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REPRESSION/1301: Britanniens Marsch in den totalen Sicherheitsstaat (SB)



Der Marsch Britanniens in den totalen Sicherheitsstaat scheint unaufhaltsam. Nun gab Innenministerin Jacqui Smith bekannt, daß man über die polizeiliche und geheimdienstliche Terrorismusabwehr hinaus 60.000 Zivilisten dafür ausbilden will, verdächtige Ereignisse zu beobachten und an die Sicherheitsbehörden weiterzugeben. Diese Truppe soll sich nicht nur aus einfachen Bürgern, sondern auch dem Sicherheitspersonal privater wie öffentlicher Einrichtungen rekrutieren. Die massenhafte Durchdringung der Gesellschaft mit Informanten des Staatsschutzes ist ein typisches Merkmal autokratischer Systeme, die allen Grund haben, nicht nur politisch motivierte Gewalttäter, sondern auch regierungskritische Bürger zu fürchten.

Die desolate Lage der britischen Volkswirtschaft gibt der britischen Regierung Anlaß davon auszugehen, daß es über mögliche Anschläge, die aus ihrer Kriegführung in der islamischen Welt resultieren, in näherer Zukunft zu sozial bedingten Revolten kommt. Seit das finanzkapitalistische Akkumulationsmodell, das in der Londoner City beheimatet war und rund fünf Millionen Angestellten des Finanzgewerbes ein einträgliches Auskommen garantierte, praktisch kollabiert ist, steht die britische Gesellschaft vor der größten sozialen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Nachdem sich mit Immobiliengeschäften und Finanzspekulationen kein Geld mehr verdienen läßt und der Einbruch des daraus geschöpften Konsums den Dienstleistungssektor mit voller Wucht getroffen hat, ist die Volkswirtschaft des Landes auf eine güterproduzierende Industrie zurückgeworfen, die im Zuge des finanzkapitalistischen Booms der letzten Jahre stark geschrumpft ist.

Britannien schneidet unter den westlichen Industriestaaten bei Indikatoren wie dem Stand der Produktivität und dem Anteil der produzierenden Industrie am Bruttoinlandsprodukt besonders schlecht ab. Das gilt auch für die Landwirtschaft, die nicht in der Lage ist, die Bevölkerung allein zu ernähren. Weniger als die Hälfte der in Britannien verzehrten Lebensmittel stammen aus eigener Produktion, so daß erhebliche Mengen an Nahrungsmitteln eingeführt werden müssen, und das bei stark gestiegenen Preisen. Gleichzeitig leiden die Bürger des Landes nach dem Platzen der Immobilienblase unter einer Rekordverschuldung, die schon seit August 2007 das Bruttosozialprodukt des Landes übertrifft. Der hohe Stand an privater Verschuldung macht sich nun, da die Einkünfte aus steigenden Immobilienpreisen weggebrochen sind und die Rückzahlung der dabei gemachten Kredite schwer auf den Hausbesitzern lastet, als immer schwieriger zu gewährleistende Versorgung der Menschen mit den Gütern des alltäglichen Bedarfs bemerkbar.

Anstatt Vorsorge für das Eintreten der absehbaren Finanz- und Wirtschaftskrise zu treffen, hat die Labour-Regierung diese Entwicklung durch die Suggestion, es könne mit steigenden Börsenkursen und Immobilienpreisen ewig weitergehen, auch noch gefördert. Erschwerend hinzu kommt die im Vergleich zu anderen EU-Staaten besonders hohe Abhängigkeit Britanniens von US-Direktinvestitionen, deren Ausbleiben und Abzug die Krise weiter verschärft. Die Staatsverschuldung von 4,4 Prozent des Bruttosozialprodukts hat zur Folge, daß die ohnehin äußerst kargen Sozialleistungen weiter zusammengestrichen werden. Die hochgradige Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe bewirkt zudem, daß die damit betrauten Unternehmen aufgrund der Wirtschaftskrise die ihnen übertragenen Daseinsvorsorge nur schlecht wahrnehmen können.

Das Ergebnis dieser Entwicklung besteht in einer galoppierenden Verarmung der britischen Bürger, deren Gesellschaft schon immer stark von Klassenkonflikten bestimmt war. Nun, da immer mehr Menschen existentielle Notlagen zu erleiden haben, wächst die Gefahr des Ausbruchs regelrechter Aufstände und Revolten. Die stetig weiter zugezogene Schraube der Repression mit sogenanntem islamistischen Terrorismus zu begründen ist ein probates Mittel, den anstehenden Sozialkämpfe nicht mit offenem Visier entgegenzutreten, sondern die Ablenkung des Unmuts auf ein zweckdienliches Feindbild so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.

