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RAUB/0997: Spuren der Subversion und Keime des Widerstands unter dem Hartz-IV-Regime (SB)



Der im Jahresvergleich gemessene Anstieg von Ermittlungen wegen des Verdachts auf Schwarzarbeit unter Hartz-IV-Empfängern bedeutet nicht, wie selbst die Bundesagentur für Arbeit (BA) erklärt, daß immer mehr Leistungsempfänger betrügen. Dort deutet man die gestiegene Zahl von Ermittlungsverfahren als Ergebnis des optimierten Einsatzes der Mitarbeiter in den Jobcentern [1]. Zudem fügt sich diese Entwicklung in einen generellen Anstieg bei der Einleitung von Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten und der Verhängung von Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger ein. Wie dem Jahresbericht 2010 der BA über die Grundsicherung für Arbeitssuchende [2] zu entnehmen ist, handelt es sich bei 61 Prozent der Sanktionsgründe um Meldeversäumnisse, also die nichterfolgte Wahrnehmung von Terminen durch die "Kunden" der BA. In 18 Prozent der Fälle wurden in der Eingliederungsvereinbarung festgelegte Pflichten verweigert, und 12 Prozent der Sanktionierten waren nicht zur Arbeit oder anderen Maßnahmen angetreten oder hatten diese abgebrochen.

Auf elf Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum belaufen sich die zwischen Januar und August 2010 insgesamt verhängten 541.000 Sanktionen. Der bei der medialen Verbreitung dieser Entwicklung entstehende, nicht selten gezielt suggerierte Eindruck besagt, daß es sich die Hartz-IV-Empfänger in der "sozialen Hängematte" bequem machen und sich nicht anpassen wollen. Da es sich beim Gros der Sanktionsgründe um das bloße Versäumnis handelt, einem bürokratischen Vorgang zu entsprechen, handelt es sich bei den meisten Fällen offensichtlich um Nachlässigkeiten, die mit Sanktionen zu ahnden mehr über den Zwangscharakter dieses Arbeitsregimes und als über die Intentionen der Betroffenen aussagt. Renitenz, ja Resistenz könnte bei jenem knappen Drittel der Sanktionierten vermutet werden, die sich nach Darstellung der BA aktiv verweigerten.

Dies ist denn auch das für alle Beteiligten eigentlich interessante Ergebnis des SGB II-Jahresberichts 2010. Die staatliche Arbeitsverwaltung muß in Anbetracht des engen Korsetts, in das die Erwerbslosen gezwängt werden, stets befürchten, daß der ihnen aufoktroyierte Zwang ins Leere läuft. Das Kapital erfreut sich dank des Hartz IV-Regimes einer informellen Lohnuntergrenze, die unter Androhung nicht mehr gewährleisteter Überlebensressourcen durchgesetzt wird. Auch dort hat man großes Interesse am Erhalt des doppelten Zwangscharakters der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, des Zwangs, die eigene Arbeitskraft zu den Bedingungen ihrer Käufer zu Markte zu tragen, und des Zwangs, sich bei dauerhafter Massenarbeitslosigkeit einem staatlichen Disziplinarregime zu unterwerfen. Die Betroffenen schließlich merken, daß alle Pflichterfüllung und Unterwerfung nichts an der Misere ändert, Erwerbsarbeit, wenn sie denn überhaupt verfügbar ist, unter immer schlechteren Bedingungen verrichten zu müssen.

Diese Maßregelung der Erwerbslosen findet vor dem Hintergrund eines Krisenszenarios statt, das der Bundesrepublik konjunkturelle Anreize bietet, weil die Produktivität ihrer Wirtschaft nicht nur durch die technologische und wissensökonomische Rationalisierung der Arbeit, sondern auch durch deren mangelgetriebene Entwertung gesteigert wurde. Auch aufgrund des Niedergangs der in direkter Konkurrenz zum deutschen Exportmodell stehenden japanischen Wirtschaft kann man von einer Elendskonjunktur der deutschen Wirtschaft sprechen. Dies illustriert die Entwicklung in der südeuropäischen Peripherie des von der Bundesrepublik dominierten Kerneuropas.

