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REPRESSION/1443: Vor 50 Jahren - Massaker an Algeriern in Paris (SB)



Vor 50 Jahren wurde in Paris das grausamste Massaker der Nachkriegszeit im demokratischen Europa verübt. Als gegen Ende des Algerienkriegs der Widerstand gegen den französischen Imperialismus auf das Herz der Kolonialmacht überzugreifen drohte, schlug die Fünfte Republik den Protest mit derselben Brutalität nieder, mit der ihre Truppen und Kollaborateure in dem nordafrikanischen Land wüteten. Obgleich zahlreiche Menschen Zeuge der Greueltaten in der französischen Hauptstadt wurden, sorgte eine Kumpanei aus rigoroser staatlicher Zensur und Stillschweigen bis tief hinein in die politische Linke dafür, das auf Jahre hinaus ein Deckmantel gezielten Vergessens über die damaligen Ereignisse gebreitet wurde.

Am 17. Oktober 1961 ließ Maurice Papon als Polizeipräfekt von Paris eine Demonstration von Algeriern blutig niederschlagen. Rund 30.000 Menschen waren am Abend in die Hauptstadt geströmt, um friedlich für die Unabhängigkeit ihrer Heimat und gegen die nächtliche Ausgangssperre für "französische Muslime" zu protestieren, die Papon wenige Tage zuvor verhängt hatte. Hundertschaften der Polizei fingen die Demonstranten bereits an Busbahnhöfen und Metrostationen ab, eröffneten das Feuer auf sie, knüppelten gnadenlos auf sie ein, transportierten die Verletzten und Sterbenden ab und warfen sie zu Hunderten in die Seine. Überlebende bezeugten eine Orgie von Haß und Gewalt, als die Sicherheitskräfte auf "Rattenjagd" gingen.

Wie viele Menschen starben oder verletzt wurden, weiß bis heute niemand genau. Laut amtlicher Bilanz waren drei Tote, darunter ein Franzose, der an Herzversagen verstorben sei, sowie 77 Verletzte zu beklagen. Ende Oktober 1961 sprach der Innenminister von sechs Toten. Der Historiker Jean-Luc Einaudi, der die Ereignisse anhand von Zeitzeugenberichten minutiös rekonstruierte und mit seinem Buch "Die Schlacht um Paris" 1991 als erster Wissenschaftler das kollektive Schweigen zu durchbrechen versuchte, geht hingegen von 200, möglicherweise sogar 300 Toten aus. Zudem wurden etwa 11.000 Algerier tagelang in Pariser Sportstadien gefangengehalten, wo es zu Mißhandlungen und weiteren Morden kam. Bis November 1961 wurden noch 150 Leichen aus der Seine gefischt, die zumeist in Säcke gesteckt und gefesselt waren.

Wie Fotos und Augenzeugenberichte belegen, hatten die Demonstranten ausdrücklich eine friedliche Kundgebung geplant. Die Algerier hoben sogar im vorauseilenden Gehorsam ihre Hände, sobald sie in die Nähe der Polizisten kamen, um zu zeigen, daß sie unbewaffnet waren. Die algerische Front de Libération Nationale (FLN) hatte bei ihrem Aufruf alle Demonstranten ermahnt, "nicht einmal eine Stecknadel" auf die Kundgebung mitzunehmen. Da die Stimmung in diesen Monaten aufgeladen war, hatte der Gewerkschaftsfunktionär Paul Rousseau die Pariser Polizisten noch kurz vor dem Massaker zur Zurückhaltung aufgerufen: "Kameraden, lasst euch nicht zu unbesonnenen Taten hinreißen, handelt wie Vertreter der Justiz, und nicht wie Richter." [1]

Polizeipräfekt Papon hatte jedoch in einer Anweisung vom 5. September an den Direktor der Abteilung für algerische Angelegenheiten und an den Direktor der Stadtpolizei geschrieben: "Die Mitglieder an den Spitzen der Gruppen, die als flagrante Rechtsbrecher ertappt werden, müssen auf der Stelle von den Ordnungskräften erschossen werden." [2] Am 2. Oktober stellte er einigen Polizeieinheiten einen Freischein zur Selbstjustiz aus: "Ich werde Sie decken", hieß es darin, "wenn ein Nordafrikaner erschossen wird, werden wir es so einrichten, dass er bewaffnet war."

