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RAUB/1015: Sozialverband zahnlos - Präsentation des Armutsberichts 2011 (SB)



Die heile Welt bundesdeutscher Koexistenz von Arm und Reich, in der man anläßlich des Weihnachtsfestes nicht nur Almosen gibt, sondern sogar Verteilungsgerechtigkeit anmahnt, bekäme einen tiefen Riß, entledigte man sich der Dichotomie zugunsten des Streits. Armut und Reichtum sind keine Geschwister, zwischen denen ein Ausgleich möglich wäre, mit dem beide leben können. Wohl gaukelt die Ideologie konkurrenzgetriebener Marktwirtschaft vor, man schaffe so die bestmögliche Gesellschaft zum Wohle aller, wobei man sozialpartnerschaftlich armdrücken darf, bis vernünftige Lösungen die neofeudale Ordnung der Herren und Knechte fortschreiben und zementieren. Ringt man sich hingegen zu der Frontstellung durch, daß es Reichtum nur auf Grundlage von Armut geben kann, offenbaren sich die systemimmanenten Grenzen jeglichen Teilens in der Fessel verfassungsgeschützter Besitzstände: Null und nichtig die Hoffnung der vielen, sich von ihrer Hände Arbeit ernähren und Vorsorge treffen zu können. In Stein gemeißelt die Ansprüche weniger, mit Haut und Haar zu verwerten, was immer sie den Artgenossen an Schaffenskraft und Lebenssubstanz abpressen können.

"Wenn dieser Kessel mit fünf Millionen Menschen einmal zu kochen anfängt, dürfte es schwer fallen, ihn wieder abzukühlen", warnt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, um Konsequenzen aus dem soeben veröffentlichten Armutsbericht 2011 anzumahnen. Im Ruhrgebiet, dem größten Ballungsraum Deutschlands, gebe es "sehr hohe Armutsquoten mit seit Jahren steigender Tendenz." [1] Das Signal an die Sachwalter der Armutsregulation mag nachvollziehbar anmuten, doch muß sich die Sozialverbandsführung angesichts einer solchen Argumentation die Frage gefallen lassen, ob sich die Maxime ihres Handelns in der professionellen Befriedung des Sozialprotests erschöpft. Eben jenen Akteuren, die die Schraube sozialer Grausamkeiten immer enger drehen, mit kaum noch einzudämmenden Folgen fortgesetzter Verelendung zu drohen, macht nicht nur den Bock zum Gärtner, sondern unterschätzt auch das strategische Kalkül und Handeln administrativer Herrschaftssicherung.

Während die deutsche Wirtschaft boomt, kann von einer Verminderung der Armut im Land keine Rede sein. Wie der Bericht dokumentiert, hat sich die Armut in Deutschland auf hohem Niveau verfestigt. Sie verharrt seit dem Jahr 2005 zwischen 14 und 15 Prozent - unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung in diesem Zeitraum. Damit sei die Behauptung widerlegt, eine gute Wirtschaftspolitik sei die beste Sozialpolitik, zieht Schneider eine verkürzte Bilanz: "Die Krankheit Armut ist resistent geworden gegen die Hauptmedizin wirtschaftliches Wachstum." [2] Dieses plakative Wortspiel zeugt von der Auffassung, eine an sich gesunde Gesellschaftsordnung sei mit Verelendung infiziert, an der die jahrzehntelang erprobte klassische Therapie scheiterte. Weit davon entfernt, die Krise kapitalistischer Verwertung zu entschlüsseln, befleißigt sich Schneider einer Bezichtigung der Armut als krankhafte Abweichung, wovon es nur ein kleiner Schritt zur Bezichtigung der Armen ist.

Rund zwölf Millionen Menschen sind hierzulande armutsgefährdet, so daß fast jeder siebte Bundesbürger über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügt. Im vergangenen Jahr lag die Armutsgefährdungsschwelle für einen Single-Haushalt bei 826 Euro, für eine vierköpfige Familie bei 1735 Euro nach Abzug von Steuern und Abgaben. Im Oberland des südlichen Bayern trifft dies nur auf 7,5 Prozent der Bevölkerung zu, im bundesweiten Schlußlicht Vorpommern sind es hingegen 24,6 Prozent. In Berlin wuchs die Armut seit 2006 so stark wie nirgendwo sonst in Deutschland von 17 auf 19,2 Prozent. Eine ähnlich negative Entwicklung gab es nur noch in Nordrhein-Westfalen, wo insbesondere der Trend im Ruhrgebiet als besorgniserregend eingeschätzt wird.

Daß die Armutsquote selbst im vergleichsweise wohlhabenden Bayern nur minimal gesunken und im kaum minder saturierten Baden-Württemberg sogar geringfügig gestiegen ist, weist Armut als Wesensmerkmal der Gesellschaft aus, das sich längst nicht mehr weitgehend in andere Weltregionen auslagern läßt. Auf ungezügelter Ausbeutung kaum noch organisierter Arbeitskraft gegründeter Export speist eine Konjunktur, von der immer weniger Menschen profitieren. So ist die Armutsquote etwa in Berlin und Nordrhein-Westfalen weiter gestiegen, obwohl der Anteil der Hartz-IV-Empfänger an der Bevölkerung fast gleichblieb. Das belegt, daß auch Menschen oberhalb des Hartz-IV-Bezugs zunehmend von Armut betroffen sind.

Was ist zu tun? Schneider fordert die Bundesregierung zu einer Kehrtwende auf: "Wo die Wirtschaft nicht für sozialen Ausgleich sorgt, ist die Politik gefordert." Wer Armut glaubhaft bekämpfen wolle, müsse die Hartz-IV-Sätze erhöhen, öffentliche Beschäftigung ausbauen, die Bildungschancen benachteiligter Kinder sichern und der drohenden Altersarmut vorbeugen. Die jährlichen Sozialausgaben müßten um 20 Milliarden Euro angehoben werden, und zur Finanzierung forderte der Verband eine deutlich stärkere Besteuerung von großen Erbschaften, Vermögen sowie hohen Einkommen: "Wir kommen angesichts der sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht darum herum, die sehr Vermögenden zur Finanzierung der Lasten stärker als bisher heranzuziehen." [3]

Wenngleich nichts dagegen einzuwenden ist, die Wohlhabenden stärker zur Kasse zu bitten, ist es doch nicht damit getan, staatlicher Sozialpolitik die kompensatorische Bewältigung der Elendsfolgen einer profitorientierten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung anheimzustellen. Zahnlos bleibt der Appell an den Konsens einer sozialen und gerechten Verteilung zum Wohle aller, enthält er sich doch des Griffs nach den Wurzeln der aufbrechenden Widersprüche und der Konfrontation mit jener Unversöhnlichkeit, die das Feld beherrscht, wo sich der Starke vom Schwachen nährt.

Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-12/armut-bericht-deutschland

[2] http://www.focus.de/finanzen/news/arm-trotz-aufschwung-fast-jeder-siebte-deutsche-ist-von-armut-bedroht_aid_696330.html

[3] http://www.stern.de/panorama/trotz-guter-wirtschaftslage-zwoelf-millionen-deutsche-sind-von-armut-bedroht-1765357.html

24. Dezember 2011