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RAUB/1075: Erfolgreich betrügen im Spiegelkabinett moralischer Bezichtigung (SB)




Wer in dieser Gesellschaft betrügt und wer die Wahrheit sagt, ist für politische Entscheidungen nicht maßgeblich. Sie werden nach der Raison von Staat und Kapital getroffen, und dabei spielt man sich gerne aus scheinbar gegensätzlichen Positionen die Bälle zu. Wenn der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) gegen die Kampagne der CSU zur Abwehr sogenannter Armutsmigranten einwendet, daß sie sich abschreckend auf zukünftig benötigte Fachkräfte aus dem europäischen Ausland auswirken und damit negative Folgen für das Wirtschaftswachstum haben könnte, dann ist man sich im Grundsatz dennoch einig. Sozialleistungen für unterqualifizierte Migrantinnen und Migranten, die sich in der Bundesrepublik für Hungerlöhne verdingen und dabei schnell in die Situation geraten können, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, wirken sich negativ auf das gesellschaftliche Gesamtprodukt aus, da es sich um angeblich unproduktive Kosten zur bloßen Lebenssicherung handelt.

Daß es sich dabei ohnehin um den kleinsten Teil der in der Bundesrepublik auf Arbeitssuche befindlichen Rumänen und Bulgaren handelt, tut der Hetze keinen Abbruch, denn es ändert nichts daran, daß das doppelte Stigma der Unterqualifizierung und Armut Ausdruck sozialrassistischer Verächtlichkeit bleibt. Menschen anhand des Kriteriums ihrer Verwertbarkeit zu akzeptieren oder zu verwerfen, heißt in jedem Fall, sie zu einer fremdnützig verwertbaren Ware zu degradieren. Wird dem rassistischen Charakter der CSU-Parole "Wer betrügt, der fliegt" mit dem Argument entgegengetreten, daß bei der Zuwanderung stärker darauf geschaut werden sollte, wer in der Bundesrepublik Chancen auf Integration in das Erwerbsleben habe und wer nicht, dann kann von Kritik nicht die Rede sein.

Daß eine christliche Werte propagierende Partei südosteuropäische Migrantinnen und Migranten als Ausbund sozialen Unwertes angreift, ohne dabei rot zu werden, läßt ahnen, daß bei der Verteilung des Mangels an Überlebensgarantien dringender Handlungsbedarf besteht. Adressatinnen und Adressaten der Kampagne sind im Kern all jene Menschen, die der fortschreitenden Entwertung ihrer Vermögen, der realen Lohnsenkung und notdürftigen Sozialtransfers nicht die Erkenntnis abgewinnen sollen, daß das Elend in den noch mehr gebeutelten Gesellschaften der EU-Peripherie zuallerletzt für ihre Misere verantwortlich ist.

Was als sogenannte Armutsmigration die Bundesrepublik erreicht, ist die soziale Antwort auf die ökonomische Offensive einer Exportwirtschaft, die andere Akteure nicht nur mit Hilfe von Produktivitätssteigerungen und Lohnzurückhaltung niederkonkurriert, sondern deren Kapitalexporte durch maßgeblich von der Bundesregierung in der EU durchgesetzte Spardiktate gesichert werden. Der gegen die CSU gerichtete Konsens, so dürfe man mit Menschen nicht umgehen, erweist sich im Bestehen auf eine in nationalstaatlicher Konkurrenz verbleibende und durch den Euro verschärfte Wirtschaftsordnung als zahnlos. Die in Deutschland immer noch auflaufenden Krisengewinne werden nicht durch die im Verhältnis zur einheimischen Armutsbevölkerung geringe Zahl migrantischer Leistungsempfänger gefährdet und bedürfen gerade deshalb einer Legitimation, die mit der Unterstellung geliefert wird, Not und Armut seien Ergebnis nationalen wie persönlichen Versagens und nicht kapitalistischer Unwertproduktion.

Wie sonst soll eine durch mehrfache Verschuldung ihres wertschaffenden Potentials defizitäre Güterproduktion noch die Aussicht auf rentable Investitionen eröffnen, als durch die Verwertung einer Lohnarbeit, deren Ertrag nicht einmal die Reproduktion derjenigen sichern kann, die sie unter höchst prekären und ungesicherten Bedingungen erbringen? Die immer mehr Mangel und Not erzeugende Bewirtschaftung der sogenannten Humanressource ist Ausdruck einer Krise des Kapitalismus, der den in Geld ausgedrückten Wert nur mehr politisch in Form von Staatsgarantien sichern kann. Die sklavenartigen Bedingungen, unter denen sich sogenannte Armutsmigranten hierzulande verdingen, sind für die Kostenvorteile der Käufer ihrer Arbeit längst unverzichtbar geworden. Ihre Ausdehnung auf die einheimische Lohnarbeitsklasse wurde mit Ein-Euro-Jobs vorexerziert und findet in innovativen Formen der Ausbeutung durch Arbeit weitere Verbreitung.

So gleicht der im anwachsenden Rechtspopulismus dokumentierte Erfolg des Versuches, Haß gegen diejenigen Migrantinnen und Migranten zu schüren, die durch schiere Lebensnot zur Wanderung in reichere Länder genötigt sind, dem Verhängen eines Spiegels, in den bereits ausgegrenzte oder den Absturz ins Hartz-Elend befürchtende Bundesbürgerinnen und -bürger nicht blicken sollen. Ihnen soll die Erkenntnis vorenthalten werden, daß ihnen nichts anderes als soziale Ausgrenzung, materielle Not und repressive Kontrolle blüht, selbst wenn sie noch so sehr versuchen, sich der nationalistischen Logik einer gegen andere Bevölkerungen gerichteten Bestandssicherung zu unterwerfen.

Der Betrug liegt ganz auf der Seite eines sich in seinem Wohlstand sicher wähnenden Bürgertums, das nicht darüber Rechenschaft ablegen will, woraus genau es die materielle und gesellschaftliche Bevorteilung seiner Klasse schöpft. Der Widerspruch zwischen dem von europäischer Arbeitnehmerfreizügigkeit profitierenden Kapital und dem seine privilegierte Stellung als nationales Kollektiv verteidigenden Bürgertum mündet folgerichtig in die Formierung einer neuen Rechten. Der virulente Klassenkonflikt im eigenen Land muß unter allen Umständen befriedet werden, daran haben alle Staat und Kapital repräsentierenden Eliten Interesse.

Auch deshalb ist die Praxis der CSU, sich über betrügerische Praktiken in den eigenen Reihen hinwegzusetzen und den Betrug dort zu verorten, wo die Moral ausschließlich im Dienste der Durchsetzung materieller Gewaltverhältnisse steht, nicht durch die Äquivalenz der Werte angreifbar. Daß die herrschende Moral stets die Moral der Herrschenden ist, sollte keine Neuigkeit sein. Daß in der öffentlichen Debatte fast ausschließlich moralisch argumentiert wird, belegt das alle an ihr Beteiligten einigende Interesse, am sozialfeindlichen Charakter des Grundverhältnisses zwischen privater Eigentumsordnung und allgemeiner Lebenssicherung nichts ändern zu wollen. Im absehbaren, mit großkoalitionärer Zwei-Drittel-Mehrheit leichter denn je durchzusetzenden Entzug verbliebener sozialer Garantien feiert die europäische Einigung den Triumph einer Freiheit, die die Mobilität der Menschen dem Diktat eines Nutzens unterwirft, der die Überwindung innereuropäischer Kriege als deren Transformation in soziale Konkurrenz kenntlich macht.

5. Januar 2014