Er habe die "Schlacht um Paris gewonnen", triumphierte Papon vier Wochen nach dem blutigen 17. Oktober im Stadtrat. Zwar verlor er später einen Rechtsstreit gegen den Historiker Einaudi, dem er verbieten lassen wollte, von einem "Massaker" zu sprechen. Doch auf Grund einer Generalamnestie für alle im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg begangenen Verbrechen konnte er niemals für das Blutbad in Paris zur Verantwortung gezogen werden. Maurice Papon war ein Mann mit Vergangenheit: Unter dem Vichy-Regime sorgte er als Inspektor für jüdische Fragen in Bordeaux dafür, daß die Transportkapazität der Züge in die Vernichtungslager immer voll ausgelastet waren. Obgleich er als hochrangiges Mitglied der Vichy-Administration und Feind der Résistance bekannt war, schaffte er es nach dem Krieg nicht nur, zum Kommandanten der Ehrenlegion ernannt zu werden und eine Medaille als Wiederstandskämpfer zu erhalten, er setzte darüber hinaus seine Karriere als einflußreicher Beamter fort.

Präsident de Gaulle muß genau gewußt haben, wen er sich mit Papon einkaufte, als er ihn in den fünfziger Jahren als Präfekt in Marokko und Algerien einsetzte, wo systematische Folter zum Tagesgeschäft der französischen Ordnungskräfte gehörte. Papon stellte seine Fähigkeiten im algerischen Constantine als Generalinspektor der Verwaltung in außerordentlicher Mission unter Beweis. Im Jahr 1958 erhielt der bewährte Bürokrat den einflußreichen Posten des Polizeipräfekten von Paris, wo es galt, mit harter Hand nicht nur der politischen Opposition Herr zu werden, sondern auch die Algerienfranzosen zur Räson zu bringen, die mit ihren Landsleuten in Nordafrika fühlten, welche seit 1954 einen blutigen Befreiungskampf gegen die französischen Kolonialherren führten. Unter Präsident Valéry Giscard d'Estaing gelang Papon 1978 sogar der Sprung ins Kabinett. Nach einer großen Karriere im französischen Staatsdienst, in der er es zum Finanzminister brachte, wurde er nach einem ungewöhnlich langen Prozeß 1998 schuldig gesprochen, im Zweiten Weltkrieg die Deportation von mehr als 1500 Juden angeordnet zu haben. Papon wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, drei Jahre später aber auf Grund seines Gesundheitszustands aus der Haft entlassen.

Der 2007 im Alter von 96 Jahren verstorbene Maurice Papon war indessen nur einer unter Hunderten hochrangiger Funktionäre des Vichy-Regimes, die im Nachkriegsfrankreich Karriere machten. Zwar wurde den Hauptverantwortlichen der Vichy-Regierung der Prozeß gemacht, und in einer Welle von Lynchjustiz fielen einige tausend Kollaborateure einem Volk zum Opfer, das noch vier Monate vor General de Gaulles Triumphmarsch über die Champs Élysées zu Hunderttausenden Marschall Pétain bei einem Besuch in der Hauptstadt zugejubelt hatte. Ansonsten hielt sich die Abrechnung mit der französischen Geschichte von Mord und Verrat unter deutscher Besatzung in engen Grenzen. Fast 400 Präfekten, Vizepräfekten und sonstige hohe Funktionäre der Vichy-Verwaltung setzten ihre Karriere nach dem Krieg unbeschadet fort, und wenn doch einmal belastendes Material auftauchte, war auf die Justiz Verlaß. Man ließ die Tradition der Résistance hochleben, zu der jeder gehören wollte, darunter auch Maurice Papon, der sich in seiner Funktion als Polizeipräfekt von Paris mit den entsprechenden beweiskräftigen Dokumenten ausstattete.

