Bundesgerichtshof einer Logik der angeblichen Schadensbegrenzung, die als kleineres Übel das größere bedingt. Die genetische Untersuchung künstlich befruchteter Embryonen vor ihrer Einpflanzung galt bislang wegen der prinzipiellen Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens als verboten. Im Unterschied zur Abtreibung eines bereits existenten Fötus, dessen durch Pränataldiagnostik festgestellte Schädigung die Mutter in eine akute Konfliktlage bringt, betrifft die prognostizierte Schädigung eines Embryonen einen noch nicht implantierten Menschen im Frühstadium, dessen Tötung durch einen solchen Konflikt nicht zu begründen ist. Daß die Implantation möglicherweise zu einer Spätabtreibung führen könnte, wird nun als Argument dafür eingesetzt, der Mutter dieses Problem doch von vornherein zu ersparen, indem der Embryo vernichtet wird.

Damit jedoch wird der fremdnützigen Selektion des werdenden Lebens Tür und Tor öffnet. Nicht von ungefähr unterschlägt diese Konsequenz einer humangenetische Untersuchung im Frühstadium der Entwicklung die Frage nach dem Lebensrecht von Menschen, die im Sinne der Mehrheit als behindert gelten, von vornherein. Ihre Aussortierung wird billigend in Kauf genommen, wenn die Vermeidung sogenannter Erbkrankheiten über die Schutzwürdigkeit des Embryonen gestellt wird und Eltern gar nicht erst mit der Frage konfrontiert werden, wie es um das Lebensinteresse ihres womöglich behinderten Kinds bestellt ist. Die vordergründige Dichotomie des Gesunden und des Kranken, die dem Leipziger Urteil zugrundeliegt, beantwortet die Frage nach dem Existenzrecht des Menschen in jeglicher erdenklichen physischen Gestalt, die das Leben hervorbringt, abschlägig, bevor sie überhaupt ernsthaft gestellt wurde. Das Nichtverwertbare in der als "abnorm" stigmatisierten Leiblichkeit birgt womöglich Entwicklungsmöglichkeiten, die das menschliche Leben im Sinne von Autonomie und Selbstbestimmung immens bereichern können.

Die Verabsolutierung der Gesundheit nach Maßgabe kultureller Schönheitsideale und verwertungstauglicher Funktionalität bedroht nicht nur Behinderte, sondern alle Menschen, die der stets von anderen als dem beurteilten Menschen in Anspruch genommenen bioorganischen Tauglichkeit nicht genügen. Nimmt die qualitätsorientierte Elimination vermeintlich unwerten Lebens im unscheinbarsten des biotechnologisch isolierten Embryonen ihren Lauf, kommt sie früher oder später dort an, wo der körperlich und sozial vollständig entwickelte Mensch den Beweis seiner Nützlichkeit fürs größere Ganze nicht erbringen kann. Die sozialrassistischen Ausfälle deutscher Politiker über "unproduktive" Menschen fußen nicht umsonst auf einer explizit erbbiologischen Logik, in der die Vernichtungskonsequenz bereits angelegt ist.

Wird die PID im Sinne einer Qualitätskontrolle eingesetzt, dann entufert ihre Anwendung desto absehbarer, je breiter das Spektrum humangenetisch prognostizierbarer Entwicklungsmöglichkeiten physischer wie psychischer Art ist. Was heute vor allem das Down-Syndrom, Chorea Huntington, Mukoviszidose und Bluterkrankheiten betrifft, läßt sich mit dem Fortschritt der Humangenetik in nicht allzuferner Zeit auf all jene Bereiche ausdehnen, die nach dem jetzigen Erkenntnisstand als zumindest teilweise erbbedingt gelten. Auch wenn es sich dabei lediglich um statistische Wahrscheinlichkeiten handelt, so drängt das Kalkül der Risikominimierung dazu, auch geringfügige Möglichkeiten unerwünschter körperlicher und geistiger Entwicklungen auszuschließen.

Dagegen gerichtete Behauptungen, die humangenetische Selektion von Embryonen ließe sich gesetzlich einschränken, sind durch zahlreiche Innovationen in Medizin und Technik widerlegt, vor denen mit dem absehbaren Ergebnis gewarnt wurde, daß sie dennoch verwirklicht wurden. Die längst in diversen Ländern per PID praktizierte Geschlechterselektion sollte niemals praktiziert werden, hieß es bei Einführung der Methode. Was einmal durchgesetzt wird, weil zahlungskräftige Eltern ihr Wunschkind kaufen wollen, kehrt sich letztlich gegen jedes Verbot mit dem Argument, daß die Kunden der Reproduktionsmediziner dorthin reisen können, wo ihnen das entsprechende Angebot gemacht wird. Die biomedizinische Deregulation folgt der neoliberalen Globalisierungsdoktrin, die den freien Verkehr von Kapital, Arbeit, Gütern und Dienstleistungen zur Maxime optimaler Preisbildung erhebt.

