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RAUB/1035: Schlafende Hunde geweckt? - Transplantieren nach Göttinger Art (SB)




Sind nun die schlafenden Hunde geweckt? Seit Jahren bemüht sich die Transplantationsmedizin vergeblich, propagandamunitioniert und kampagnenbewehrt die Organspendebereitschaft der Bundesbürger zu befeuern. Welche Meinungsbilder auch immer in Fangfragebögen gefischt werden, die harten Fakten in Gestalt stagnierender Spenderausweise sprechen eine andere Sprache. Wenngleich weithin unartikuliert sitzen Unbehagen und Abwehr angesichts des instinktiv als räuberisch empfundenen Vorgangs eines Organübertrags offenbar zu tief, als daß Truggebilde, Schönfärberei und Moralappelle sie leichterdings entwurzeln könnten. Fast hat es den Anschein, als habe jede Offensive der Befürworter in Politik, Medizin und Medien den gegenteiligen Effekt und lasse die Menschen insgeheim nur um so ergiebiger schauern. So delikat ist die Angelegenheit hierzulande geworden, daß man die von den Profiteuren so heißbegehrte Widerspruchslösung gar nicht erst in den Ring warf, weil man sie derzeit für nicht durchsetzungsfähig und daher mit Blick auf die wackelige informelle öffentliche Meinung, die vorerst noch in keiner Zeitung steht, für kontraproduktiv erachtete. Schleichend, aber penetrant heißt die Devise, wenn man den Leuten fortan von Amts wegen immer mal wieder unter die Nase reibt, daß eine kleine Unterschrift doch nicht zuviel verlangt sei, wenn es gelte, organspendend Leben zu retten.

Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen, droht doch der Göttinger Organspendeskandal genau das auf die Tagesordnung zu setzen, was man jahrzehntelang so mühsam geleugnet, vertuscht und verheimlicht hat: Daß Lebende für tot erklärt werden, um ihre intakten Organe zu entnehmen und sie anderen einzupflanzen. Zwar ist das noch nicht Thema der Debatte, die sich vorerst auf einen Transplantationsmediziner und sein engeres Umfeld beschränkt. Hat die Kontroverse jedoch erst einmal Fahrt aufgenommen, bestehen gute Aussichten, daß niemand sie mehr abwürgen und damit weiterführende Fragen ausblenden kann. Daher überschlägt man sich geradezu in panischem Eifer, die leidige Affäre kleinzureden, bevor sie am Ende noch den klinisch sauberen Deckel auf den Abgründen des Transplantationsgeschäfts kontaminiert.

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sprach von einem "krassen Einzelfall": "Hier haben weder die Ärztekammer noch die Göttinger Uniklinik versagt." Das zu behaupten, war nicht gerade politikerschlau, wußte doch die Süddeutsche Zeitung längst zu berichten, daß gegen den inzwischen entlassenen ehemaligen Oberarzt bereits in der Vergangenheit ermittelt worden sei, weil er eine für das Klinikum Regensburg vorgesehene Spenderleber mit nach Jordanien genommen habe, um sie dort einzusetzen. Bisher sei nichts erwiesen, doch habe der Mediziner möglicherweise Helfer gehabt, mutmaßte Martin Siess vom Verwaltungsrat des Göttinger Uniklinikums: "Es ist unwahrscheinlich, dass nur eine Person an den Manipulationen beteiligt war." Dazu seien deren Zahl und Umfang zu groß gewesen. Immerhin steht der 45jährige Arzt im Verdacht, in mindestens 25 Fällen Daten manipuliert zu haben. Er soll den Krankheitszustand seiner Patienten kritischer dargestellt haben, um die Chancen auf Spenderorgane zu verbessern. [1]

Da ist viel Geld im Spiel. Im Jahr 2010 wurden im deutschen Gesundheitswesen 287 Milliarden Euro umgesetzt, was die Bedeutung dieses gewaltigen Wirtschaftsfaktors illustriert. Jeder siebte bis achte Beschäftigte ist in diesem Sektor tätig, dem der frühere Berliner Ärztekammerpräsident Ellis Huber einst einen Widerspruch zwischen Ethik und Monetik attestiert hat. Mit Organtransplantationen läßt sich besonders viel Geld verdienen, da eine Leberverpflanzung etwa 150.000 Euro bringt. Daher war in Göttingen ein Transplantationsmediziner sicher hochwillkommen, der die Zahl dieser Eingriffe in kurzer Zeit deutlich nach oben schraubte. Wer wollte sich also daran stoßen, daß dieser Arzt in der Vergangenheit der europäischen Organvergabezentrale Eurotransplant wegen dubioser Praktiken aufgefallen war! Ob es bei dem plötzlichen Aufschwung der Lebertransplantationen mit rechten Dingen zuging, scheint den Verantwortlichen der Uniklinik keine Zweifel wert gewesen zu sein. [2]

Wie die Süddeutsche Zeitung schreibt, könnten sich die Vorwürfe zum größten Betrugsfall in der Geschichte der deutschen Transplantationsmedizin ausweiten. Wenngleich solche Spekulationen natürlich journalistisch wohlfeil sind, ist die Sache jedenfalls schon so weit gediehen, daß die Staatsanwaltschaft in Braunschweig wegen Bestechlichkeit ermittelt. Dabei geht es vorerst nur um einen Verdachtsfall, der Mediziner könnte Geld von einem russischen Patienten dafür angenommen haben, daß diesem in Göttingen bevorzugt eine Spenderleber implantiert wurde. Unter den Tisch gekehrt wird der Rest der Affäre absehbar nicht, da inzwischen zu viele Medien Blut geleckt haben. Um den Vorgang aufzuklären, hat die Bundesärztekammer sogar eine Task Force eingerichtet.