Daß das Massaker vom 17. Oktober 1961 weitreichende Rückendeckung fand, belegt die damalige Reaktion. Überlebende Algerier und Angehörige der Opfer fanden kein Gehör, die Pariser Polizei verteidigte ihr Vorgehen als angemessen, Politiker vertuschten das Blutbad jahrzehntelang. Das kritisches Buch eines Journalisten wurde verboten, die Vorführung des Dokumentarfilms "Oktober in Paris" aus dem Jahr 1962 gestürmt und das Filmmaterial beschlagnahmt. Ein Großteil der Hauptstadtpresse bagatellisierte die Gewaltexzesse oder schob die Schuld allein den Algeriern zu. Keine einzige renommierte Zeitung druckte die schockierenden Fotos von Elie Kagan, dem es als einzigen Journalisten gelungen war, unbemerkt Aufnahmen von blutüberströmten, schwerverletzten und toten Algeriern zu machen. Stattdessen schrieb der konservative Le Figaro von der "gewalttätigen Demonstration der Algerier" und fügte im offiziösen Tonfall hinzu: "Dank der Wachsamkeit und des schnellen Einsatzes der Polizei konnte das Schlimmste verhindert werden."

Es waren jedoch nicht nur Zensur und Vertuschung, die das Massaker aus dem Gedächtnis strichen. Das Wüten der Polizei geschah unter den Augen der Öffentlichkeit, hatten doch Tausende Pariser die Toten auf der Straße liegen sehen. Historiker zitierten Jahre später Augenzeugen wie Polizisten und Ärzte, die von "Blutlachen", "Schlachtfeldern" und "Leichenbergen" berichteten. "Was machen diese Ratten auch hier?", feuerten Passanten laut Augenzeugen die prügelnden Sicherheitskräfte an. Als sich eine Gruppe flüchtender Demonstranten ins Gebäude des kommunistischen Parteiorgans L'Humanité retten wollte, wurden dessen Gittertüren vor ihnen heruntergelassen.

Am 8. Februar 1962 fand eine gemeinsame Demonstration der Linken gegen die Anschläge der OAS und für den Frieden in Algerien statt. Dabei wurden an der U-Bahn-Station Charonne acht Menschen getötet, darunter sieben Kommunisten. An ihrer Beisetzung nahmen zwischen 800.000 und eine Million Menschen teil, worauf Le Monde am 15. Februar "vom blutigsten Zusammenstoß zwischen Polizisten und Demonstranten seit 1934" sprach. Nur vier Monate nach dem Massaker an den Algeriern schien dieses nie stattgefunden zu haben.

Der damalige "Algerier" war der verachtete Kolonisierte, der Gewalttäter, der nicht assimilierbare muslimische Fremdkörper. Wagte er es, die Staatsmacht im Herzen der Hauptstadt herauszufordern und für sich selbst den vollen Umfang jener Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einzufordern, die zu gewähren das republikanische Frankreich ihm hartnäckig und gewalttätig verweigerte, verwandelte sich die Republik in eine Diktatur. Als Laura Marlowe, Reporterin der Irish Times, bei einem Abendessen zu Beginn des Papon-Prozesses die anwesenden Franzosen fragte, ob sie sich vorstellen könnten, daß sich so etwas wie die Auslieferung der Juden in den sicheren Tod durch Franzosen noch einmal ereignen könnte, bejahten dies alle Anwesenden. Sie fügten jedoch hinzu, daß es heute nicht mehr gegen Juden, sondern gegen Araber ginge.

Fußnoten:

[1] http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/23701/rattenjagd_in_paris.html

[2] INAMO Nr. 48, Jahrgang 12, Winter 2006, Seite 33-35

17. Oktober 2011