Britannien verfügt über die schärfsten Antiterrorgesetze der EU, und die den Sicherheitsbehörden daraus erwachsenden Zugriffsrechte werden keineswegs nur auf sogenannte Terrorverdächtige angewendet. Diverse staatliche Institutionen, die etwa mit Wirtschaftskriminalität, Sozialbetrug oder Korruptionsbekämpfung befaßt sind, haben sich Überwachungsmethoden bis hin zum Einsatz verdeckter Ermittler oder Zugriffe auf Datenbanken anderer Regierungsstellen angemaßt, die ursprünglich für die Terrorismusabwehr vorgesehen waren. Selbst die Royal Mail hat Zugang zur Videoüberwachung der Polizei erhalten, um ihre Mitarbeiter zu kontrollieren. Kommunale Verwaltungen haben sich dieses Bildmaterials bedient, um bloße Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen.

Gleichzeitig wird an der Front der elektronischen Überwachung weiter aufgerüstet. Zusätzlich zu der extensiven Observation des öffentlichen Raums mit Videokameras unterhalten die britischen Sicherheitsbehörden die größte europäische DNA-Datenbank, deren Datensätze überwiegend Informationen unbescholtener Bürger preisgeben, deren Gewebeproben im Zusammenhang mit Massenscreenings oder anderen Ermittlungen aufgenommen wurden. Aufgebaut wird ein nationales Identitätsregister, das biometrische und administrative Daten über jeden Bürger enthalten und mit der umstrittenen Einführung der Ausweispflicht nutzbar gemacht werden soll. Weitere Datenbanken des nationalen Gesundheits- und Sozialsystems, der Steuer- und Grenzbehörden sollen den Sicherheitsbehörden zugänglich gemacht werden.

Darüber hinaus versucht man, potentielle kriminelle Karrieren bei Kindern anhand einer Datenbank zu verhindern, mit der präventive Evaluationen verdächtigen Verhaltens angestellt werden. Vor kurzem wurde bekannt, daß die britische Polizei Teilnehmer von Demonstrationen und politischen Versammlungen inklusive dort anwesender Journalisten systematisch filmt und fotografiert, um diese Aufnahmen sieben Jahre lang aufzubewahren. Schließlich wird ein umfassendes Programm zur Überwachung des datenelektronischen Verkehrs aufgelegt, bei dem man sich unter anderem Informationen aus der auf ein Jahr befristeten Vorratsdatenspeicherung nutzbar machen will. Beim Kauf eines Mobiltelefons sollen die Personendaten des Besitzers in eine eigens dafür eingerichtete Datenbank eingespeist werden, so daß man bei der Überwachung des Mobilfunks, die unter anderem zur Feststellung des Standorts der Nutzer betrieben wird, immer weiß, mit wem man es zu tun hat.

Diese Entwicklung dokumentiert exemplarisch, daß die Terrorismusabwehr als zweckdienlicher Vorwand zum Ausbau staatlicher Eingriffsrechte verwendet wird. Das Land, das als Geburtsstätte des Liberalismus gilt und vor nicht allzulanger Zeit berühmt dafür war, daß seine Streifenpolizisten unbewaffnet waren, gehört heute zu einer der repressivsten Gesellschaften der sogenannten freien Welt. Da das liberale Selbstverständnis Britanniens eine Errungenschaft des gehobenen Bürgertums war, während den Armen nicht nur bürgerliche Rechte vorenthalten wurden, sondern ihre Ausbeutung in den berüchtigten Arbeitshäusern, in frühkapitalistischen Industriebetrieben oder als Kanonenfutter in Kolonialkriegen auf die Spitze ihres zerstörerischen Verbrauchs getrieben wurde, stellt der bis heute dominante Klassenantagonismus der britischen Gesellschaft eine schwere Erblast dieser politischen Doktrin dar. Durch die neoliberale Qualifikation des Vermächtnisses John Lockes, John Stuart Mills' und Adam Smiths hat sich das Verhältnis zwischen arm und reich weiter verschärft und wird, getreu der liberalen Staatsphilosophie, mit dem Ausbau staatlicher Repression beantwortet.

25. März 2009