Nur nicht übertreiben meint Theodor Windhorst, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe und Mitglied der Kommission Organtransplantation. Man müsse nur alle Transplantationszentren daraufhin überprüfen, ob dort bisher richtig gearbeitet wurde. Von der Einführung eines Vier-Augen-Prinzips hält er hingegen gar nichts, weil das "für manche Entscheidungen nicht günstig und praktisch auch nicht immer machbar" sei. Damit erteilte Windhorst der Idee eine Absage, die der Chef der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer, Hans Lilie, kurz entschlossen vorgeschlagen hat: "Bei dem Skandal in Göttingen wurden offenbar Laborwerte verfälscht. Daher verfolge ich die Idee, dass ein Laborarzt die Daten, die Eurotransplant geschickt werden, noch einmal prüfen sollte." Wie der Strafrechtsprofessor einschränkte, handle es sich bei seinem Vorschlag noch nicht um eine konkrete Forderung. Erforderlich wäre hierfür zuvor "eine entsprechende Entscheidung der Ständigen Kommission". [3]

Die Weichen stellen darf man natürlich schon mal, gilt es doch der Öffentlichkeit die Parole zum Fraß vorzuwerfen, daß jetzt etwas passieren muß. Der Fall des prominenten Essener Leberchirurgen Christoph Broelsch, der gegen Geldzahlungen auf ein Forschungskonto einfache Kassenpatienten operierte und wegen Bestechlichkeit und Nötigung zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, liegt noch nicht lange zurück. Mächtig viel Wirbel gab es jüngst auch um die Deutsche Stiftung Organtransplantation, die sich mit Vorwürfen der Vetternwirtschaft und Verschwendung konfrontiert sieht. Deswegen setzt der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn den Hobel gleich tiefer an und droht: "Wir erwarten von der Ärztekammer und auch der Deutschen Stiftung Organspende (DSO), dass sie jetzt konsequent aufklären und bestrafen. Da müssen dann halt auch mal Approbationen entzogen werden. Ansonsten müsste man die Stiftung selbst ihrer Aufgaben entledigen."

Köpfe müssen rollen, und das im Zweifelsfall nicht zu knapp, winkt die Politik der Transplantationsmedizin mit dem Zaunpfahl. Mauert diese und mistet sie den Stall nicht öffentlichkeitswirksam aus, übernimmt im Zweifelsfall der Staat, was Vereine und Stiftungen der Ärzteschaft bislang in selbstherrlicher Eigenregie verwaltet haben. "Wenn die Vorwürfe zutreffen, dann müssen die Gerichte die Verantwortlichen sehr hart und abschreckend bestrafen", mimt Lauterbach den harten Hund. Intransparenz und eine lang anhaltende Diskussion über Machenschaften wie die in Göttingen brächten das Thema Organspende in Verruf, fürchtet Spahn, der zugleich für das deutsche System der Organspende entschieden die Lanze bricht: "Die Organe, die gespendet werden, werden nach nachvollziehbaren und transparenten Kriterien auf die Wartenden verteilt, Abläufe und Operationen verlaufen hochprofessionell."

Er habe sich nie vorstellen können, daß ein deutscher Arzt so handelt, übt sich Hans Lilie in empörter Blauäugigkeit. Die Bereitschaft zur Organspende werde durch solche Vorgänge erschüttert, tönt es unisono aus allen Lautsprechern. Und so führt auch das Bundesgesundheitsministerium "schonungslose Aufklärung" im Mund. Es sei "nicht nur gesetzeswidrig, sondern aus unserer Sicht auch höchst respektlos und ethisch natürlich in höchstem Maße verwerflich, wenn Organe nicht nach medizinischer Dringlichkeit transplantiert werden", erklärt ein Sprecher. Vorwärtsverteidigung ist angesagt, wobei die Meinungen allenfalls geteilt sind, wie weit man vorpreschen muß und soll, um von der Spitze her den rollenden Zug zu bremsen und in ein Abstellgleis zu bugsieren, ehe er vollends außer Kontrolle gerät.



Fußnoten:

[1] http://www.ftd.de/politik/deutschland/:medizin-korruption-skandal-um-organspenden-an-goettinger-uniklinik/70065848.html

[2] http://www.tagesspiegel.de/meinung/organspende-skandal-den-schaden-haben-die-patienten/6904438.html

[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/skandal-um-organspenden-cdu-politiker-fordert-strafen-fuer-manipulierende-aerzte-11827484.html

21. Juli 2012