Das Primat der Machbarkeit schlägt alle Bedenken, die sich auf humanistische Ideale berufen, aus dem Feld einer Bioethik, deren utilitaristische Abwägung wichtigster Legitimationsfaktor der Biomedizin ist. Die Gewalt des Normativen richtet sich gegen jegliche Abweichung, die im Nutzenkalkül der herrschenden Verwertungsdoktrin negativ zu Buche schlägt, weil sie den Betroffenen leistungsmäßig einschränkt, ihn aufgrund erforderlicher Versorgungsleistungen zu einem Kostenfaktor macht oder dem propagierten Schönheitsideal gemäß unattraktiv erscheinen läßt. Der mit der biopolitischen Konditionierung der Bevölkerung auf eine angeblich gesunde, die Verfügbarkeit überreichlicher Lohnarbeit bei Senkung ihrer Reproduktionskosten bezweckende Lebensführung wird mit der ganzen Gewalt des marktwirtschaftlichen Konkurrenzprimats in den Leib getrieben. Wenn bereits Kinder nach Schönheitsoperationen verlangen, weil ihnen geringfügige Unvollkommenheiten auf diskriminierende Weise zur Last gelegt werden, wenn Eßstörungen bei Jugendlichen epidemisch um sich greifen, weil die Aversion gegen das wilde Leben auf die körperliche Erscheinungsform übergegriffen hat, wenn Erwachsene dem natürlichen Alterungsprozeß mit hochgiftigen Injektionen entgegentreten, der ihre Mimik zur Maske ihrer Anerkennungsnot erstarren läßt, dann kann wohl kaum behauptet werden, daß gesellschaftlich bereits verworfene Leiblichkeit nicht durch eugenische Ideologie in ihrer Existenz bedroht wäre.

Der von christlichen Lebensschützern beklagte Dammbruch hat längst stattgefunden. Auf den Vergleich des einen Menschen mit dem andern zugunsten des Interesses Dritter folgt alles weitere. Getrieben von der Zwangslogik fremdnützigen Verbrauchs ist auch das Geschäft der Reproduktionsmedizin, geht es den Eltern doch primär um ihr Lebensglück und nicht das ihres Kindes. Wäre es anders, dann würden sich zahllose notleidende Kinder der Zuwendung kinderloser Menschen erfreuen, ohne daß sich Frauen der schmerzhaften bis gefährlichen hormonellen Stimulierung zur Erzeugung von Eizellen unterziehen müßten. Den Sproß eigener Leiblichkeit oder zumindest eigenen Austragens zum Beweis familiärer Leistungsfähigkeit und erbbiologischer Gesundheit zu erheben knüpft nahtlos an die klassische Rasseeugenik an. Zwar wird biologische Wertigkeit heute nicht mehr primär anhand der Hautfarbe, sondern der Lebenstüchtigkeit in der sozialdarwinistischen Arbeitsgesellschaft bestimmt, doch geht es in beiden Fällen um einen biologischen Eigentumsvorbehalt.

Das Erstehen vermeintlich hochwertigen Erbguts zur reproduktionsmedizinischen Erzeugung eines Embryonen mit statistisch hoher Wahrscheinlichkeit zur Ausbildung besonderer Qualitäten oder das Anheuern einer Leihmutter zur Verrichtung der biologischen Dienstleistung der Mutterschaft sind praktische Belege für einen biomedizinischen Kapitalismus, der die Reproduktionsmedizin ihrem technischen und finanziellen Aufwand gemäß niemals als medizinische Basisversorgung für alle Menschen hervorbringen wird. Es handelt sich im globalen Maßstab um eine Elitenmedizin, deren Produktivität ein Klasseninteresse reflektiert, dem die nutzungsbezogene Selektion des Menschen ad hoc inhärent ist. Die Verkürzung der einst sehr differenziert geführten Debatte um PID auf das utilitaristische Argument der Verminderung subjektiven Leidens könnte dies nicht besser dokumentieren.

7. Juli 2010