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RAUB/1058: Armutsverwaltung hört am Eßtisch nicht auf (SB)




Es wäre armen Menschen gegenüber respektlos, ihnen die aus dem Handel wegen einer möglichen Pferdefleischbeimengung entfernten Lebensmittel anzubieten, ist die Ansicht nicht weniger Meinungsführer aus Politik, Medien und Kirche. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Hartwig Fischer hatte die Forderung aufgestellt, daß diese Produkte den Tafeln zur Verfügung gestellt werden, weil sie als Lebensmittel nach wie vor hochwertig und verzehrbar seien. FDP-Entwicklungsminister Dirk Niebel unterstützt diesen Vorstoß und hält es wahrscheinlich nicht für "spätrömische Dekadenz", sondern eine "Win-Win-Situation", die Bedürftigkeit der Armen mit einem Entsorgungsproblem zusammenzudenken.

Bedürftige können sich auch sonst nicht aussuchen, was die mit Spenden aus abgelaufenen oder anderweitig übriggebliebenen Nahrungsmitteln versorgten Tafeln anbieten, so die Logik der schwarz-gelben Armutsverwaltung. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt - so weist sich das kleinere Übel gegenüber blankem Hunger als generöses Entgegenkommen aus. Der eigentliche Skandal, der in der Forderung Fischers und Niebels aufscheint, ist die längst akzeptierte Normalität einer Bevölkerungspolitik, die die gesamtgesellschaftliche Produktivität rationalisiert, indem sie die Kosten der Arbeit niedrig und die Leine der Erwerbslosen kurz hält. So genießen in der Bundesrepublik viele Menschen weder die Freiheit der Berufswahl noch der Wahl des Wohnorts, sie sind in ihrer Lebensform ebenso eingeschränkt wie in ihrer politischen Betätigung. Der von Sozialtransfers nach SGB II abhängigen Bevölkerung, die auf Tafeln zurückgreifen muß, wenn das Haushaltsgeld nicht mehr reicht, wird nicht nur der Respekt versagt, sondern sie werden zudem als Abnehmer minderwertiger Lebensmittel, die zahlungsfähigen Menschen nicht mehr zugemutet werden sollen, diskriminiert. Solange Hartz IV-Empfänger als arbeitsfähig gelten, müssen sie fast jede Form von Lohnarbeit annehmen, wenn sie keine existenzbedrohenden Leistungskürzungen hinnehmen wollen. Sie müssen sich ihre Wohnung dort suchen, wo die nur bis zu einer bestimmten Grenze erstatteten Mieten billig genug sind. Sie können nicht mit jedem Partner zusammenleben, wenn dessen Einkommen nicht unter der Klammer der Bedarfsgemeinschaft für den Leistungsempfänger herangezogen werden soll. Sie sind trotz Erwerbslosigkeit an der uneingeschränkten Wahrnehmung ihrer demokratischen Rechte gehindert, da sie mit der Arbeitsagentur ausgemachte Anwesenheitspflichten für die Jobsuche einhalten müssen oder Reisen zu entsprechenden Treffen nicht finanzieren können.

Mit der ökonomischen Ausgrenzung wurde nicht nur die Armut vergrößert, sondern auch die Beherrschbarkeit der Betroffenen vertieft. Wem die Produktionsmittel, mit denen der Lebensunterhalt selbständig und selbstorganisiert bestritten werden kann, ebenso vorenthalten werden wie die natürlichen Mittel der Subsistenz, die sich in den bare Zahlung verlangenden Händen privatwirtschaftlicher oder staatlicher Akteure befinden, der müßte einen Anspruch auf vollwertige und diskriminierungsfreie Versorgung haben. Daß er in dieser Eigentumsordnung zum Bittsteller und Almosenempfänger herabgewürdigt wird, ist Ausdruck der moralischen Überhöhung des Eigentumsrechts. Nach dem Grundgesetz formal gleichberechtigt zu sein, müßte im Grunde genommen bedeuten, auch über die materiellen Voraussetzungen jener Freiheit zu verfügen, an der sich Gauck, Merkel und Rösler nicht sattreden können.

Da der Primat des Eigentums im Kodex bürgerlichen Rechts durch den Anspruch auf Menschenwürde und Gleichstellung nicht aufgehoben wird und die Formel von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums zu unbestimmt ist, verebbt die verlangte Respektbekundung in der Ambivalenz einer Moral, die den anderen nur deshalb nicht unterworfen, getreten, verletzt und ermordet sehen will, weil man gleiches fürchtet. An der Oberfläche eines Verfassungsverständnisses, das allen Menschen gleiche Rechte zubilligt, materielle Zwangslagen in ihrer diese Rechte korrumpierenden Wirkung jedoch nicht anerkennt, soll nicht gerührt werden.

Ansonsten drängte die Frage, ob sich kapitalistische Vergesellschaftung überhaupt mit Grund- und Menschenrechtsnormen in Übereinstimmung bringen läßt, auf eine nicht mehr folgenlos bleibende Antwort. Die Respektlosigkeit eines Fischer und Niebel ist die Konsequenz einer Klassenherrschaft, die zu dementieren vordringlicher Zweck einer Werteordnung ist, die Privateigentum zu Lasten grund- und menschenrechtlicher Standards verabsolutiert. Aus dem Verkauf gezogene Nahrungsmittel als unbedenklich für Arme darzustellen, obwohl diese Maßnahme auf Basis eines Lebensmittelrechts getroffen wurde, das Gegenteiliges unterstellt, markiert den Schritt von der Regel zu einer Ausnahme, die im Ausnahmezustand der Krise zum Regelfall zu werden droht. Es liegt auf der Hand, daß unter derartigen Voraussetzungen noch demütigendere und freiheitseinschränkendere Maßnahmen der Armutsverwaltung durchsetzbar sind, als die am Eßtisch längst unübersehbaren Klassenschranken mit dem offiziellen Bekenntnis zu einer Bevölkerungspolitik zu institutionalisieren, die notleidende Menschen mit minderwertiger Nahrung abspeist.

24. Februar 2013