In Griechenland wird derzeit die verschärfte Entwertung der Arbeit seiner Bevölkerung unter dem Diktat äußerer Akteure vollzogen, und nicht nur das. Der Strukturwandel, den das dafür erzwungene Sparpaket anschiebt, greift tief in die ökonomischen und sozialen Beziehungen der griechischen Gesellschaft hinein. Seit langem tradierte Überlebensgarantien arbeitsrechtlicher, berufständischer, subventionspolitischer, gemeingutorientierter und sozialkultureller Art fallen der Zwangskapitalisierung eines abstrakten Verwertungsinteresses zum Opfer, das allein die Maxime der Kapitalakkumulation kennt. Dabei sind aus Land und Bevölkerung nurmehr Restbestände verwertungstauglicher Produktivitätspotentiale zu pressen, doch es geht dort wie beim deutschen Hartz-IV-Regime ums Prinzip. Die Unterwerfung des Menschen unter ein quantifizierbares, an Verbrauch und Ertrag bemessenes Lebensrecht ist der Fluchtpunkt der Praxis betriebswirtschaftlicher Evaluation und ökonomischer Durchkapitalisierung ganzer Gesellschaften, ihrer Bürger und ihres Inventars, wie sie derzeit am Beispiel Griechenland vor aller nicht selten erschrockenen Augen durchexerziert wird.

Insofern könnte die, wenn auch geringe, Zunahme an praktischem Widerstand gegen die nur unter Zwangsandrohung gewährte Grundsicherung für Erwerbslose als ein subversives, dem breiten Widerstand der griechischen Bevölkerung gegen ihren Ausverkauf äquivalentes Aufbegehren verstanden werden. Was dem auf Eigentumsordnung und Staatsgewalt eingeschworenen Homo oeconomicus ein Greuel unbedingt zu reglementierender Abweichung ist, wäre als Möglichkeit einer noch unentwickelten, aus dem Nichts fremdverfügter Verhältnisse erstehenden Gegenposition im bislang höchst einseitig von oben geführten sozialen Kampf sicherlich überinterpretiert. Deren bislang vergebliches Herbeireden hat die vermeintliche Unveränderbarkeit herrschender Verhältnisse zementiert, wie das frappante Scheitern des heißen Herbstes 2010 belegt. Die Bereitschaft auch der benachteiligten Bevölkerung, sich nicht zu empören, geschweige denn zu erheben, könnte kaum größer sein, was nicht zuletzt der deutschen Vormachtposition in der EU und der massenmedial inszenierten Wiederkehr nationalistischer Ressentiments geschuldet sein dürfte.

In Anbetracht des EU-europäischen Krisenszenarios und der Aufstände in der arabischen Welt wäre es gleichermaßen ignorant, die Entwicklung produktiven Widerstands in den kerneuropäischen Metropolengesellschaften vollständig abzuschreiben. Deren Bevölkerungen in den Harnisch einer nationalen Bestandssicherung um jeden Preis, also auch den des Scheiterns des Euros, zu treiben ist nicht das Anliegen ihrer Regierungen. Sie spielen die nationalistische und sozialrassistische Karte nur so weit, als es gilt, verbliebene Reste sozialer Solidarisierung zu eliminieren, ist ihnen das konzertierte EU-europäische Handlungsvermögen in der globalen Konkurrenz um die verbliebenen Verwertungspotentiale doch unverzichtbar. In den unter Schuldenverwaltung der EU und des IWF geratenen Staaten sollen möglichst unbehindert sozialpolitische Spardiktate, Privatisierungen öffentlichen Eigentums und die Zurichtung der Bevölkerungen auf maximale Verwertungstauglichkeit durchgesetzt werden, um letztendlich die gesamte EU im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähiger zu machen.

Insofern hat jedes Aufbegehren gegen das Hartz-IV-Regime immer auch eine internationalistische Komponente. Um so wichtiger ist es für die Herrschenden, organisierte gesellschaftliche Kräfte wie Parteien und Gewerkschaften, die das Anliegen der Erwerbslosen auf wirksame Weise zu ihrem machen und auf breite Füße stellen könnten, in die Ratio der nationalen Standortlogik einzubinden und dadurch zu neutralisieren. Es ist an den Betroffenen selbst, tätig zu werden. So, wie sich der Wildwuchs des administrativ zu verfügenden Subjekts niemals vollständig beherrschen läßt, so steckt in jeder aktiven Verweigerung der Keim eines sozialen Widerstands, der seine Sprache und Form noch zu entwickeln hat.

Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/wirtschaft/article13454717/Immer-mehr-Hartz-IV-Betrueger-gehen-Aemtern-ins-Netz.html

[2] http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/Veroeffentlichungen/SGB-II/SGBII-Jahresbericht-2010.pdf

28. Juni 2011