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RAUB/1038: Niebels Kampagne gegen Agrosprit - Hungeradministration durch die Hintertür? (SB)




Der dramatische Anstieg der Getreidepreise auf Rekordniveau zeugt davon, daß der Hunger die Metropolen erreicht hat. Daß weltweit eine Milliarde Menschen hungern, wurde in den westlichen Industriestaaten bislang allenfalls dann als Krise wahrgenommen, wenn Revolten ausbrachen. Um so mehr setzen die Protagonisten und Profiteure der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse nun alles daran, die Unmöglichkeit, die gesamte Menschheit zu ernähren, zu bestreiten. Reduziert auf eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit blendet man die Frage der Verfügung über diesen Prozeß, nämlich systemisch verschmolzene militärische, ökonomische und politische Macht, aus. So bleibt das Grundprinzip menschheitsgeschichtlicher Vorteilsnahme, durch größtmögliche Zurichtung, Ausbeutung und Zerstörung menschlicher Existenzen wie auch aller sonstigen Sourcen den Bestand der Herrschaft unausgesetzt zu sichern und in die Zukunft fortzuschreiben, unberührt.

Der Kitt jeder Herrschaft in Gestalt der Beteiligung der Unterworfenen, die im Schatten der Stärke einem schlimmeren Schicksal zu entgehen trachten, drohte zu bröckeln, verflüchtigte sich die letzte verbliebene Hoffnung auf ein lebensrettendes Almosen. Das gilt auf höheren Stufen existentieller Bemittelung, die längst durch immer weitere Wellen des Abbaus sozialer Bestände der Verarmung zugetrieben werden, gleichermaßen. Wenngleich das Ausspielen unterschiedlicher Sphären relativer bis absoluter Armut gegeneinander zum selbstverständlichen Repertoire der Befriedung jeglicher Widerständigkeit gehört, sitzt die Verteidigung des Eigentums zu Lasten anderer doch wesentlich tiefer, als es die aktuellen Debatten um die Welternährungslage glauben machen.

Produktionsverhältnisse und Produktionsweisen, wie sie die kapitalistische Verwertung an ihre Grenzen getrieben hat, leeren die Hände einer Mehrheit der Menschheit, um den exzessiven Verbrauch einer schwindenden Minderheit zu befeuern. Es geht daher um weit mehr, als vom wohlgefüllten Teller einen Löffel voll an die Verhungernden abzugeben, wie das zahllose Rechenkunststücke, die eine auf der Hand liegende Lösung des Problems zum besten geben, nahelegen. Der Wirt, ohne den solche Rechnungen zwangsläufig zur Makulatur werden, ist ein hochindustrialisiertes, wachstumsgestütztes Verwertungsregime mit all seinen Ausbeutungs-, Ausplünderungs- und unumkehrbaren Zerstörungsfolgen. Wohin die derzeit hochkochende Forderung nach einer Abschaffung des Agrosprits führt, hängt daher einzig und allein davon ab, wofür sie strategisch eingesetzt wird. Die Plausibilität dieser Kampagne ist für sich genommen kein Maßstab zu entscheiden, ob dabei nicht Lokführer aufgesprungen sind, die den Zug auf ein Abstellgleis manövrieren.

Anlaß zu diesem Manöver besteht allemal: Seit Wochen steigen die Preise für Getreide und Ölsaaten in Europa und an der US-Börse von Chicago stark an. Die Ernteaussichten für Mais haben sich in den USA wegen der anhaltenden Dürre so sehr verschlechtert, daß die Preise im Juli dramatisch zugelegt haben. Auch die Weizenpreise stiegen vor allem wegen schlechter Ernteaussichten in Rußland binnen kurzer Fristen erschreckend an. Der Verband Deutscher Mühlen beklagt einen gravierenden Preisanstieg für Brotweizen seit Dezember 2011, und die Bäcker kündigen Preiserhöhungen an. Weltweit rechnet man mit einer akuten Nahrungsmittelkrise, die zu Revolten wie jenen im Jahr 2008 führen könnten.

Fast über Nacht macht sich in Deutschland eine breite Allianz für einen Verkaufsstopp des Biosprits E10 stark, der sich Politiker und Parteien in vorderster Front angeschlossen haben, bei denen man das gestern noch für so unmöglich gehalten hätte wie beim sogenannten Atomausstieg der Bundeskanzlerin nach Fukushima. Bei wirkmächtigen Trends aufzusatteln, um mit einem Bauernopfer die Zügel desto fester in die Hand zu nehmen, zeichnet weit über parteipolitisches Kalkül hinaus machtbewußtes Regierungshandeln aus. Gerade weil die Vernichtung überlebenswichtiger Ressourcen durch deren Verbrennung als Treibstoff die Hungerlage verschärft, der Ruf nach einer Abschaffung des E10-Sprits also prinzipiell wohlbegründet ist, drängt sich die Frage nach den Motiven prominenter Neubefürworter dieses Appells auf.

Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel im selben Boot mit Politikern von SPD und Grünen, Umwelt- und Verbraucherschützern, NGOs und Hilfsorganisationen - das legt zwangsläufig die Frage nahe, von welcherart Umdenken dabei die Rede ist. Daß ausgerechnet jener Minister, der deutsche Entwicklungszusammenarbeit als Subunternehmen einer liberalisierten und privatisierten Profitwirtschaft betreiben will, substantielle Entwürfe zur Behebung der Folgen ebendieser Wirtschaftweise beizusteuern hätte, wäre ein Widerspruch in sich. [1] FDP-Generalsekretär Patrick Döring stößt ins selbe Horn: "Dass wir wertvolles Ackerland mit Pflanzen bebauen, aus denen Biosprit und Biogas hergestellt werden, ist weder sinnvoll noch nachhaltig." Und Unionsfraktions-Vize Michael Fuchs von der CDU hat plötzlich erkannt: "Es kann nicht sein, dass Menschen in vielen Teilen der Welt Hunger leiden, und wir verfeuern gleichzeitig Biomasse, um damit wenig effiziente Energie herzustellen." [2]

Das freidemokratische Aufsatteln auf ein grünes Pferd ist kein deutscher Sonderweg. FAO-Direktor Jose Graziano da Silva hat eine "sofortige temporäre Suspendierung" der Ethanolherstellung aus Mais in den USA angemahnt, um "den Getreidemarkt zu entlasten und größere Teile der Ernte einer Verwendung als Nahrungs- und Futtermittel zuzuführen". [3] Shenggen Fan, Direktor des International Food Policy Research Institute, geht davon aus, daß eine globale Lebensmittelkrise vor der Tür steht. Die Produktion von Biosprit müsse eingestellt werden, da sie zum Preisanstieg beitrage und den Hunger vermehre. Daß den USA eine Schlüsselstellung auf diesem Sektor zukommt, ist auf das gewaltige Ausmaß ihrer Ethanolproduktion zurückzuführen. In diesem Jahr verbraucht die US-amerikanische Autoflotte ungefähr doppelt soviel Mais, wie in der gesamten EU angebaut wird, und der Ethanolsektor der USA verwandelt soviel Mais in Treibstoff wie man in Brasilien, Mexiko, Argentinien und Indien zusammengenommen produziert. Selbst allein auf die Vereinigten Staaten bezogen ist der hohe Anteil der Ethanolherstellung aus Mais signifikant, verbraucht sie doch ebensoviel wie die gesamte Futtermittelproduktion zur Fleischerzeugung des Landes.

Zahlreiche Studien der Weltbank, von Universitäten und aus Wirtschaftskreisen weisen einen unmittelbaren Einfluß der gesteigerten Ethanolproduktion auf die Nahrungsmittelpreise nach. So kommt eine Untersuchung im Auftrag führender Verbände US-amerikanischer Lebensmittelproduzenten zu dem Schluß, daß seit Umsetzung des Ethanol-Mandats im Jahr 2007 die Preise für getreideintensive Erzeugnisse doppelt so hoch wie die durchschnittliche Inflationsrate gestiegen sind. Dennoch hat der US-Kongreß binnen sieben Jahren die Marge der Biospritproduktion nahezu verdreifacht, während vor wenigen Wochen sogar das Gemisch E15 zugelassen wurde, obgleich bislang nur vier Prozent aller Fahrzeuge diesen Treibstoff störungsfrei vertragen.

Zu Recht verweist der Hauptgeschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor, Pirmin Spiegel, auf den weltweiten Zusammenhang zwischen Ethanolproduktion und Nahrungsmangel: "Biosprit muss abgeschafft werden, denn er verschärft den Hunger in der Welt. Zum einen steigen die Preise für Grundnahrungsmittel, wenn wir Mais, Weizen oder Rohrzucker in den Tank kippen. Werden die Lebensmittel zu teuer, hungern Menschen in Kenia oder El Salvador. Zum anderen werden Bauern in Afrika und Asien von ihrem Land vertrieben, um Platz für neue Biospritplantagen zu schaffen."

So evident die negativen Auswirkungen der Agrospritherstellung auf die Ernährungslage sein mögen, so verhängnisvoll wäre der verführerische Kurzschluß, alle aktuellen Initiativen für einen zumindest befristeten Produktionsstopp unbesehen als Beitrag zur Milderung des Hungers in der Welt gutzuheißen. Zum einen ist diese Problemlage so vielschichtig verwoben, daß Agrosprit nur ein Aspekt unter vielen sein kann. Das allein wäre zwar noch kein Grund, nicht zumindest von einem begrüßenswerten Ansatz auszugehen, der die damit verbundene Problematik einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht. Solange man jedoch einen Konsens der Vernunft und Humanität postuliert, dem zufolge niemand hungern dürfe, geht man von unhinterfragten Voraussetzungen aus, die von den Produzenten und Nutznießern der Hungerkatastrophe, soweit man sie als menschengemacht bezeichnen kann, nicht geteilt werden. Daher steht im Kontext der aktuellen Kampagne gegen Agrosprit zu befürchten, daß sie den Hunger nicht abwenden, sondern im Gegenteil seine Bewältigung suggerieren und zugleich einer griffigen Administration der auch hierzulande wachsenden Not den Weg bereiten soll.

Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/meinunge/umme-207.html

[2] http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article108684319/Breite-Front-fuer-Verkaufstopp-von-Biosprit-E10.html

[3] http://www.counterpunch.org/2012/08/15/the-drought-and-the-biofuels-disaster/

20. August 2012