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RAUB/1140: Flucht - kehrt marsch ... (SB)



"Jetzt sehen sie, wie Jagd geht. Wir sind beim Jagen." Alice Weidel zeigt sich nicht nur hocherfreut über den Streit zwischen den Unionsparteien, sie nimmt für ihre Partei auch in Anspruch, bei dieser Treibjagd in der Position derjenigen zu sein, die am wenigsten getrieben wird. Die selbstzufriedene Härte, mit der die Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion das Drama auf den Bühnen Berlin und München kommentiert, zeigt, daß das Jagen nicht bloß metaphorisch gemeint ist. Die Begriffswahl entspringt einem Machtbewußtsein, dessen sozialdarwinistische Stoßrichtung jeden Tag neue Triumphe mehrheitlicher Zustimmung feiert. Im Sinne der Behauptung, daß die CSU vor allem Angst vor einem Stimmenverlust an die AfD in Bayern hat, ist die Einschätzung der AfD-Frau, in der Freßkette vorne zu sein, nicht falsch. Doch ist die menschenfeindliche, den eigenen Vorteil absolut setzende Einstellung kein Alleinstellungsmerkmal der Rechtspartei, sondern Ausdruck einer Brutalisierung aller Sozialbeziehungen, unter der die Schwachen und Verletztlichen am meisten zu leiden haben.

Vom Ende her betrachtet - das hätten die Kommentatoren der bürgerlichen Presse allemal wissen können - dient der Zwist zwischen den Unionsparteien dazu, die nächsthöhere Stufe repressiver und autoritärer Staatlichkeit zu betreten. Im Grundsatz des weiteren Ausbaus der Flüchtlingsabwehr einig, geht es nun darum, die Handlungsfähigkeit der EU durch die Angleichung der Ein- und Ausschließungspraktiken ihrer Mitgliedstaaten zu verbessern. Es ist unerheblich, ob die CSU Merkel vor sich hergetrieben hat oder die Kanzlerin des dabei erwirtschafteten Handlungsvorwandes bedurfte, um nicht das Gesicht der ihr zugeschriebenen Humanität zu verlieren. Der deutsche wie EU-europäische Konsens geht in Richtung Abbau aller Formen von Freizügigkeit. Darunter werden auch diejenigen zu leiden haben, die die erlittene Demütigung sozialer Degradierung und Mißachtung gegen Menschen wenden, denen es noch schlechter geht, so daß selbst Menschen auf ihnen herumtrampeln können, die sich im freien Fall zum betonharten Grund gesellschaftlicher Meritokratie befinden.

Ob Anker- oder Transitzentrum, das Lager wird einmal mehr zur Signatur der Epoche. Zu Tausenden immobil gemachte Menschen sollen unter Kontrolle staatlicher Verfügungsgewalt gebracht werden, da ist ihre militärische Abwehr an den Grenzen nur noch wenige Schritte entfernt. Flüchtende Menschen haben keine Stimme, und schon gar nicht werden sie außerhalb der verhörähnlichen Situation, in der der schwindende Rest des Anspruchs auf Asyl zur Geltung gelangt, gefragt. Das nacke Leben der Flüchtenden, wie eine für den DNA-Test aufbereitete Gewebeprobe eingebannt in die Sicherheitsarchitektur der Flüchtlingsabwehr, soll als Antithese zu allem, was das positive Selbstverständnis noch nicht zu Menschenjägern gewordener BürgerInnen ausmacht, zum abschreckenden Beispiel dafür gereichen, was geschieht, wenn der Mensch weiterhin Widerstand gegen seine Isolierung, Unterwerfung und Barbarisierung leistet.

Der Eindruck, politischer Erfolg bemesse sich an der Zahl zurück ins Elend "geschaffter" Flüchtlinge, täuscht nicht. Als bloße Verfügungsmasse im geostrategischen Aufbau verteilungs- und ressourcenpolitischer Durchsetzungskraft ist als Flüchtlingen gebrandmarkten Menschen nicht mehr zu helfen, und wer es dennoch tut, wird als Fluchthelfer und Schleuser vor Gericht gestellt. Die Sicherung der Grenzen erfolgt keinesfalls beidseitig. Die Zugbrücken werden heruntergelassen, wenn es den eigenen Zielen dient, und hochgezogen, wenn andere sich Zugang verschaffen wollen, selbst wenn dieser dem zuvor in Anspruch genommenen territorialen und ressourcentechnischen Übergriff adäquat ist. Die Ordnung der Rangfolgen und Privilegien ist strikt vertikal organisiert. Hoch im Himmel, wo Passagierflugzeuge tonnenweise CO2 in die Atmosphäre pusten, um wichtige Personen in Rekordzeit von einem Ort zum anderen zu tragen, ist die Freiheit schier grenzenlos. Unten am staubigen Boden, über den die Gefahren für Leib und Leben fliehenden Menschen im Schneckentempo wandern, ist die Grenze ein anderes Wort für die materielle Negation ihres Lebensrechtes.

Weidel, Merkel, Nahles, Seehofer, Söder - im Gruselkabinett des Wettbewerbes um den Titel des am meisten zur Maske und Funktion erstarrten Politikers gibt es nichts zu lachen, aber auch nichts zu befürchten. So aufgebläht das Possenspiel um den Streit der Unionsparteien in den Medien erscheint, so unwichtig sind die einzelnen Akteure. Was sie ebensowenig wahrhaben wollen wie die Menschen, die sich von ihnen angezogen und abgestoßen fühlen, ist die Unteilbarkeit der Schmerzen, die sie anderen zufügen. "Wir sind beim Jagen", und der dadurch ausgelöste Blutfluß versiegt niemals, so lange er als Natur von was auch immer von der eigenen Verantwortung getrennt wird.

3. Juli 2018


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